TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/29 W286 2168997-1

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Veröffentlicht am 29.09.2021
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Entscheidungsdatum

29.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §13 Abs1

Spruch


W286 2168997-1/26E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a DEUTSCH-PERNSTEINER über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.08.2017, Zl. 1079675401-150929517, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheids wird stattgegeben und XXXX alias XXXX gemäß §§ 54, 55 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

III. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung wird gemäß § 13 Abs. 1 VwGVG zurückgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 24.07.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 25.07.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Am 08.05.2017 fand eine Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) statt. Zu seinen Fluchtgründen brachte der Beschwerdeführer dabei im Wesentlichen vor, dass er aufgrund seiner Tätigkeit bei einem Fernsehsender einer persönlichen Verfolgung ausgesetzt gewesen sei.

3. Mit Bescheid vom 09.08.2017, Zl. 1079675401-150929517, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt II.). Die belangte Behörde erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die belangte Behörde setzte eine Frist für die freiwillige Rückkehr von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde wertete das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers als nicht glaubhaft. Sie ging aufgrund der Länderberichte zum Irak und der verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkte sowie der Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers nicht vom Vorliegen der Voraussetzungen subsidiären Schutzes aus. Insbesondere aufgrund der relativ kurzen Aufenthaltsdauer ging die belangte Behörde von der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung aus.

4. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde. Darin brachte er im Wesentlichen vor, dass er ein in sich geschlossenes, nachvollziehbares, immer gleichlautendes Vorbringen erstattet habe, das eine asylrelevante Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure – aufgrund der sozialen Zugehörigkeit (Gruppe der Medienmitarbeiter) und aus religiösen Gründen – belege. Der Beschwerdeführer gehöre außerdem jener Gruppe an, die der Gefahr der Zwangsrekrutierung unterliege. Hinsichtlich des Antrags auf subsidiären Schutz werde auf die prekäre Sicherheitlage im Irak, vor allem die allgemeine Situation in der Provinz „Alanbar“ verwiesen.

5. Die belangte Behörde legte die Beschwerde am 28.08.2017 dem Bundesverwaltungsgericht vor. Das Beschwerdeverfahren wurde am 01.03.2021 der zuständigen Gerichtsabteilung zugewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

6. Mit Dokumentenvorlage vom 26.07.2021 legte der Beschwerdeführer Unterlagen zum Nachweis seines Einkommenes vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

1.1.1. Der Beschwerdeführer heißt XXXX und ist am XXXX geboren (Reisepasskopie). Er ist irakischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder (Protokoll der mV S. 44 bis 46, AS 76 und 77).

1.1.2. Der Beschwerdeführer hat im Irak sechs Jahre die Grundschule, drei Jahre die Mittelschule und drei Jahre das Gymnasium absolviert und im Jahr 2010 mit Matura abgeschlossen. Dann war er eine zeitlang beschäftigungslos, arbeitete von 2012 bis 2013 für eine Menschenrechtsorganisation und führte Gelegenheitstätigkeiten, wie z.B. Ausmalen aus (Protokoll der mV S. 46, AS 73 und 74).

Der Beschwerdeführer hat kein Jusstudium in BAGDAD begonnen. Der Beschwerdeführer hat nicht bei einem Fernsehsender gearbeitet.

1.1.3. Der Beschwerdeführer ist in Österreich unbescholten (Strafregisterauszug).

1.1.4. Der Beschwerdeführer reiste am 06.07.2015 aus dem Irak aus (AS 9, Protokoll der mV S. 48).

Er hat die Ausreise mit Unterstützung seiner Mutter bezahlt (Protokoll der mV S. 48 und 49).

1.1.5. Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig (Protokoll der mV S. 57). Er gehört keiner Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung an.

1.2. Zum Herkunftsort und zu Anknüpfungspunkten des Beschwerdeführers:

1.2.1. Der Beschwerdeführer ist in der Provinz AL ANBAR in der Stadt XXXX (ca XXXX km westlich von XXXX ; ca XXXX km westlich von XXXX ) aufgewachsen und lebte dort gemeinsam mit seiner Mutter. Im Jahr 2015 zog der Beschwerdeführer nach Vorrücken des IS mit seiner Mutter in die Stadt BAGDAD und lebte dort mit ihr und dem Haushalt des Onkels väterlicherseits zusammen (Protokoll der mV S. 47).

