Entscheidungsdatum
23.11.2021Norm
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2Spruch
W226 2229846-2/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch RAe DELLASEGA, LECHNER & KAPFERER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.03.2021, Zl.: 742078605/191085936, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.10.2021 zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben und eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG für auf Dauer unzulässig erklärt und XXXX gemäß §§ 54, 55 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1.1. Der damals minderjährige BF, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Zugehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste spätestens am 09.10.2004 gemeinsam mit seiner Mutter und seinen vier Geschwistern illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und wurde für den BF durch seine gesetzliche Vertretung am 11.10.2004 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt, welcher mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.06.2005 vollinhaltlich abgewiesen wurde. Nach Einbringung einer Berufung wurde dem BF mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates (im Folgenden: UBAS) vom 22.10.2007 der Status des Asylberechtigten im Zuge des Familienverfahrens (abgeleitet von der Mutter) zuerkannt.
I.1.2. Am 19.08.2019 langte beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) die Information ein, dass gegen den BF beim Bezirksgericht XXXX ein Verfahren wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 und 4, 1. Fall StGB anhängig sei und die Hauptverhandlung am 27.09.2019 stattfinde.
Im Zuge der vom BFA in weiterer Folge durchgeführten Ermittlungen kam ebenso zu Tage, dass der BF mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX , GZ: XXXX wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB zu einer Geldstrafe von 3000 € rechtskräftig verurteilt wurde.
Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am 09.10.2016 in XXXX eine andere Person vorsätzlich am Körper verletzte, indem er dieser einen Faustschlag ins Gesicht versetzte und diese zu Boden riss, wodurch das Opfer eine Platzwunde oberhalb des rechten Auges, eine Prellung des Jochbeines rechts, eine Prellung des rechten Handgelenkes und einen Bruch des Kahnbeines der linken Hand, die einen sechswöchigen Gipsverband erforderte, also eine an sich leichte Körperverletzung verbunden mit einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung zufügte.
Als mildernd wurden die Unbescholtenheit und die Provokation durch den Verletzten, als erschwerend wurde kein besonderer Umstand gewertet.
I.1.3. Wegen dieser Umstände leitete das BFA mit Aktenvermerk vom 24.10.2019 ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ein.
I.1.4. Am 28.10.2019 langte beim BFA ein polizeilicher Abschlussbericht vom 07.10.2019 ein, wonach der BF und weitere Personen verdächtigt seien, am 14.07.2019 an einem Raufhandel teilgenommen zu haben.
I.1.5. Am 16.12.2019 wurde der BF vom BFA niederschriftlich in den Sprachen Russisch/Deutsch einvernommen.
Der BF gab an, dass seine Muttersprache Tschetschenisch sei und er zudem ein bisschen Russisch und Deutsch spreche. Er verstehe Russisch auf Schulniveau. Er sei gesund und nehme keine Medikamente ein. Er arbeite derzeit als Transportfahrer für Medikamente.
Der BF sei in Tschetschenien geboren und habe dort ein bis zwei Jahre die Schule besucht, bevor er mit seiner Familie im Alter von 9-10 Jahren nach Österreich gekommen sei. Er sei nicht verheiratet und habe keine Kinder.
Er habe zu keinen Angehörigen im Heimatland Kontakt, weshalb er auch nicht wisse, welche Angehörigen noch in der Heimat leben würden.
Zu den aktuellen Befürchtungen für den Fall einer Rückkehr in die Heimat befragt, führte der BF aus, man würde „Videos“ auf sozialen Plattformen sehen. Er habe dort auch niemanden. Er könne nur auf Deutsch schreiben und lesen. Er habe dort nichts und sei wegen des Krieges hierhergekommen. Das Nachbarhaus sei im Jahr 2002 oder 2003 bombardiert worden und die Geschwister seiner Schulfreundin sowie sein Vater seien getötet worden. Befragt, was jetzt seine Befürchtungen seien, gab der BF an: „Genau dasselbe“. Auf die Frage, welche aktuellen Befürchtungen er für den Fall einer Rückkehr in einen Teil seines Heimatlandes habe, gab der BF an, dort nichts zu haben. Der BF könne nur ein paar Wörter Russisch, er könne nicht lesen und schreiben. Er wisse nicht, was er sonst sagen solle, er habe mit diesem Land nichts zu tun, sondern habe er nur die schlimmen Erinnerungen an dieses Land. Seit er hier sei, habe er nichts aus seiner Heimat gehört. In Tschetschenien könnte er sich nicht vorstellen zu leben, er habe schlimme Erinnerungen an dieses Land. Auch wo anders in der Russischen Föderation könnte er nicht leben, weil er sich dort nichts Positives vorstellen könne.
Zu seinem Leben in Österreich führte der BF aus, er habe den Pflichtschulabschluss gemacht, gearbeitet, eine Lehrstelle gefunden, die Lehre abgebrochen und danach gearbeitet. Seit er mit der Schule fertig sei arbeite er. Seine Familie und Freunde würden in Österreich leben. Er wohne mit seiner Schwester in einer Mietwohnung. Befragt, ob er in Österreich zum Aufenthalt berechtigte Verwandte habe, nannte der BF seine Mutter, drei Schwestern, einen Bruder sowie Cousins und deren Familien. Er sei kein Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Der BF habe in Österreich eine strafbare Handlung begangen und sei im Jahr 2017 wegen schwerer Körperverletzung verurteilt worden. Er sei dabei von drei betrunkenen Männern attackiert worden. Das Problem sei gewesen, dass er ohne Anwalt zu Gericht gegangen sei. Er bereue, was er gemacht habe und werde dies nicht wieder machen. Dies sei unnötig, er wolle keine Probleme mehr bekommen. Befragt, was am 14.07.2019 gewesen sei, gab der BF an, er sei angegriffen worden.
Die Unterfertigung des Einvernahmeprotokolls verweigerte der BF.
