Entscheidungsdatum
27.09.2021Norm
AsylG 2005 §55 Abs1Spruch
W270 2212666-2/25E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. GRASSL über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen die Spruchpunkte I. bis III. sowie V. bis VIIII. des Bescheids des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , betreffend Aberkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter und Verlängerung einer Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 und dem FPG, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., II., III., und VI. des angefochtenen Bescheids wird als unbegründet abgewiesen.
II. Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG und § 9 Abs. 2 BFA-VG iVm § 52 Abs. 2 FPG wird der Beschwerde gegen den Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheids stattgegeben und Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheids abgeändert, sodass es zu lauten hat:
„V. a.) Die Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ist gemäß § 52 Abs. 2 FPG iVm § 9 BFA-VG auf Dauer unzulässig.
b.) Ihnen wird gemäß § 58 Abs. 2 i.V.m § 55 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ erteilt.“
III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte VII. und VIII. des angefochtenen Bescheids wird stattgegeben. Diese Spruchpunkte werden ersatzlos behoben.
B)
I. Die Revision gegen die Spruchpunkte A) I. ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.
II. Die Revision gegen die Spruchpunkte A) II. und A) III. ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. In Ansehung einer Mitteilung über eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung leitete die belangte Behörde von Amts wegen gegen XXXX (in Folge: „Beschwerdeführer“) ein Verfahren zur Aberkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter ein.
2. Am XXXX vernahm die belangte Behörde den Beschwerdeführer ein und befragte ihn u.a. zu Familienangehörigen in Afghanistan, zu den Umständen seines Lebens in Österreich und zu möglichen Gründen, welche einer Aberkennung des Schutzstatus bzw. Rückkehr in das Herkunftsland entgegenstehen könnten.
3. Mit Bescheid vom XXXX erkannte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer den ihm mit Bescheid vom XXXX zuerkannten Status als subsidiär Schutzberechtigten ab, entzog ihm eine erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei und die Frist für dessen freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Die Behörde begründete ihre Entscheidung im Wesentlichen damit, dass sich die Umstände des Beschwerdeführers geändert haben, weil er zwischenzeitig volljährig geworden sei.
4. Der Beschwerdeführer zog den Bescheid vollumfänglich in Beschwerde und führte dazu im Wesentlichen aus, dass aufgrund der Lage in Afghanistan weiterhin die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes vorliegen.
5. Das Bundesverwaltungsgericht wurde im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens von der belangten Behörde darüber in Kenntnis gesetzt, dass gegenüber dem Beschwerdeführer die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher angeordnet wurde.
6. Mit Urteil des Geschworenengerichts beim Landesgericht für Strafsachen Wien vom XXXX , Zl. XXXX , wurde die Unterbringung des Beschwerdeführers in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs. 1 StGB angeordnet, weil dieser Taten beging, die ihm, wäre er zurechnungsfähig gewesen, als die Verbrechen der absichtlich schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs. 1 StGB zuzurechnen wären und derentwegen er nur wegen seines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes nicht bestraft werden konnte.
7. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX wurde der Beschwerde Folge gegeben, der angefochtene Bescheid aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an die belangte Behörde zurückverwiesen.
8. Am XXXX fand eine erste Videoeinvernahme des Beschwerdeführers durch die belangte Behörde statt. In dieser gab der Beschwerdeführer an, dass er sich nicht im Stande fühle, eine Einvernahme durchzuführen.
9. Am XXXX fand eine weitere Videoeinvernahme des Beschwerdeführers statt. In dieser wurde er insbesondere zu seiner familiären Situation sowie seinem Leben in Österreich einvernommen.
10. Mit Bescheid vom XXXX erkannte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer den ihm mit Bescheid vom XXXX zuerkannten Status als subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), entzog ihm eine erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter (Spruchpunkt II.), und wies den Antrag vom XXXX auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter ab (Spruchpunkt III.). Sie erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 i.V.m. § 52 Abs. 9 FPG unzulässig sei und die Frist für dessen freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Des Weiteren erließ sie ein unbefristetes Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer. Die Behörde begründete ihre Entscheidung im Wesentlichen damit, dass vom Beschwerdeführer eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgehe.
11. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde vom XXXX monierte der Beschwerdeführer u.a., dass die belangte Behörde die notwendigen Ermittlungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers unterlassen und zu seinem persönlichen Verhalten keinerlei Feststellungen getroffen habe. Gerade hinsichtlich der Frage der Zukunftsprognose und dem künftigen Wohlverhalten wäre dieser Ermittlungsschritt von immenser Wichtigkeit gewesen. Der Beschwerdeführer legte gemeinsam mit seiner Beschwerde auch Beweismittel zu seinem aktuellen Gesundheitszustand vor.
Die Beschwerde begehrte dem Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung stattzugeben und festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Aberkennung des subsidiären Schutzes nicht gegeben seien, allenfalls die ausgesprochene Rückkehrentscheidung zu beheben, in eventu, einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen, in eventu die Dauer des unbefristeten Einreiseverbots angemessen herabsetzen.
12. Mit Beschluss des Landesgerichts Korneuburg vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer am 04.03.2021 bedingt aus einer mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahme entlassen.
13. Gemeinsam mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie weitere länderkundliche und sonstige Informationen im Rahmen des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht. Der Beschwerdeführer wurde darüber hinaus aufgefordert, seinen Gesundheitszustand mitzuteilen sowie allfällige Urkunden zu seinen integrativen Tätigkeiten in Österreich vorzulegen.
14. Mit Schreiben vom XXXX legte der Beschwerdeführer Unterlagen zu seinen integrativen Tätigkeiten sowie zu seinem Gesundheitszustand vor.
15. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seines Vertreters, eines Vertreters der belangten Behörde und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu den Gründen der Aberkennung des subsidiären Schutzes befragt wurde. Zudem nahm ein Sachverständiger für das Fachgebiet Psychiatrie und Neurologie an der Verhandlung teil, der zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers befragt wurde.
16. Mit Eingabe vom XXXX wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass seine Straftaten mit seinem schlechten psychischen Zustand im Zusammenhang stehen würden. Aus dem Gutachten des Sachverständigen gehe jedoch hervor, dass das Ansprechen auf die Therapie hervorragend sei und dies ein prognostisch sehr günstiges Zeichen sei. Er strich nochmals hervor, dass sogar seine Mutter in ihrer zeugenschaftlichen Einvernahme von einer Besserung seines Zustands gesprochen habe. Abschließend führte der Beschwerdeführer aus, dass durch seine Bereitschaft, die Therapie weiter zu besuchen und den im Zuge der Verhandlung getätigten Angaben, davon auszugehen sei, dass er keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstelle. Aus den Tatumständen der begangenen Straftaten würde sich kein Schluss auf seine Gefährlichkeit ziehen lassen. Aus diesem Grund stehe ihm weiterhin der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu.
17. Am XXXX wurden dem Beschwerdeführer und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Kurzinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan vom XXXX und das UNHCR Positionspapier betreffend die Rückkehr nach Afghanistan vom August 2021 übermittelt.
18. Mit Schreiben vom XXXX nahm die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers dazu Stellung. In der Stellungnahme brachte sie im Wesentlichen vor, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative seit der Machtübernahme durch die Taliban, nicht in Frage komme.
II. Feststellungen:
1. Zur Person des Beschwerdeführers:
1.1. Der Beschwerdeführer trägt den Namen „ XXXX “, wurde am XXXX geboren und ist afghanischer Staatsangehöriger.
1.2.1. Der Beschwerdeführer leidet an einer paranoiden Schizophrenie. Dabei handelt es sich um eine lebensbegleitende psychische Krankheit, die unheilbar ist. Die psychopharmakologische Behandlung des Beschwerdeführers, u.a. durch regelmäßige Verabreichung von Depotspritzen, führte zu einem vollständigen Abklingen der psychotischen Symptome.