Der Beschwerdeführer war schon zuvor regelmäßig bei seiner Schwester XXXX und deren Mann in BAGDAD auf Besuch, wenn er in BAGDAD war, und blieb dort jeweils auch mehrere Tage (Einvernahme des Schwagers des Beschwerdeführers im Protokoll der mV S. 18 und 19 sowie Einvernahme des Beschwerdeführers im Protokoll der mV S. 47).

Im Irak leben noch folgende Verwandte: Am Heimatort lebt eine Schwester des Beschwerdeführers, eine andere Schwester lebt unweit davon in XXXX . In der Stadt BAGDAD lebt eine Tante mütterlicherseits. Von der Familie seines Schwagers (der auch sein Cousin ist) leben ebenfalls noch Verwandte in BAGDAD (Protokoll der mV S. 47 und 48).

Der Beschwerdeführer hat Kontakt zu seiner in XXXX lebenden Schwester (Protokoll der mV S. 48).

Der Beschwerdeführer hat am Heimatort ein familiäres Auffangnetz, das ihn bei einer Rückkehr unterstützen kann.

1.3. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

1.3.1 Das Fluchtvorbingen zu einer Bedrohung und Verfolgung aufgrund einer Tätigkeit des Beschwerdeführers als Kameramann, (Aufdecker-) Journalist und wegen des Weiterleitens und des Verkaufs von (Aufdecker-) Videos ist nicht glaubhaft. Der Beschwerdeführer hat diese Tätigkeiten nicht ausgeübt. Der Beschwerdeführer wurde und wird in diesem Konnex nicht von staatlichen, semi-staatlichen oder irgendwelchen anderen Akteuren verfolgt oder bedroht.

1.3.2. Der Beschwerdeführer wird nicht aufgrund seiner Clanzugehörigkeit oder seiner Eigenschaft als sunnitischer Araber bedroht und verfolgt.

1.3.3. Der Beschwerdeführer wird auch sonst im Irak nicht von Behörden oder der Regierung oder sonstigen Akteuren gesucht, bedroht oder verfolgt.

(Protokoll der mV S. 49 ff)

1.4. Zur maßgeblichen Situation im Irak:

Die Feststellung der maßgeblichen Situation im Irak basiert auf vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten Länderberichten, aus denen folgende Auszüge als Feststellungen getroffen werden:

1.4.1. Anfragebeantwortung zum Irak: Clans im Irak: Die größten Clans des Landes; Macht von Clans in Bezug auf ihre Mitglieder; Der Clan der Al-Dulaimi – Macht und Ausbreitung [a-11521-3]

1.4.2. Auszug Länderinformationsblatt der Staatendokumentation

1.4.3. Auszug aus dem EASO-Bericht „Gezielte Gewalt gegen Individuen“

1.4.4. Auszug aus EASO Irak Sicherheitslage Oktober 2020

1.4.5. Auszug aus EASO Irak: Zentrale sozioökonomische Faktoren für Bagdad, Basra und Erbil, September 2020

Daraus ergibt sich auszugsweise:

1.4.1. Anfragebeantwortung zum Irak: Clans im Irak: Die größten Clans des Landes; Macht von Clans in Bezug auf ihre Mitglieder; Der Clan der Al-Dulaimi – Macht und Ausbreitung [a-11521-3]

Die größten Clans des Landes

Im folgenden Abschnitt werden ausschließlich die arabischen Stämme des Irak dargestellt. Das separate System der kurdischen Stämme der Autonomen Region Kurdistan wurde nicht in die Recherche miteingebunden.