I.1.6. Am 16.12.2019 langte beim BFA ein Abschlussbericht der Landespolizeidirektion XXXX vom 27.11.2019 ein, wonach der BF verdächtigt bzw. geständig sei, am 29.10.2019 einen Diebstahl an einer Tankstelle begangen zu haben (Betankung des Firmen-LKWs ohne Bezahlung der Rechnung). Der BF habe die offene Rechnung in der Höhe von 67,42 € - im Nachhinein - am 09.11.2019 bei der Tankstelle bezahlt.
I.1.7. Mit Schreiben der Staatsanwaltschaft XXXX vom 24.01.2020, wurde das BFA am 30.01.2020 darüber in Kenntnis gesetzt, dass ein Ermittlungsverfahren gegen den BF wegen § 146 StGB (Betrug) eingestellt worden sei.
I.1.8. Mit als Bescheid bezeichneter Erledigung vom 05.03.2020, erkannte das BFA den mit Erkenntnis vom 22.10.2007 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Ferner wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).
Dagegen erhob der BF das Rechtsmittel der Beschwerde.
I.1.9. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes (im Folgenden: BVwG) vom 08.09.2020, GZl.: W237 2229846-1/4E, wurde die Beschwerde gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG iVm § 18 Abs. 3 AVG als unzulässig zurückgewiesen und die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.
Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass der Schriftzug auf der Urschrift der Erledigung des BFA keine Unterschrift nach der Rechtsprechung darstelle, es auch keine Hinweise auf eine elektronische Genehmigung gebe und es der Erledigung damit an der Bescheidqualität mangle, weshalb sich die Beschwerde gegen eine als Bescheid absolut nichtige Erledigung richte. Dies habe den Mangel der Zuständigkeit des BVwG zu einem meritorischen Abspruch über das Rechtsmittel zur Folge, das Verfahren über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten sei stattdessen nach wie vor vor dem BFA anhängig.
I.1.10. Am 27.11.2020 wurde der BF erneut vom BFA niederschriftlich (in deutscher Sprache) einvernommen.
Der BF gab an, seine Muttersprache sei Tschetschenisch, zudem spreche er Deutsch und Englisch auf Schulniveau. Er sei gesund, nehme keine Medikamente ein und könnte jederzeit arbeiten. Derzeit arbeite er nicht. Er habe durch das Virus seine Arbeit verloren, mache aber jetzt die Lehrabschlussprüfung zum Bürokaufmann.
Nach Befragung gab der BF weiters an, er habe, soweit er wisse, keine Angehörigen im Herkunftsland. Er habe diesbezüglich aber keinen gefragt. Ein Onkel sei gestorben, sonst habe er dort niemanden gehabt.
Zu seinen Rückkehrbefürchtungen befragt, führte der BF aus, dass dies sein Tod wäre. Seine ganze Familie sei wegen politischer Verfolgung geflüchtet. Das Nachbarhaus sei bombardiert worden, sein Vater und der Onkel seien hingegangen, um zu helfen. Beim Anschlag habe der Vater ein Bein verloren. Sein Schulfreund, welcher dort gelebt habe, sei getötet worden. Seine Mutter habe den Anschlag angezeigt und eine Ladung zur Generalstaatsanwaltschaft bekommen. Die Mutter habe dort unterschreiben müssen, dass sie die Anzeige zurückziehe und hätte eine Entschädigung von etwa 200-300€ bekommen sollen. Sie habe dies aber nicht gemacht. Ein paar Wochen später sei der Kommandant gekommen und habe der Mutter nochmals gesagt, sie solle die Anzeige zurückziehen. Die Mutter habe dies wieder nicht gemacht und sei dann bedroht worden. Man habe ihr gesagt, sie solle an die Kinder denken, diese hätten keinen Vater. Da die Mutter Angst gehabt habe, habe sie gesagt, dass sie es sich überlegen werde. Ein paar Wochen später seien die Soldaten wiedergekommen, die Mutter sei geschlagen und angeschrien worden, sie solle die Anzeige zurückziehen. Die Männer hätten gedroht wiederzukommen, die Kinder wegzunehmen bzw. ihr alles Mögliche antun, sie töten, das Haus anzünden usw. Nach einer bestimmten Zeit seien die Männer wiedergekommen, die Mutter sei aber wegen psychischer Probleme im Krankenhaus gewesen. Dadurch habe die Mutter aus Tschetschenien flüchten müssen, sonst wäre das ihr Tod gewesen.
Der BF dürfe und wolle, auch wegen der politischen Verfolgung, nicht nach Tschetschenien zurück. Er habe mit Tschetschenien abgeschlossen, sei hier aufgewachsen und in die Schule gegangen. Österreich sei seine Heimat. Er habe hier seine ganze Familie, seine Freunde und seine Freundin.
Den gleichen Brief bzw. die Einladung habe auch sein Onkel bekommen, welcher mit dem Vater den Menschen in dem Haus geholfen habe. Dieser lebe nun in Paris, da er aus den gleichen Gründen wie die Mutter aus Tschetschenien fliehen habe müssen. Auch ein dritter Mann habe das Kriegsverbrechen angezeigt, dieser lebe jetzt in Deutschland.
Wegen der politischen Verfolgung und weil seine Mutter das Verbrechen angezeigt habe, würde ihm in der Heimat der Tod drohen. Das Verbrechen sei auch zur Anklage gebracht worden, ein Gerichtsverfahren habe es nicht gegeben. Kadyrow würde ihn, weil er der Sohn sei, umbringen lassen. Befragt, was passiere, wenn er die Anzeige zurückziehe, gab der BF an, dass seine Mutter schon bedroht und geschlagen worden sei. Wenn sie zurückkehren, werde man nicht mehr mit ihnen reden. Die Lage würde sich nicht ändern. Auf die Frage, welche Befürchtungen er aktuell für den Fall einer Rückkehr in einen anderen Teil des Heimatlandes habe, gab der BF an: „Tschetschenien ist Russland“. Die Frage, ob er seit der Ausreise aus Russland gehört habe, dass nach seiner Familie gesucht werde, bejahte der BF. Er wisse dies von seiner Mutter. Woher die Mutter dies wisse bzw. wann sie es erfahren habe, wisse er aber nicht. Mehr habe er seine Mutter nicht gefragt. Der BF habe vor ein paar Monaten mit seiner Mutter über die Ausreisegeschichte gesprochen, damit er über die Gründe für die Ausreise Bescheid wisse. Er habe dies erst so spät erfragt, weil sie mit Tschetschenien abgeschlossen hätten bzw. er es wissen habe wollen. Davor habe er es nicht erfragt. Nach Vorhalt des BFA, dass er schon viel früher hätte nachfragen müssen, gab der BF an, dass er dies eh auch getan habe.