1.2.2. Aus forensisch-psychiatrischer Sicht liegt für den Beschwerdeführer eine positive Gefährlichkeitsprognose vor, wonach von ihm eine große Gefahr ausgeht, erneut strafbare Handlungen mit schweren Folgen wie schwere und absichtlich schwere Körperverletzungen zu setzen. Diese Gefährlichkeit konnte aber durch die psychopharmakologische Behandlung, die praktisch zu einem vollständigen Abklingen der psychotischen Symptome geführt hat, soweit reduziert werden, dass anstelle einer mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahme nach seiner Person, seinem Gesundheitszustand, seinem Vorleben und nach seinen Aussichten auf ein redliches Fortkommen im Hinblick auf diese Gefährlichkeit mit folgenden Weisungen das Auslangen gefunden werden kann: 1. Durchführung einer fachpsychiatrischen und psychopharmakologischen Behandlung, 2. Erteilung einer Weisung zur neuroleptischen medikamentösen Behandlung, inklusive Depottherapie, Durchführung eines regelmäßigen Medikamentenspiegels zur Einschätzung der Basisversorgung mit antipsychotischen Medikamenten, 3. Weisung einer Alkohol- und Drogenabstinenz mit entsprechenden Überprüfungen, 4. Weisung der Wohnsitznahme bei der Mutter sowie 5. Weisung der Bestellung eines Bewährungshelfers. Auf sich alleine gestellt wäre der Beschwerdeführer gefährdet, seine Medikamente abzusetzen, wieder psychotisch zu werden und dann tatsächlich erneut strafbare Handlungen mit schweren Folgen zu begehen. Aus forensisch-psychiatrischer Sicht ist ein gutes Mitmachen des Beschwerdeführers bei der Therapie festzustellen. Eine kontinuierliche medikamentöse Weiterbehandlung wurde empfohlen.
1.2.3. Aus forensisch-psychiatrischer Sicht ist eine aufgrund der Art der Erkrankung und der Vorgeschichte eine Integration am ersten Arbeitsmarkt generell ausgeschlossen. Wenn, kann eine Beschäftigung des Beschwerdeführers nur unter geschützten, freundlichen Rahmenbedingungen, wie dies bei der „ XXXX “ der Fall ist, stattfinden. Hinzukommt, dass es mit größter Wahrscheinlichkeit durch die zugrundeliegende Erkrankung zu einem weiteren kognitiven Abbau kommen wird.
1.2.4. Aus forensisch-psychiatrischer Sicht würde eine Aufenthaltsbeendigung zum derzeitigen Zeitpunkt eine tatsächliche relevante Gesundheitsgefährdung des Beschwerdeführers bedeuten, bis hin zur vitalen Gefährdung, weil eine adäquate vergleichbare Versorgungsstruktur im Herkunftsland nicht anzunehmen ist. Es bleibt abzuwarten, ob der Beschwerdeführer durch die kontinuierliche Weiterbehandlung, die Art und Notwendigkeit der Therapie so verinnerlicht, dass er sich zum einen darum selber kümmern kann und zum anderen in der Lage ist, sich allenfalls Medikamente wie die gegenständlichen unter den sozialen Rahmenbedingungen, die ihn erwarten würden, selber zu besorgen.
1.2.5. In der Vorgeschichte finden sich ganz konkrete Hinweise für Psychose bedingte sehr konkrete Selbstmordgedanken mit Durchführungsideen. So hat er sich schon einmal ein Seil besorgt, um sich zu erhängen. Daher ist aus forensisch-psychiatrischer Sicht davon auszugehen, dass eine Rückführung und Rückkehr zum derzeitigen Zeitpunkt nicht nur zum Wideraufleben der Psychose mit allen damit zusammenhängenden unvorhersehbaren psychotisch-impulshaften Handlungen kommen wird, sondern dass der Beschwerdeführer auch ganz konkret in die akute und erhebliche Selbstgefährdung hinsichtlich eines Selbstmordhandelns kommt.