Jesmeen Khan erklärt in ihrem Artikel zur irakischen Stammesstruktur aus 2007, dass im Irak drei Arten von Stämme vorherrschen würden: sunnitisch dominierte Stämme im Zentralirak und im Westen des Landes, schiitisch dominierte Stämme im Süden, und kurdische Stämme in Norden des Landes. Ein kleiner Stamm habe einige hundert bis Tausende von Mitgliedern, während große Stämme Zehntausende von Mitgliedern haben könnten, die in Sub-Clans angeordnet seien. Das Fundament des Stammes werde als Khams bezeichnet, die erweiterte Großfamilie. Die unterste Ebene der Struktur sei das ‚Bayt‘ (Haus), das aus einer einzigen Großfamilie mit Hunderten von Mitgliedern bestehe. Eine Gruppe von Bayts bilde einen Clan, der als Fakhd bezeichnet werde. Jeder Fakhd habe seinen eigenen Anführer, Familiennamen und zugeordnetes Gebiet. Eine Gruppe von Clans bilde eine Stammesorganisation oder ‚Ashira‘. Eine Konföderation von Stämmen werde als Qabila klassifiziert. Obwohl die Qabila ein Bündnis mehrere Stämme sei, werde sie immer noch als ein Stamm angesehen. (Khan, 2007) Der weiter unten besprochene Stamm der Dulaim wird von Khan als eine solche Qabila oder Stammeskonföderation bezeichnet.

Laut einem Bericht von CRS für den amerikanischen Kongress 2008 seien die Stammeskonföderationen Shammar, Dulaym, Jiburi, Albu Nasir, Anizah, Zubayd, und Ubayd einige der wichtigsten Stammeskonföderationen im Irak. Al-Shammar behaupte die größte Konföderation, mit mehr als 1.5 Millionen Stammesmitgliedern zu sein. Weiters werden die Stammeskonföderationen der Dulaym und Jiburi als zwei der größten im Land genannt. (CRS, 7. April 2008, S. 3-4)

Auch Khan nennt den Stamm der Shammar als die größte Stammeskonföderation im Irak. Sie listest die folgenden Stammeskonföderationen als die größten arabischen Konföderationen im Irak auf: Zubayd, Tayy, Rubia, Dulaym, Shammar, Jubur, Ubayd, Anniza, al-Dhufair, al-Muntafiq, Bani Rikab, Bani Hachim, al-Soudan, Albu Mohammed, al-Qarraghul, al-Tikriti, al-Hassan, Yazzid, Ka'b, Shammar Touga, al-Ghalal, al-Sumaida, Bani Lam, al-Azza, al-Umtayr, Zoba, Midan, al-Duriyeen, al-Khaza'il, al-Suwarma, and al-Sumaida. Der vorherrschende schiitische Stamm sei laut Khan der Stamm der Bani Assad. (Khan, 2007)

CFR erklärt in seinem Bericht über die Rolle der Stämme im Irak von 2007, dass viele irakische Araber ihre Vorfahren auf eine von neun Stammeskonföderationen oder Qabila zurückführen könnten, die vor dem 17. Jahrhundert im Irak entstanden seien. Jede der Konföderationen - die Muntafiq, die Zubayd, die Dulaym, die Ubayd, die Khazal, die Bani Lam, die Al Bu Muhammed, die Rabia und die Ka'b - umfasse viele einzelne Stämme. Bis zum 19. Jahrhundert sei die Stammeskarte des Irak um andere mächtige Konföderationen und Stämme erweitert worden, darunter die Shammar, die Anaza, die Bani Tamim und die Zafir. (CFR, 19. März 2007)

Stolzoff analysiert in seinem Buch zu Iraks Stammessystem, dass Stammesverbände und -zweige aus Millionen von Menschen bestehen könnten, da sie Hunderte von Divisionen, Clans und Häuser umfassen könnten. Die Stammeskonföderation der Muntafaq bestehe aus über 860 nicht gebundenen Substämmen. Es sei die größte Stammeskonföderation im Irak. (Stolzoff, 2009, S. 32) Stolzoff stellt in seinem Buch eine Liste aller Stammeskonföderationen und ihrer zugehörigen Stämme im Irak zur Verfügung. (Stolzoff, 2009)

EASO nennt in seinem COI-Bericht zur Sicherheitssituation im Irak von 2020 die Stämme Juburi und Tamimi als die größten und einflussreichsten in der Provinz Diyala. (EASO, Oktober 2020, S. 85)

In einem Bericht der LSE zu Salah al-Din wird der al-Jabour Stamm als der größte und einflussreichste der Provinz genannt. (LSE, Jänner 2021, S. 7)