Zu seinem Leben in Österreich führte der BF aus, er lebe hier seit seinem 8. Lebensjahr, sei hier aufgewachsen, habe die Schule besucht, den Führerschein gemacht, Freunde gefunden, seine Familie unterstützt, gearbeitet und eine Lehre angefangen. Vier Geschwister, ein Cousin, eine Tante, eine Freundin, Freunde und seine Mutter würden hier leben. Seine Mutter habe Rückenprobleme. Er müsse sie unterstützen, sie müsse immer wieder in die Klinik.
Derzeit sei er beim AMS und bekomme Arbeitslosengeld. Der BF sei kein Mitglied in Vereinen oder sonstigen Organisationen. Er habe in Österreich strafbare Handlungen begangen und habe, soweit er wisse, eine Vorstrafe. Sein Verhalten sei dumm gewesen, es tue ihm leid. Er werde so etwas nicht mehr machen. Er habe seit über zwei Jahren eine Freundin. Er wohne mit seiner Mutter, seinem Bruder und seiner Schwester zusammen. Seine Freundin übernachte hin und wieder bei ihm bzw. übernachte er auch bei ihr.
Anschließend führte der BF aus, er habe mit Tschetschenien und Russland abgeschlossen, er sehe seine Zukunft in Österreich.
Nach Durchsicht der Niederschrift gab der BF an, er wisse nicht, ob es ein Gerichtsverfahren gegeben habe, er sei damals zu jung gewesen. Zudem wolle er ergänzen, dass sich die politische Verfolgung (im Falle der Zurückziehung der Anzeige) nicht ändern würde. Zu den Befürchtungen bei einer Rückkehr in einen anderen Teil des Heimatlandes wolle er nun ergänzen, dass Tschetschenien gleich Russland sei und ihm somit auch dort der Tod drohe. Seine Rückkehr bedeute für ihn in ganz Russland und Tschetschenien den Tod. In Österreich lebe er unauffällig und nicht aktiv für Kadyrow. Nach den Gründen für die Ausreise habe er gefragt, weil er zur Einvernahme im Aberkennungsverfahren geladen worden sei. Er habe dies erst jetzt gefragt, weil er es wissen habe müssen. Er habe dies nicht schon früher gemacht, weil er sich davor nicht mit seiner Rückkehr beschäftigt habe. Er habe mit Tschetschenien abgeschlossen gehabt. Zudem wolle er ergänzen, dass er beim AMS sei, weil er durch Covid-19 die Arbeit verloren habe, jetzt mache er die Bürokaufmann-Prüfung. Er sei seit 1,5 Monaten beim AMS.
Im Zuge der Einvernahme legte der BF folgende Unterlagen vor:
- beglaubigte Übersetzung einer Ladung der Mutter zur Staatsanwaltschaft für 11.04.2003;
- beglaubigte Übersetzung eines russischen Zeitungsartikels, worin über den Beschuss des Wohnhauses berichtet wird;
- Dienstzeugnis vom 31.07.2019 sowie Zwischenzeugnis vom 16.03.2020 für die Arbeit des BF als Kleintransportfahrer bzw. Springerfahrer;
- Zeugnis zur Integrationsprüfung vom 13.02.2020 (Niveau B1).
I.1.11. Am 23.12.2020 brachte der BF durch seine rechtsfreundliche Vertretung eine Stellungnahme ein. Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF Asyl erhalten habe, da die Mutter gezielten Drohungen durch russische Sicherheitskräfte ausgesetzt gewesen sei, weil sie ein Gerichtsverfahren angestrebt habe, um Gerechtigkeit für ihren getöteten Mann zu erwirken. Aus den Länderfeststellungen sei ersichtlich, dass der Grund, weshalb der Mutter Asyl zuerkannt worden sei, nach wie vor bestehe. Das Asyl sei daher nicht abzuerkennen. Im Länderinformationsblatt (LIB) werde ausgeführt, dass weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen (Folter, Verschwindenlassen, Geiselnahmen, rechtswidrige Festhalten von Gefangenen, Fälschung von Straftatbeständen) durch tschetschenische Sicherheitsorgane vorkommen würden, entsprechende Vorwürfe kaum untersucht werden würden und die Täter Straflosigkeit genießen würden. Auch werde im LIB explizit ausgeführt, dass Regimeopfer mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden müssten. Nicht nur der Mutter, sondern auch ihren Familienangehörigen drohe asylrelevante Verfolgung in Tschetschenien. Zudem würden sich die Tendenzen zur Einführung des Scharia-Rechtes in den letzten Jahren verstärken. Das Recht in Tschetschenien werde von den Machthabern diktiert, die Rechtsstaatlichkeit sei nicht wirksam. Es scheine generelle Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen. Das LIB enthalte somit eindeutig eine aktuelle asylrelevante Verfolgung für Regimegegner, als auch deren Familien fest. Die Mutter habe Anzeige erstattet und sei zum Regimegegner geworden. Die Familie werde asylrelevant verfolgt, Asyl sei daher nicht abzuerkennen.
I.1.12. Mit nunmehr angefochtenen Bescheid vom 18.03.2021 erkannte das BFA dem BFA den mit Erkenntnis vom 22.10.2007 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Ferner wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).