1.2.6. Bei Betroffenen, wie dem Beschwerdeführer, sind die Möglichkeiten sozialer Interaktion und Integration außerhalb der Familie meist unmöglich. Die Familie ist der letzte wesentliche soziale Bezugspunkt. Auf sich alleine gestellt wäre der Beschwerdeführer zum derzeitigen Zeitpunkt neben all den bereits genannten Gefährdungen, auch gefährdet zu verwahrlosen und zu verkommen.
1.3.1. Der Beschwerdeführer lebt in Österreich in einer Unterkunft des Vereines „ XXXX “ in Wien.
1.3.2. Die Mutter des Beschwerdeführers und eine seiner Schwestern leben in Wien. Der Beschwerdeführer selbst ist ledig. Der Beschwerdeführer kommt täglich zu seiner Mutter sowie seinen Geschwistern nach Hause und unterhalte sich mit diesen. Die Mutter hat den Eindruck gewonnen, dass es dem Beschwerdeführer durch seine aktuelle medizinische Therapie bessergehe.
1.3.3. Der Beschwerdeführer hat einen Deutschsprachkurs für das Sprachniveau A1 besucht und die Integrationsprüfung A1 des österreichischen Integrationsfonds bestanden. Zudem hat er einen Werte- und Orientierungskurs des österreichischen Integrationsfonds im XXXX 2017 besucht. Darüber hinaus hat er, im Zeitraum von XXXX bis XXXX an Basisbildungskursen für jugendliche Flüchtlinge, veranstaltet von „Österreichische Urania für Steiermark“, in Graz teilgenommen. Er besucht derzeit regelmäßig eine Beschäftigungstherapie der arbeitstherapeutischen Einrichtung „ XXXX “, in dessen Rahmen er weiterhin Deutsch lernt und zeichnet. Er befindet sich aktuell auf der Warteliste für einen Deutschkurs Niveau A2. In der Einrichtung der XXXX übernimmt er als Hausarbeiter, immer wieder, kleinere Arbeiten.
1.3.4. Er wird als derzeit äußerst kooperativ, höflich und hilfsbereit beschrieben.
1.3.5. Er ist in Österreich nicht erwerbstätig. Ferner verfügt er über keine Einstellungszusage.
1.4. Der Beschwerdeführer stellte (bzw. wurde ein solcher für ihn von seiner Mutter gestellt) am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
1.5.1. Mit Urteil vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer als Jugendstraftäter vom Landesgericht für Strafsachen Wien wegen des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt und des Vergehens der versuchten schweren Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten, diese bedingt nachgesehen unter einer Probezeit von drei Jahren, verurteilt. Bei seiner Urteilsfindung erachtete das Gericht das Zusammentreffen zweier Vergehen als erschwerend und den bisher ordentlichen Lebenswandel, den Umstand, dass es beim Versuch geblieben ist, das Alter unter 21 Jahren sowie die im Zweifel erkennbare intellektuelle/psychische Beeinträchtigung als mildernd.
1.5.2. Mit Urteil des Geschworenengerichts beim Landesgericht für Strafsachen Wien vom XXXX , Zl. XXXX , wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer als junger Erwachsener Taten begangen habe, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht sind und ihm, wäre er zurechnungsfähig gewesen, als die Verbrechen der absichtlich schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs. 1 und 87 Abs. 1 StGB zuzurechnen wären und derentwegen er nur wegen seines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands nicht bestraft werden kann. Ebenso wurde in dieser Entscheidung die Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs. 1 StGB angeordnet.
1.6. Mit Beschluss des LG Korneuburg als Vollzugsgericht vom XXXX , Zl. XXXX wurde der Beschwerdeführer am XXXX aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, unter Anordnung der Bewährungshilfe für den Zeitraum der Probezeit und der Erteilung der oben genannten Weisungen, bedingt entlassen.
2. Zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung sowie der Stellung eines Verlängerungsantrags:
2.1. Mit Bescheid vom XXXX , Zl. XXXX , wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Ebenso erteilte die Behörde dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX . Auf S. 18 des Bescheids führte die belangte Behörde begründend vor dem Hintergrund des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 u.a. aus, dass im Fall des Beschwerdeführers nicht von einer realen Gefahr einer Bedrohung auszugehen war, da für ihn selbst von der gesetzlichen Vertretung keine eigenen Flucht- und Asylgründe vorgebracht wurden (S. 18). Jedoch liege in Fall des Beschwerdeführers ein Familienverfahren vor. So sei der Mutter des Beschwerdeführers mit Bescheid ebenfalls vom XXXX der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden, sodass der Beschwerdeführer auch den gleichen Schutz erhalte.
2.2. Mit Bescheid vom XXXX , Zl. XXXX , erteilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX .
3. Zur Aberkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten:
Im angefochtenen Bescheid vom XXXX wurde die Aberkennung des subsidiären Schutzes im Wesentlichen damit begründet, dass der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers eine Gefahr für die Sicherheit und die Allgemeinheit in diesem Land darstelle und dies keine positive Zukunftsprognose zulasse. Zudem wurde ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen.
4. Zum Status der Mutter des Beschwerdeführers:
4.1. Mit Bescheid vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Mutter des Beschwerdeführers, XXXX , geb. am XXXX , gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Ebenso erteilte die Behörde der Mutter des Beschwerdeführers eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX . Auf S. 75 des Bescheids führte die belangte Behörde begründend vor dem Hintergrund des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 u.a. aus, dass im Fall der Mutter des Beschwerdeführers von einer realen Gefahr einer Bedrohung auszugehen war. So sei in ihrem Fall zu berücksichtigen, dass sie nie in Kabul gelebt habe, mit den dortigen Gegebenheiten nicht vertraut sei und über keinerlei familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte verfüge. In ihrem Fall ergebe sich eine Rückkehrgefährdung im Sinne des § 8 AsylG 2005. Es könne, vor dem Hintergrund der volatilen Sicherheitslage, der schlechten Versorgungslage, der hohen Arbeitslosenrate und mangelnden Ausbildungsmöglichkeiten, bei einer Rückkehr nach Afghanistan von einer unmenschlichen Behandlung gleichzusetzenden Situation gesprochen werden. Aus diesem Grund erscheine eine Rückkehr nach Afghanistan unter den dargelegten Umständen derzeit unzumutbar. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde sie somit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer realen Gefahr ausgesetzt sein, in ihren Rechten nach Art 3 EMRK verletzt zu werden.
4.2. Mit Bescheid vom XXXX , Zl. XXXX erteilte die belangte Behörde der Mutter des Beschwerdeführers eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX .
4.3. Mit Bescheid vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Mutter des Beschwerdeführers, gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005, die befristete Aufenthaltsberechtigung von der belangten Behörde um zwei Jahre verlängert.
5. Zur Lage in Afghanistan:
5.1. Zur allgemeinen Lage in Afghanistan:
5.1.1. Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte. Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet.
5.1.2. Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch 18.08.2021 wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll.
5.1.3. Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen.
5.1.4. Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach „Kollaborateuren“. In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens zwölf Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird. Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden.
5.1.5. Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es, die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (£ Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SR- Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17.09.2021.
5.1.6. Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf.
5.1.7. Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu‘minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia-Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban-Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht.
5.1.8. Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban-Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an.
5.1.9. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an.
5.1.10. Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind. [...]“
5.2. Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan:
5.2.1. Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert.
5.2.2. Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen.
5.2.3. Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten.
5.2.4. Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen. Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen. Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an. Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen.
5.2.5. Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet, wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird.
5.2.6. Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19.
5.2.7. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen.
5.2.8. Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen. Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen.
5.2.9. Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China.
5.2.10. Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern", wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden.
5.2.11. Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde. Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten. Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden. Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt.
5.2.12. Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden. Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen. Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten – mehr als ein Viertel – als "schwer erreichbar" gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können.
5.2.13. Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht. Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben.
5.2.14. COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN).
5.2.15. Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet.
5.2.16. Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt. Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb – mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben.
5.2.17. In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt.
5.2.18. Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben.
5.2.19. COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei. Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen – mehr als ein Drittel der Bevölkerung – in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark.