Macht von Clans in Bezug auf ihre Mitglieder

The Arab Weekly beschreibt in einem Artikel vom Jänner 2016, dass Stämme Streitigkeiten zwischen ihren Mitgliedern sowie anderen Clans lösen würden, die von kommerziellen bis hin zu Straftaten reichen würden. Sie würde dabei Strafen verhängen oder auch die Höhe von Blutgeld bestimmen. (AW, 22. Jänner 2016)

The Century Foundation (TCF) beschreibt, dass es das Hauptziel des Stammesjustizsystems sei, Stabilität zu gewähren sowie die kollektive Ehre aufrechtzuerhalten, und gleichzeitig Rachetötungen zu verhindern. Stammes-Scheichs würden eine Bandbreite sowohl zivil- als auch strafrechtlicher Angelegenheiten überwachen und würden bei Streitigkeiten über Land und Eigentum, Wasser, Handelsangelegenheiten, Erbschaft, „Ehrenverbrechen“, Autounfälle, Drogendelikte, Diebstahl, Betrug und Mord vermitteln. Stammesverhandlungen und Konfliktlösungen würden auf allen Ebenen des Stammessystems stattfinden. Die meisten Streitigkeiten würden auf Hausebene („bayt“) oder Clanebene beigelegt. Strittige Mordfälle oder andere schwerwiegender Konflikte könnten von höherrangigen Scheichs übernommen werden.

Nach Stammesgewohnheiten seien männliche Mitglieder einer erweiterten Familieneinheit oder „Khamsa“ verpflichtet, die Verletzung oder den Tod eines anderen Familienmitglieds zu rächen, sei es durch Tötung („dam butlob dam“) oder durch Verhandlung einer anderweitigen Lösung, wie zum Beispiel ein zeitlich begrenztes Exil oder den selten vorkommenden Ausschluss aus dem Stamm. (TCF, 7. November 2019)

Laut CFR seien Scheichs im traditionellen Sinn dafür verantwortlich, die Mitglieder ihres Stammes vor Schaden zu schützen und ihnen ein grundlegendes wirtschaftliches Wohlergehen zu garantieren. Sie würden weiters als Vermittler und Richter fungieren und in dieser Funktion zum Beispiel Streitigkeiten um Eigentum lösen oder auch Eheschließungen vorschlagen. Im Gegenzug würden ihnen ihre Stammesmitglieder die Treue halten. Es gebe Teile des Landes, vor allem am Land, wo Stammesscheichs die einzige Quelle von Recht und Autorität seien. (CFR, 19. März 2007)

Stolzoff beschreibt, dass die Autorität eines Scheichs von vielen Faktoren abhänge, allen voran der Meinung seiner Stammesmitglieder. Es sei unwahrscheinlich, dass ein Scheich vollständige Autorität ausübe und für die Handlungen jedes Stammesmitglieds verantwortlich sei. Ein sozialer Druck innerhalb des Stammes treibe Stammesangehörige dazu den Anweisungen oder Ratschlägen eines Scheichs entweder zu gehorchen, oder nicht zu gehorchen. Das Maß an Autorität sei dynamisch und könne sich verändern. (Stolzoff, 2009, S. 43)

TCF fügt hinzu, dass die gesellschaftliche Bedeutung von Stämmen auch geografisch definiert sei. In ländlichen Gebieten oder Räumen mit begrenzter Regierungspräsenz seien Stämme präsenter. In Städten sei die Rolle der Stämme eingeschränkter. Die Provinz Al-Anbar, die fast ausschließlich sunnitisch-arabisch sei und in der die meisten Einwohner eine Verbindung zur Stammeskonföderation Al-Dulaim hätten, habe einen stärkeren Stammescharakter als gemischte Gebiete, wie beispielsweise die Provinz Ninawa, wo sunnitische Stammesangehörige um Einfluss mit lokalen Persönlichkeiten, religiösen und ethnischen Führern und mächtigen Familien konkurrieren würden.