Das BFA stellte fest, dass der BF russischer Staatsangehöriger sei, der Volksgruppe der Tschetschenen angehöre und sich zum Islam bekenne. Er sei arbeitsfähig und leide an keiner lebensbedrohlichen Krankheit. Er spreche Deutsch, habe Schulbildung genossen und Arbeitserfahrung gesammelt. Derzeit gehe er keiner Arbeit nach. Er sei in Österreich strafrechtlich wegen schwerer Körperverletzung verurteilt worden. Der BF sei ledig und habe keine Kinder. Im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland habe er keine Gefährdungs- bzw. Bedrohungslage zu befürchten. Er könne seinen Lebensunterhalt in der Heimat bestreiten und dort Arbeitsmöglichkeiten vorfinden.
Beweiswürdigend führte das BFA aus, der BF habe in den beiden Einvernahmen vor dem BFA keine aktuellen bzw. individuellen Fluchtgründe glaubhaft machen können. Erst in der zweiten Einvernahme habe er die Fluchtgründe seiner Mutter geschildert und vorgebracht deswegen noch immer verfolgt zu werden. Die angebliche Anzeige der Mutter liege aber schon knapp 20 Jahre zurück, sei nicht weiter verfolgt worden, ansonsten ein Gerichtsverfahren stattgefunden hätte. Da es ein solches aber nicht gegeben habe, könne davon ausgegangen werden, dass die Anzeige nicht mehr aufrecht sei bzw. nicht weiter behandelt worden sei und ergebe sich dadurch keine Gefährdungslage mehr für den BF. Auch habe der BF mit dieser Geschichte nichts zu tun und habe für seine Person niemals eine Gefährdung bestanden, zumal er den Asylstatus nur im Familienverfahren und nicht originär erhalten habe. Da die Fluchtgründe der Mutter schon Jahre zurückliegen und daher nicht mehr aktuell seien, habe weder die Mutter, noch der BF eine Gefährdungslage in der Heimat zu befürchten. Auch die objektive Lage in der Heimat habe sich laut den Länderfeststellungen maßgeblich geändert. Eine Rückkehr sei dem BF nun zumutbar.
Der BF sei gesund sowie arbeitsfähig und könne seinen Lebensunterhalt, etwa durch die Verrichtung von Gelegenheitsarbeiten, in Russland bestreiten. Er könne neue soziale Kontakte knüpfen, spreche Tschetschenisch und sei mit den russischen Traditionen und Gepflogenheiten vertraut, zumal er bereits einen Teil seines Lebens dort verbracht habe und auch in Österreich im Bunde seiner Familie aufgewachsen sei. Insgesamt sei es ihm zuzumuten, sich in der Heimat ein neues Leben aufzubauen. Auch die aktuelle Covid-19-Pandemie rechtfertige die Zuerkennung von subsidiären Schutz nicht.
In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde aus, dass eine Aberkennung nach § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG grundsätzlich nur innerhalb von fünf Jahren ab Zuerkennung möglich sei. Da der BF aber straffällig geworden sei, sei die Frist von fünf Jahren nicht zu berücksichtigen. Der BF habe keine glaubhafte Gefährdungslage vorgebracht und seien die Fluchtgründe der Mutter nicht mehr gegeben. Es bestehe daher kein Grund zur Gewährung des Asylstatus und stehe dem BF auch eine innerstaatliche Fluchtalternative (IFA) zur Verfügung und könne er – selbst unter der Annahme in Tschetschenien einer Verfolgung ausgesetzt zu sein – in einem anderen Teil des Heimatlandes Schutz finden.
Zur Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass die Kernfamilie des BF in Österreich asylberechtigt sei. Der BF lebe mit seiner Schwester und seiner Mutter in einem gemeinsamen Haushalt. Er habe zwar gewisse familiäre Bindungen an Österreich, ein Abhängigkeitsverhältnis liege jedoch nicht vor. Der BF verfüge über Deutschkenntnisse und gehe seit 21.09.2020 einer Arbeit nach. Weitere nennenswerte Bindungen bzw. Verfestigungen in der Gesellschaft oder ehrenamtliche Tätigkeiten, welche ihn an der Rückkehr ins Heimatland hindern könnten, habe er nicht vorgebracht. Der Eingriff in das Familien- und Privatleben des BF sei aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung gerechtfertigt. Es sei ersichtlich, dass der BF von der österreichischen Rechtsordnung und den hier gewährten Grundrechten nichts halte bzw. diese offenbar ablehne. Er zeige ein negatives Persönlichkeitsbild, dem ein weiterer Verbleib in einem toleranten, westlich gesinnten Land nicht gewährt werden sollte, da nicht absehbar sei, gegen welche Personen sich seine Gewaltbereitschaft als Nächstes richte. Durch die rechtskräftige Verurteilung stelle die Fortsetzung seines Aufenthaltes im Bundesgebiet eine besondere Gefahr für die Allgemeinheit dar, zumal er einen Unschuldigen einfach geschlagen und diesen zu Boden gerissen habe, sodass dieser eine Platzwunde erlitten habe. Um die öffentliche Ordnung in Österreich zu schützen, könne ihm zugemutet werden, sein Familienleben in der Heimat zu bestreiten. Eine besondere Integration im Bundesgebiet sei insgesamt nicht hervorgekommen.