5.2.20. Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist.
5.2.21. Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst.
5.2.22. Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind.
5.2.23. Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten.
5.2.24. Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019.
5.2.25. Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs.
5.2.26. Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt.
5.2.27. Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen, wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden. Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden. Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden. Ende Mai 2021 wurde berichtet, dass in 16 Provinzen aufgrund steigender Fallzahlen für 14 Tage die Schulen geschlossen würden.
5.2.28. Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien. In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen. Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen.
5.2.29. Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus.
5.2.30. Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt, wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden. Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt. Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet.
5.2.31. Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit.
5.2.32. IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an. Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich.
5.3. Medizinische Versorgung:
Allgemeines
5.3.1. Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück. In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten.
5.3.2. Im Jahr 2003 richtete das Gesundheitsministerium ein standardisiertes Basispaket an Gesundheitsdiensten (Basic Package of Healthcare Services, BPHS) ein, um die medizinische Grundversorgung und den gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsdiensten für die gesamte Bevölkerung Afghanistans sicherzustellen. Die Umsetzung des BPHS wurde an Nichtregierungsorganisationen (NGO) vergeben, die in allen Provinzen Afghanistans - mit Ausnahme von drei Provinzen, in denen das MoPH das BPHS direkt umsetzte - medizinisches Personal ausbildeten und grundlegende Gesundheitsdienste anboten. Im Jahr 2005 erweiterte das MoPH das Programm durch die Einführung des Essential Package of Hospital Services (EPHS). Das EPHS ist ein standardisiertes Paket von Krankenhausleistungen für jede Ebene von Krankenhäusern im öffentlichen Sektor.
5.3.3. Bislang werden BPHS und EPHS vom MoPH reguliert und an 40 nationale und internationale NGOs in 31 Provinzen ausgelagert. In den verbleibenden drei Provinzen Afghanistans stellt das MoPH das BPHS über eine Contracting-In-Initiative mit dem Titel „Strengthening Mechanism“ direkt bereit.
5.3.4. Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Trotz der im Entwicklungsländervergleich relativ hohen Ausgaben für Gesundheit ist die Gesundheitsversorgung im ganzen Land sowohl in den von den Taliban als auch in den von der Regierung beeinflussten Gebieten generell schlecht. Zum Beispiel gibt es in Afghanistan 2,3 Ärzte und fünf Krankenschwestern und Hebammen pro 10.000 Menschen, verglichen mit einem weltweiten Durchschnitt von 13 bzw. 20.
5.3.5. Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten. Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Millionen Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren.
5.3.6. Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 im Jahr 2018 gestiegen. Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt.
5.3.7. 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan wird nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden (AA 16.7.2020). Durch dieses Vertragssystem wird die primäre, sekundäre und tertiäre Gesundheitsversorgung bereitgestellt. Primärversorgungsleistungen auf Gemeinde- oder Dorfebene, Sekundärversorgungsleistungen auf Distriktebene und Tertiärversorgungsleistungen auf Provinz- und nationaler Ebene (MedCOI 5.2019). Es mangelt jedoch an Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während es in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken gibt, ist es für viele Afghanen schwierig, in ländlichen Gebieten eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Nach Berichten von UNOCHA haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Laut einer Studie aus dem Jahr 2017, die den Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen untersuchte, wiesen viele Gesundheitszentren im ganzen Land immer noch große Mängel auf, darunter bauliche und wartungsbedingte Probleme, schlechte Hygiene- und Sanitärbedingungen, wobei ein Viertel der Einrichtungen nicht über Toiletten verfügte, vier von zehn Gesundheitseinrichtungen kein Trinkwassersystem hatten und eine von fünf Einrichtungen keinen Strom hatte. Es gab nicht genügend Krankenwagen und viele Gesundheitseinrichtungen berichteten über einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Material.
5.3.8. Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen.
5.3.9. Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen (MedCOI 5.2019). Die Kosten für Diagnose und Behandlung variieren dort sehr stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden (AA 16.7.2020), was den privaten Sektor sehr vielfältig macht mit einer uneinheitlichen Qualität der Leistungen, die oft unzureichend sind oder nicht dem Standard entsprechen.