Die Lösung von Stammeskonflikten finde nicht im luftleeren Raum statt. Stammesverfahren und -verhandlungen würden von verschiedenen Faktoren beeinflusst, einschließlich des sozialen Status und der politischen Verbindungen der beteiligten Stämme, des Einflusses und der Verbindungen der Scheichs, des Geschlechts und des sozialen Status des Täters und des Opfers sowie jeglicher vergangener Fehden. Darüber hinaus bedeute die Natur dieses informellen Justizsystems, dass es keine offizielle Standardisierung von Entscheidungen gebe und das System manipulierbar sei. Stammesgesetze und -bräuche würden manchmal als Instrument verwendet, um Ressourcen zu gewinnen und Rache zu üben. (TCF, 7. November 2019)

France 24 merkt in einem Artikel vom Dezember 2019 an, dass in den letzten Jahren viele Schiiten urbaner geworden seien und als Resultat sich mehr von ihrer Stammesidentität distanziert hätten. Trotz allem seien Stämme stärker denn je. Das liege an der schwachen Zentralregierung und führe dazu, dass beschuldigte Kriminelle nach Stammesgesprächen freigelassen würden oder Mediatoren Ehestreitigkeiten beilegen würden. (France 24, 10. Dezember 2019)

Informationen zu Folgen bei Missachtung von Anweisungen eines hohen Stammesmitglieds bzw. bei Verlassen des Stammes finden Sie in folgender Anfragebeantwortung von ACCORD:

· ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Stamm al-Samarai: Folgen bei Missachtung von Anweisungen von hohem Stammesmitglied bzw. bei Verlassen des Stammes; Größe und Einfluss des Stammes [a-11083-1], 19. September 2019
https://www.ecoi.net/de/dokument/2016774.html

Der Clan der Al-Dulaimi – Macht und Ausbreitung

CRS liefert 2008 eine Kurzbeschreibung des Stammes. Die Dulaym würden zu einer großen Gruppe von Stämmen gehören, die ihren Ursprung bei den Zubaydi hätten. Der Stamm der Dulaym sei mit den Jannabiyin, Ubayd und anderen Konföderationen verbunden. Sie würden behaupten, ursprünglich aus Zentralarabien ausgewandert zu sein. Viele prominente Iraker würden den Nachnamen Dulaym tragen, was signalisiere, dass sie zu dieser breiten Stammeskonföderation gehören würden. Viele Dulaymi-Stämme und -Führer hätten die Herrschaft von Saddam Hussein unterstützt. Die Dulaym-Stämme würden hauptsächlich in der westlichen Provinz Al-Anbar in der Nähe von Ramadi leben. (CRS, 7. April 2008, S. 4)

Laut eines Artikels von Arab Weekly von 2015 sei der Dulaym-Clan einer der größten Iraks mit mehr als drei Millionen Mitgliedern. (AW, 9. Oktober 2015)

Global Security, eine US-amerikanische Denkfabrik, die sich mit Sicherheitsthemen beschäftigt, stellt eine Karte mit der Ausbreitung der verschieden großen Stämme im Irak zur Verfügung. Laut Global Security seien die Stämme der Dulaym in der gesamten Provinz Al-Anbar, westlich von Bagdad, vorherrschend. (Global Security, ohne Datum)

Khan präzisiert, dass der größte Teil der 2,5 Millionen Einwohner von Al-Anbar Sunniten seien und der Dulaym-Stammeskonföderation angehören würden. (Khan, 2007)

In einem Artikel von 2014 erwähnt Reuters, dass der Stamm der Dulaym zwischen zwei und vier Millionen Mitgliedern zähle. Wie es bei irakischen Stämmen üblich sei, würden die Mitglieder aus beiden Hauptkonfessionen kommen. Die meisten seien Sunniten und 300.000 bis 400.000 Mitglieder seien Schiiten. Die Dulaym seien in der westlichen Provinz AlAnbar zu finden, aber auch nördlich von Bagdad. Sie seien einer der größten Stämme im Irak und eine mächtige soziale, politische und wirtschaftliche Kraft mit Verbindungen zu königlichen Familien am Arabischen Golf sowie zur Elite Jordaniens. (Reuters, 4. August 2014)

1001 Iraqi Thoughts nennt einige der Stämme, die der Stammeskonföderation der Dulaim angehören: Albu Alwan, Albu Fahd, Albu Issa, Albu Assaf, Albu Nimr und Albu Jughaif. Der Stamm Albu Alwan habe auch eine schiitische Minderheit, von denen einige in Hilla, Provinz Babil, leben würden, obwohl der Stamm ursprünglich aus Al-Anbar sei. (1001 Iraqi Thoughts, 28. März 2016)