I.1.13. Gegen diesen Bescheid brachte der BF durch seine rechtsfreundliche Vertretung fristgerecht eine vollumfängliche Beschwerde wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und inhaltlicher Rechtswidrigkeit ein. Nach Wiederholung des Verfahrensganges wird im Wesentlichen ausgeführt, die Behörde vermute lediglich, dass eine Verfolgung durch russische Sicherheitsorgane nicht mehr vorliege, weil 15 Jahre vergangen seien bzw. diese nur vorliegen würden, wenn der BF das Verfahren in Tschetschenien weiter anstrengen würde. Obwohl der Mutter rechtskräftig Asyl wegen der glaubwürdigen Drohung durch russische Sicherheitskräfte infolge des angestrebten Gerichtsverfahrens wegen der Tötung des Mannes zuerkannt worden sei und die Rechtskraft eine mehrmalige Würdigung verhinderte, führe das BFA nun aus, dass das Gerichtsverfahren nach Anzeige der Mutter nie begonnen habe, die Mutter nicht weiter verfolgt worden sei, also niemals eine Gefährdungslage bestanden habe. Diese Beweiswürdigung sei bedenklich und antizipiert. Durch die Behauptung, dass es die Verfolgung nie gegeben habe, werde dem ersten Entscheider unterstellt, sich geirrt zu haben und die Rechtskraft durchbrochen. Auch das aktuelle Länderinformationsblatt würde die Verfolgung von Familienangehörigen von Regimeopfern bestätigen. Im LIB werde ausgeführt, dass in Tschetschenien gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörigen, aber auch politische Gegner, rigoros vorgegangen werde. Die russischen Gerichte werden nach wie vor wegen ihrer Missstände und politischer Einflussnahme kritisiert. Tschetschenien bewege sich außerhalb des russischen Rechtssystems und herrsche dort vorrangig die Scharia. Die politische Einflussnahme sei in Tschetschenien stärker als in Russland, da neben Kadyrow auch auf Beamte und Richter Einfluss genommen werden könne. Es komme zu rechtswidrigen Verhaftungen und Verschwinden von Zivilisten. Tschetschenische Rechtsakte würden in ganz Russland vollstreckt werden. Eine IFA sei somit ausgeschlossen. Die Menschenrechte in Russland seien eingeschränkt, in Tschetschenien würden nach wie vor schwere Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane stattfinden. Der Mutter und der ganzen Familie sei wegen dieser im LIB festgestellten Übergriffe durch staatliche Sicherheitsorgane Asyl gewährt worden. Diese würden nachweislich noch immer stattfinden. Die vergangene Zeit garantiere nicht mit ausreichender Sicherheit, dass alle im Jahr 2004 beteiligten Personen nicht mehr leben bzw. nicht mehr im Dienst seien. Solange Tschetschenien nicht zu einem Rechtsstaat geworden sei, werde die asylrelevante Verfolgung nachweislich vorliegen. Ein Grund für die Aberkennung des Asylstatus liege nicht vor und sei in eventu auch mit einer realen Gefahr einer Art. 3 EMRK Verletzung im Falle der Rückkehr zu rechnen. Auch die Rückkehrentscheidung sei unrechtmäßig erlassen worden. Der BF sei in Österreich sozial verwurzelt. Dies vor allem wegen seines langen Aufenthaltes und weil seine Familie hier lebe. Abschließend wurde ein Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gestellt.
I.1.14. Am 05.05.2021 wurde dem BVwG ein rechtskräftiger Bescheid der XXXX Landesregierung vom 23.02.2021 vorgelegt, wonach der Antrag des BF vom 23.03.2020 auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft abgewiesen wurde.
Begründet wurde dies im Wesentlichen mit den zahlreichen Verwaltungsübertretungen des BF (etwa 50) aus den Jahren 2015-2018, wobei der BF dabei vermehrt Verkehrsstrafen nach der StVO und dem KFG (ua. wegen Falschparkens, Ablauf der Gültigkeit des Parkscheines, dem Fahren mit abgelaufenen Begutachtungsplanketten, der Nichtbeachtung von Verkehrszeichen, dem Überlassen seines Fahrzeuges an eine andere Person ohne gültige Lenkerberechtigung, dem Fahren ohne Kennzeichentafeln bzw. ohne Haftpflichtversicherung, der nicht bestimmungsgemäßen Verwendung des Sicherheitsgurtes, nicht Mitführung des Führerscheines, Nichterteilung der Lenkerauskunft etc.) bekommen habe bzw. er auch den öffentlichen Anstand verletzt habe und als Fremder kein gültiges Reisedokument mitgeführt habe sowie der Verurteilung zu einer Geldstrafe wegen schwerer Körperverletzung gemäß § 84 Abs. 4 StGB vom XXXX und der Führung eines Ermittlungsverfahrens wegen des Vergehens des Raufhandels im September 2019, welches jedoch mangels Tatnachweisbarkeit eingestellt worden sei.
I.1.15. Am 06.09.2021 wurde vom erkennenden Gericht betreffend die durchzuführende mündliche Verhandlung angefragt, ob die Beiziehung eines Dolmetschers für die russische oder tschetschenische Sprache erforderlich sei, wobei durch den rechtsfreundlichen Vertreter des BF am 09.09.2021 mitgeteilt wurde, dass der BF Deutsch auf muttersprachlichem Niveau spreche und daher kein Dolmetscher benötigt werde.
I.1.16. Am 15.10.2021 brachte der BF folgende Unterlagen erstmals in Vorlage:
- Bestätigung für den Besuch des 12stündigen Kurses „Bürokaufmann/frau-Lehrgang – Vorbereitung auf die Lehrabschlussprüfung“ von 05.10.2020-03.02.2021;
- Bestätigung vom 13.05.2020, wonach der BF für die Wohnung weder Miete, noch Betriebskosten bezahle;
- Dienstvertrag eines Druckzentrums vom 26.07.2021 für eine Tätigkeit als Lagerarbeiter (40h/Woche, 2.350 € Brutto). In dem Vertrag wird eine 4wöchige Probezeit vereinbart und angeführt, dass das Dienstverhältnis bis 23.12.2021 befristet sei;
- Lohn-Gehaltsabrechnungen einer Transportfirma für den Zeitraum Jänner bis September 2020.
Zudem wurde in dem den Urkunden beigefügten Schreiben erneut ausgeführt, dass es sich bei der Mutter des BF nachweislich um ein Regimeopfer handelt, weshalb auch nach aktueller Länderinformation dem BF als Familienangehöriger eine asylrelevante Verfolgung drohe Zur Integration wurde ausgeführt, dass der BF schon über 17 Jahre in Österreich sei, hier die Schule besucht habe und die Voraussetzungen zur Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft besitze. Im Rahmen der Corona-Pandemie sei es zu einer kurzzeitigen Arbeitslosigkeit gekommen, der BF habe sich jedoch umgehend um eine neue Stelle umgesehen. Der BF wohne mit seiner Familie in einer gemeinsamen Wohnung und lebe in einer aufrechten Lebensgemeinschaft.