5.3.10. In einem MoU (Memorandum of Understanding) zwischen dem Gesundheitsministerium und drei indischen Privatunternehmen wurde am 16.6.2020 der Bau von zwei Gesundheitszentren und einer Pharmafabrik in Afghanistan im Wert von 12,5 Mio. $ vereinbart. Außerdem wurden im vergangenen Jahr Vereinbarungen über den Bau eines Gesundheitszentrums in Kabul und 53 Gesundheitszentren in den Provinzen Kandahar und Helmand unterzeichnet. Darüber hinaus hat Aga Khan Health Services (AKHS) als Teilprojekt im Rahmen des nationalen Projekts (SEHATMANDI) im Februar 2019 bis Juni 2021 das Management von Gesundheitseinrichtungen in den Provinzen Bamyan und Badakhshan auf Basis einer leistungsbezogenen Bezahlung übernommen. Im Januar 2019 erhielt das Schwedische Komitee für Afghanistan (SCA) den neuen SEHATMANDI-Vertrag zur Umsetzung der Interventionen Basic Package of Health Services (BPHS) und Essential Package of Health Services (EPHS) in der Provinz Wardak, Afghanistan bis zum 30.6.2021.
Zugang zu medizinischen Versorgung
5.3.11. Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) waren 2020 bis zu drei Millionen Menschen durch die Schließung von Gesundheitseinrichtungen durch Konfliktparteien, vom Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdienstleistungen abgeschnitten, oft in den am stärksten gefährdeten, konfliktbetroffenen Gebieten. Dies auch im Zusammenhang mit der COVID-19Pandemie in Afghanistan, wo die in konfliktbetroffenen Gebieten lebende Bevölkerung eine geringere Wahrscheinlichkeit hatte, Tests und kritische, lebensrettende medizinische Behandlungen zu erhalten. Es ist damit zu rechnen, dass der Verlust von medizinischem Personal und die beschädigte medizinische Infrastruktur lang anhaltende Folgen für das Gesundheitssystem haben werden.
5.3.12. Eine begrenzte Anzahl von staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenlose medizinische Versorgung an. Voraussetzung für die kostenlose Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft durch einen Personalausweis oder eine Tazkira. Alle Bürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Allerdings gibt es manchmal einen Mangel an Medikamenten. Daher werden die Patienten an private Apotheken verwiesen, um verschiedene Medikamente selbst zu kaufen, oder sie werden gebeten, für medizinische Leistungen, Labortests und stationäre Behandlungen zu zahlen. Medikamente können auf jedem afghanischen Markt gekauft werden, und die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produkts. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern unterscheiden sich von den lokalen Marktpreisen. Private Krankenhäuser befinden sich meist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar und die medizinische Ausstattung ist oft veraltet oder nicht vorhanden. Es wird von schlechten hygienischen Bedingungen in öffentlichen Krankenhäusern berichtet und von Ärzten, die nur wenige Stunden im Krankenhaus anwesend sind, weil sie ihre eigenen privaten Praxen haben. Nach Daten aus dem Jahr 2017 waren 76 % der in Afghanistan getätigten Gesundheitsausgaben sogenannte „out-of-pocket“ Zahlungen der Patienten. Die Qualität und Kosten der Kliniken variiert stark, es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf.
5.3.13. In den großen Städten und auf Provinzebene ist die medizinische Versorgung gewährleistet, aber auf Distrikt- und Dorfebene sind die Einrichtungen oft weniger gut ausgestattet und es kann schwierig sein, Spezialisten zu finden. In vielen Fällen arbeiten Krankenschwestern anstelle von Ärzten, um die Grundversorgung zu gewährleisten und komplizierte Fälle an Krankenhäuser in der Provinz zu überweisen. Operationen können in der Regel nur auf Provinzebene oder höher durchgeführt werden; auf Distriktebene sind nur Erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Dies gilt nicht für das ganze Land, allerdings können Distri