Einige der öffentlich bekannten Mitglieder der Dulaym-Konföderation sind der ehemalige Scheich der Dulaym, Hatem al-Suleiman, früherer Vorsitzender des Anbar's Tribes Revolutionary Council und Gründungsmitglied des Anbar Salvation Council, einer Schlüsselgruppe des sunnitischen Erwachens, die zusammengebrochen sei, nachdem der damalige Premierminister Nouri al-Maliki sich geweigert habe, die Gruppe in staatliche und militärische Institutionen aufzunehmen (Rudaw, 6. Juli 2014) sowie Saadoun al-Dulaimi, ein irakischer Politiker, aktueller Abgeordneter, Ex-Kulturminister und Ex-Verteidigungsminister des Irak.

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 26. März 2021)

?        1001 Iraqi Thoughts: The Civil Wars of Iraq’s Sunni Tribes: Fault Lines Within 8 Sunni Tribes and Sub-Tribes, 2003-2016, 28. März 2016
https://1001iraqithoughts.com/2016/03/28/the-civil-wars-of-iraqs-sunni-tribes-fault-lines-within-8-sunni-tribes-and-sub-tribes-2003-2016/

?        ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Stamm al-Samarai: Folgen bei Missachtung von Anweisungen von hohem Stammesmitglied bzw. bei Verlassen des Stammes; Größe und Einfluss des Stammes [a-11083-1], 19. September 2019
https://www.ecoi.net/de/dokument/2016774.html

?        AW – The Arab Weekly: Sunni tribes in Iraq and Syria split over ISIS, 09. Oktober 2015
https://thearabweekly.com/sunni-tribes-iraq-and-syria-split-over-isis

?        AW - The Arab Weekly: Iraqi tribes take law and justice into their own hands, 22. Jänner 2016
https://thearabweekly.com/iraqi-tribes-take-law-and-justice-their-own-hands

?        CFR – Council on Foreign Relations: IRAQ: The Role of Tribes, 19. März 2007
https://www.cfr.org/backgrounder/iraq-role-tribes

?        CRS – Congressional Research Service: Report for Congress: Iraq, Tribal Structure, Social, and Political Activities, 7. April 2008
https://digital.library.unt.edu/ark:/67531/metadc807312/m2/1/high_res_d/RS22626_2008Apr07.pdf

?        EASO – European Asylum Support Office: Iraq; Security situation, Oktober 2020
https://www.ecoi.net/en/file/local/2040056/10_2020_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation.pdf

?        France 24: As Iraqis protest against state, tribes make a comeback, 10. Dezember 2019
https://www.france24.com/en/20191210-as-iraqis-protest-against-state-tribes-make-a-comeback

?        Global Security: Tribes in Iraq, ohne Datum
https://www.globalsecurity.org/military/world/iraq/images/tribes.jpg

?        Khan, Jesmeen: The Iraqi Tribal Structure, Perspectives on Terrorism, Vol 1, No 1, 2007
http://www.terrorismanalysts.com/pt/index.php/pot/article/view/2/html

?        LSE – London School of Economics and Political Science: The King of Salah al-Din: The Power of Iraq’s Sunni Elites, Jänner 2021
http://eprints.lse.ac.uk/108541/1/Ali_Saleem_the_king_of_salah_al_din_published.pdf

?        Reuters: Special Report : The doubt at the heart of Iraq's Sunni 'revolution', 4. August 2014
https://www.reuters.com/article/us-iraq-security-alisuleiman-specialrepo-idUSKBN0G40OP20140804

?        Rudaw: Anbar Tribal Leader: Maliki Is ‘More Dangerous’ Than ISIS, 6. Juli 2014
https://www.rudaw.net/english/interview/06072014

?        Stolzoff, Sam G.: The Iraqi Tribal System, A Reference for Social Scientists, Analysts and Tribal Engagement, Graftman, 2009
https://www.academia.edu/23293647/THE_IRAQI_TRIBAL_SYSTEM