I.1.17. Der BF wurde im Zuge einer Beschwerdeverhandlung vom 19.10.2021 durch das erkennende Gericht nochmals ergänzend zu seiner Integration in Österreich, den von ihm begangenen Verwaltungsstrafen, seiner strafrechtlichen Verurteilung und den Anzeigen, zu den damaligen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. allfälligen anderen aktuell vorliegenden Rückkehrhindernissen befragt.
In der Verhandlung berichtete der BF erneut davon, dass ein Onkel (Bruder des Vaters) in Frankreich lebe. Dieser sei deshalb aus Tschetschenien weggezogen, weil Leute von Kadyrow gekommen seien und sich nach ihnen erkundigt hätten.
Dem BF wurde aufgetragen binnen einer Frist von 2 Wochen ergänzende Unterlagen zu seiner Integration vorzulegen.
I.1.18. Am 03.11.2021 brachte der BF durch seinen rechtsfreundlichen Vertreter ergänzend vor, dass er die Asylentscheidung des in Frankreich lebenden Onkels auf sein Mobiltelefon übermittelt bekommen habe. Daraus sei ersichtlich, dass dieser im April 2015 Asyl erhalten habe. Die Bedrohung der Familie durch das Regime Kadyrow sei nach wie vor aktuell und weise auch das Länderinformationsblatt darauf hin, dass Regimeopfer mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden müssten. Eine bessere Qualität bzw. eine deutsche Übersetzung sei binnen der gesetzten Frist nicht möglich gewesen. Falls dies notwendig sei, dann werde um eine zweimonatige Frist gebeten.
Weiters brachte der BF ein Schreiben seiner Lebensgefährtin/Verlobten sowie Lohn-/Gehaltsabrechnungen von August und September 2021 in Vorlage.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung wie folgt erwogen:
1. Feststellungen:
II.1.1. Der nunmehr volljährige BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum moslemischen Glauben bekennt. Seine Identität steht fest.
Der BF reiste spätestens am 09.10.2004 gemeinsam mit seiner Mutter und seinen vier Geschwistern illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte er am 11.10.2004 durch seine gesetzliche Vertretung einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher zunächst mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.06.2005 vollinhaltlich abgewiesen wurde. Nach Einbringung einer Berufung wurde dem BF mit rechtskräftigen Bescheid des UBAS vom 22.10.2007 der Status des Asylberechtigten im Zuge des Familienverfahrens (abgeleitet von der Mutter) zuerkannt.
II.1.2. Festgestellt wird, dass der in Art. 1 Abschnitt C Z 5 der GFK angeführte Endigungsgrund eingetreten ist.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF oder seiner Mutter (von welcher der BF seinen Asylstatus seinerseits abgleitet hat) im Falle der Rückkehr eine aktuelle Verfolgung aus asylrelevanten Gründen drohen würde. Eine Verfolgung besteht weder in Tschetschenien noch in anderen Landesteilen der Russischen Föderation.
Auch darüber hinaus ist der BF in der Russischen Föderation einer Verfolgung nicht ausgesetzt und droht eine solche nicht aktuell. Der BF ist im Falle einer Rückkehr in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht.
Der BF wäre auch nicht im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation (Nordkaukasus/Tschetschenien) in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht. Der BF liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Der BF spricht Tschetschenisch (Muttersprache), die Sprachen Russisch und Englisch auf Schulniveau sowie Deutsch. Der BF wurde in Tschetschenien ( XXXX ) geboren und hat dort 1-2 Jahre lang die Schule besucht, bevor er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern im Alter von 9 Jahren nach Österreich gekommen ist. Er ist aufgrund seines Aufwachsens in einem tschetschenischen Familienverband mit den Gegebenheiten in seinem Herkunftsstaat vertraut. Der BF ist gesund, er leidet an keinen Erkrankungen und nimmt keine Medikamente ein. Es kann nicht festgestellt werden, ob in der Russischen Föderation noch entfernte Angehörige des BF leben.
Es ist dem BF jedenfalls möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation, entweder in Tschetschenen selbst oder auch in anderen Landesteilen niederzulassen und anzumelden sowie durch eigene Erwerbstätigkeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele russische Städte verfügen über eine große tschetschenische Diaspora und bieten die stärkeren Metropolen und Regionen Russlands bei vorhandener Arbeitswilligkeit auch Chancen für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken. Der BF hat Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung.
Ihm droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation auch keine Verfolgung, Folter oder unmenschliche Behandlung wegen der Asylantragstellung oder wegen des langjährigen Aufenthaltes außerhalb der Russischen Föderation. Auch betreffend das 6. und 13. ZPEMRK ist bereits aus dem Grund keine Verletzung des BF in Rechten zu erwarten, dass den Länderberichten zufolge die Todesstrafe in der Russischen Föderation auf Grund des Moratoriums des Verfassungsgerichts de facto abgeschafft ist.
Die aktuell vorherrschende COVID-19 Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Der BF ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr in die Russische Föderation eine COVID-19 Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
II.1.3. Der BF weist in Österreich folgende strafrechtliche Verurteilung auf:
1.) LG XXXX vom XXXX (RK 28.04.2017)
§ 84 (4) StGB
Datum der (letzten) Tat: 09.10.2016
Strafausmaß: Geldstrafe von 300 Tags zu je 10,00 EUR (3.000,00 EUR) im NEF 150 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, davon Geldstrafe von 200 Tags zu je 10,00 EUR (2.000,00 EUR) im NEF 100 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Vollzugsdatum: 05.07.2017
Nachtrag:
zu LG XXXX RK 28.04.2017
Unbedingter Teil der Geldstrafe vollzogen am 05.07.2017
ausgesprochen durch:
LG XXXX vom 11.07.2017
Nachtrag:
zu LG XXXX RK 28.04.2017
(Teil der) Geldstrafe nachgesehen, endgültig
Vollzugsdatum 05.07.2017
ausgesprochen durch:
LG XXXX vom 26.05.2020
Der BF hat in den Jahren 2015-2018 zahlreiche Verwaltungsstrafen (etwa 50) bekommen (meist wegen Verkehrsdelikten). Er wurde weiters wegen fahrlässiger Körperverletzung, der Beteiligung an einem Raufhandel und wegen Betrug angezeigt, die diesbezüglich geführten Ermittlungsverfahren wurde jedoch eingestellt.
Sein Antrag vom 23.03.2020 auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft wurde mit Bescheid der XXXX Landesregierung vom 23.02.2021 abgewiesen.
II.1.4. Der kinderlose BF ist ledig. In Österreich leben seine Mutter, seine vier Geschwister sowie eine Tante und ein Cousin. Die Mutter und drei Geschwister des BF sind asylberechtigt, eine Schwester hat bereits die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Der BF lebt mit seiner Mutter und einer Schwester in einem gemeinsamen Haushalt. Die Mutter des BF hat Rückenprobleme, der BF unterstützt seine Mutter und begleitet er sie etwa zu Ärzten. Der BF führt seit ca. vier Jahren eine Beziehung mit einer Österreicherin und hat sich im Dezember 2020 mit ihr verlobt. Die Hochzeit ist für Dezember 2022 geplant. Der BF wohnt mit seiner Verlobten derzeit nicht in einem gemeinsamen Haushalt, da diese (wegen eines Jobangebotes) seit August 2021 in XXXX lebt. Der BF besucht seine Verlobte jedes Wochenende und möchte ehestmöglich zu ihr ziehen.
Der BF hat in Österreich die Pflichtschule abgeschlossen und danach eine Lehre begonnen. Die Lehre hat er nicht beendet, sondern ist er fallweise einer anderen Beschäftigung (unter anderem als Transportfahrer) nachgegangen. Der BF hat auch immer wieder Sozialleistungen des Staates in Anspruch genommen. Von Oktober 2020 bis Februar 2021 besuchte er einen Kurs zur Vorbereitung auf seine Lehrabschlussprüfung als Bürokaufmann. Die Lehrabschlussprüfung möchte der BF im März 2022 nachholen. Seit Juli geht er nunmehr einer Vollzeitbeschäftigung als Lagerarbeitet nach, wobei er ca. 1.700 € netto verdient. Das Dienstverhältnis ist vorerst bis 23.12.2021 befristet.
Der BF hat sich sehr gute Deutschkenntnisse angeeignet und die Integrationsprüfung auf dem Niveau B1 erfolgreich bestanden. Die gesamte Einvernahme des BF in der mündlichen Verhandlung hat in der deutschen Sprache stattgefunden und der BF konnte völlig problemlos der Verhandlung folgen und die gestellten Fragen in deutscher Sprache beantworten.
Der BF konnte in Österreich auch Freundschaften knüpfen und hat sich sein persönliches Umfeld zum Positiven verbessert. Es kann nicht festgestellt, dass ein weiterer Aufenthalt des BF eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt.
II.1.5. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation/Tschetschenien:
Russland ist von Covid-19 landesweit stark betroffen. Regionale Schwerpunkte sind Moskau und St. Petersburg (AA 15.2.2021). Aktuelle und detaillierte Zahlen bietet unter anderem die Weltgesundheitsorganisation WHO ( https://covid19.who.int/region/euro/country/ru ). Die Regionalbehörden in der Russischen Föderation sind für Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 zuständig, beispielsweise betreffend Mobilitätseinschränkungen, medizinische Versorgung und soziale Maßnahmen (RAD 15.2.2021; vgl. CHRR 12.3.2021). Die Maßnahmen der Regionen sind unterschiedlich, richten sich nach der epidemiologischen Situation in der jeweiligen Re- gion und ändern sich laufend (WKO 9.3.2021; vgl. AA 15.2.2021). Es herrscht eine soziale Distanzierungspflicht für öffentliche Plätze und öffentliche Verkehrsmittel. Der verpflichtende Mindestabstand zwischen Personen beträgt 1,5 Meter (WKO 9.3.2021).
Die regierungseigene Covid-19-Homepage gibt Auskunft über die vom russischen Gesund- heitsministerium empfohlenen Covid-19-Medikamente, nämlich Favipiravir, Hydroxychloroquin, Mefloquin, Azithromycin, Lopinavir/Ritonavir, rekombinantes Interferon-beta-1b und Interferon- alpha, Umifenovir, Tocilizumab, Sarilumab, Olokizumab, Canakinumab, Baricitinib und Tofaciti nib. Der in Moskau entwickelte Covid-19-Krankenhausbehandlungsstandard umfasst folgende vier Komponenten: Antivirale Therapie, Antithrombose-Medikation, Sauerstoffmangelbehebung und Prävention/Behandlung von Komplikationen. Auf Anordnung des Arztes wird Patienten ein Pulsoxymeter ausgehändigt (Gerät zur Messung des Blutsauerstoffsättigungsgrades). Die medizinische Covid-Versorgung erfolgt für die Bevölkerung kostenlos (CHRR o.D.a).
Folgende Impfstoffe wurden in der Russischen Föderation entwickelt: Gam-COVID-Vac (’Sputnik V’), EpiVacCorona, CoviVac und Ad5-nCoV (CHRR o.D.b). Mittlerweile sind in der Russischen Föderation drei heimische Impfstoffe zugelassen (Sputnik V, EpiVacCorona und CoviVac). Groß angelegte klinische Studien gibt es bisher nicht (DS 20.2.2021; vgl. RFE/RL 21.2.2021). Impfungen erfolgen kostenlos (Mos.ru o.D.). In Moskau wurden bisher mehr als 700.000 Personen geimpft (Mos.ru 8.3.2021). Obwohl Russland als weltweit erstes Land seinen Covid-Impfstoff Sputnik V registrierte, haben die Impfungen effizient gerade erst begonnen (DS 12.2.2021). Bisher wurden in der Russischen Föderation in etwa 2,2 Millionen Personen (ca. 1,5% der Bevölkerung) geimpft bzw. erhielten zumindest eine der zwei Teilimpfungen (RFE/RL 21.2.2021).
Für die Einreise nach Russland wird grundsätzlich ein COVID-19-Testergebnis (PCR) benötigt. Russische Staatsbürger müssen bei der Grenzkontrolle keinen COVID-Test vorlegen, dieser muss jedoch spätestens drei Tage nach der Einreise nachgeholt werden. Russische Staatsbürger, die nach der Einreise ein positives Testergebnis erhalten, müssen sich in Quarantäne begeben. Die Ausreise aus Russland ist bis auf unbestimmte Zeit eingeschränkt und nur in bestimmten Ausnahmefällen möglich. Die internationalen Flugverbindungen wurden teilweise wiederaufgenommen. Direktflüge zwischen Österreich und Russland werden derzeit ein- bis zweimal wöchentlich von Austrian Airlines und Aeroflot angeboten. Russische Inlandsflüge wurden während der ganzen Pandemiezeit aufrecht erhalten (WKO 9.3.2021). Der internationale Zugverkehr – mit Ausnahme der Strecke zwischen Russland und Belarus - und der Fährverkehr sind eingestellt (AA 15.2.2021).
Staatliche Unterstützungsmaßnahmen für die russische Wirtschaft sind unterschiedlich und an viele Bedingungen gebunden. Zu den ersten staatlichen Hilfsmaßnahmen zählten Kredit-, Miet- und Steuerstundungen (ausgenommen Mehrwertsteuer), Sozialabgabenreduktion sowie Kreditgarantien und zinslose Kredite. Später kamen Steuererleichterungen sowie direkte Zuschüsse dazu. Viele der Maßnahmen sind nur für kleine und mittlere Unternehmen oder bestimmte Branchen zugänglich und haben einen zweckgebundenen Charakter (beispielsweise gebunden an Gehaltszahlungen oder Arbeitsplatzerhalt) (WKO 9.3.2021). Die Regierung bietet Exporteuren Hilfe an, die Möglichkeit eines Konkursmoratoriums, zinslose Kredite für Gehaltsauszahlungen usw. (CHRR o.D.c). Jänner bis Oktober 2020 ist die Industrieproduktion pandemiebedingt um 3,1% zurückgegangen. Besonders die Rohstoffproduktion ist um 6,6% gefallen, während die verarbeitende Industrie mit 0,3% praktisch stagnierte. Die im Jahr 2020 sehr stark fallenden Ölpreise waren unter anderem eine Auswirkung der Covid-19-Pandemie und mit einem globalen Nachfragerückgang verbunden und führten zu einer Rubelabwertung von 25%. Nach leichter Erholung verlor der Rubel unter anderem wegen der anhaltenden geringen Rohstoffnachfrage Mitte 2020 erneut an Wert und lag Anfang Dezember bei ca. 90 Rubel je Euro (WKO 12.2020). Das Realwachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug im Jahr 2020 -3,1%. Im Vergleich dazu betrug der entsprechende Wert im Jahr 2019 2%. Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2020 17,8% des Bruttoinlandsprodukts (2019: 12,4%) (WIIW o.D.).
Moskau:
In Moskau herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Das Tragen von Masken auf Straßen wird empfohlen. Kultur- und Bildungsveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 50% der Zuschauerplätze belegt sind. Bürgern über 65 Jahren und chronisch Kranken wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021; vgl. WKO 9.3.2021, AA 15.2.2021). Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Am Arbeitsplatz sind vorgeschriebene Hygienevorschriften (unter anderem Temperaturmessungen, Mund- und Handschutz, Desinfektionsmittel, Mindestabstand etc.) einzuhalten (WKO 9.3.2021). Gemäß dem Moskauer Bürgermeister verbessert sich die Pandemielage in Moskau. Ein Großteil der Einschränkungen wurde aufgehoben. Gastronomiebetriebe sind wieder geöffnet. Für Schüler höherer Klassen und Studierende findet nun wieder Präsenzunterricht statt (Mos.ru 7.3.2021; vgl. Mos.ru 8.3.2021, LM 8.2.2021, Russland Analysen 19.2.2021). In der Oblast [Gebiet] Moskau wurde die Mehrzahl der wegen Covid geltenden Einschränkungen zurückgenommen. Einzig Massenveranstaltungen bleiben fast ausnahmslos verboten (Russland Analysen 19.2.2021).
St. Petersburg:
Auch in St. Petersburg herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Die für gastronomische Betriebe geltenden Beschränkungen der Öffnungszeiten wurden aufgehoben. Kulturveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 75% der Zuschauerplätze belegt sind. Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke sind Selbstisolierung und Fernarbeit verpflichtend (CHRR 12.3.2021; vgl. Gov.spb 5.3.2021, WKO 9.3.2021, Russland Analysen 8.2.2021).
Tschetschenien:
An öffentlichen Orten wird das Tragen von Masken empfohlen. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke ist Selbstisolierung vorgesehen (CHRR 12.3.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, Ria.ru 10.2.2021, KMS 10.2.2021). Bisher wurden mehr als 19.000 Personen geimpft (Chechnya.gov 26.2.2021). Mitarbeitern staatlich finanzierter Organisationen in Tschetschenien wurde mit Entlassung gedroht, sollten sie die Covid-Impfung verweigern. Bewohner in Tschetschenien berichten, ihnen seien Sanktionen angedroht worden, sollten sie sich nicht impfen lassen (CK 23.1.2021). Reisebeschränkungen wurden aufgehoben (Ria.ru 10.2.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, KMS 10.2.2021).
Dagestan:
An öffentlichen Orten herrscht Maskenpflicht. Einstweilen dürfen keine Massenveranstaltungen stattfinden. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021). Es finden Massenimpfungen statt, und verwendet wird der Impfstoff Sputnik V (E-dag.ru 23.2.2021). Bisher wurden mehr als 18.000 Personen (2,4%) geimpft (E-dag.ru 12.3.2021).
Quellen:
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/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536 , Zugriff 16.3.2021
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Politische Lage
Letzte Änderung: 26.05.2021
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 1.2021c; vgl. CIA 5.2.2021). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017). Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 1.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 3.3.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderations- rat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden (GIZ 1.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 1.2021a; vgl. FH 3.3.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 3.3.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 1.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als ’obere Parlamentskammer’ das Verfassungsorgan, das die Födera tionssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 1.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 1.2021a).