?        TCF – The Century Foundation: Tribal Justice in a Fragile Iraq, 7. November 2019
https://tcf.org/content/report/tribal-justice-fragile-iraq/?agreed=1

1.4.2. Auszug Länderinformationsblatt der Staatendokumentation

ISLAMISCHER STAAT (IS)

Letzte Änderung: 14.05.2020

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

Quellen:

?        ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020

?        ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (18.6.2019): Regional Overview – Middle East 18 June 2019, https://www.acleddata.com/2019/06/18/regional-overview-middle-east-18-june-2019/, Zugriff 13.3.2020

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?        UN General Assembly (30.7.2019): Children and armed conflict; Report of the Secretary-General [A/73/907–S/2019/509], https://www.ecoi.net/en/file/local/2013574/A_73_907_E.pdf, Zugriff 13.3.2020

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Sicherheitslage Bagdad

Letzte Änderung: 14.05.2020

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

[Anm.: Weiterführende Informationen zu den Demonstrationen können dem Kapitel 11.1.1 Protestbewegung entnommen werden.]

Quellen:

?        Al Monitor (11.3.2016): The rise of Islamic State sleeper cells in Baghdad, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/03/iraq-baghdad-belts-harbor-islamic-state.html, Zugriff 13.3.2020

?        ISW - Institute for the Study of War (2008): Baghdad Belts, http://www.understandingwar.org/region/baghdad-belts, Zugriff 13.3.2020

?        Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020

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?        Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020

?        Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020

?        Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020

?        Joel Wing, Musings on Iraq (5.8.2019): Islamic State’s Offensive Could Be Winding Down, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/08/islamic-states-offensive-could-be.html, Zugriff 13.3.2020

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Sicherheitslage Nord- und Zentralirak

Letzte Änderung: 14.05.2020

Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten (Joel Wing 3.2.2020), so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen (Joel Wing 2.12.2019).

In den sogenannten „umstrittenen Gebieten“, die sowohl von der Zentralregierung als auch von der kurdischen Regionalregierung (KRG) beansprucht werden, und wo es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Die Sicherheitsaufgaben in den „umstrittenen Gebieten“ werden zwischen der Bundespolizei und den Volksmobilisierungskräften (al-Hashd ash-Sha‘bi/PMF) geteilt (Rudaw 31.5.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Bei den zwischen Bagdad und Erbil „umstrittenen Gebieten“ handelt es sich um einen breiten territorialen Gürtel der zwischen dem „arabischen“ und „kurdischen“ Irak liegt und sich von der iranischen Grenze im mittleren Osten bis zur syrischen Grenze im Nordwesten erstreckt (Crisis Group 14.12.2018). Die „umstrittenen Gebiete“ umfassen Gebiete in den Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala. Dies sind die Distrikte Sinjar (Shingal), Tal Afar, Tilkaef, Sheikhan, Hamdaniya und Makhmour, sowie die Subdistrikte Qahtaniya and Bashiqa in Ninewa, der Distrikt Tuz Khurmatu in Salah ad-Din, das gesamte Gouvernement Kirkuk und die Distrikte Khanaqin und Kifri, sowie der Subdistrikt Mandali in Diyala (USIP 2011). Die Bevölkerung der „umstrittenen Gebiete“ ist sehr heterogen und umfasst auch eine Vielzahl unterschiedlicher ethnischer und religiöser Minderheiten, wie Turkmenen, Jesiden, Schabak, Chaldäer, Assyrer und andere. Kurdische Peshmerga eroberten Teile dieser umstrittenen Gebiete vom IS zurück und verteidigten sie, bzw. stießen in das durch den Zerfall der irakischen Armee entstandene Vakuum vor. Als Reaktion auf das kurdische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017, das auch die „umstrittenen Gebiete“ umfasste, haben die irakischen Streitkräfte diese wieder der kurdischen Kontrolle entzogen (Crisis Group 14.12.2018).

Gouvernement Ninewa

Der Islamische Staat (IS) hat seine Präsenz in Ninewa durch Kräfte aus Syrien verstärkt und führte seine Operationen hauptsächlich im Süden und Westen des Gouvernements aus (Joel Wing 3.5.2019). Er verfügt aber auch in Mossul über Zellen (Joel Wing 5.6.2019). Es wird außerdem vermutet, dass der IS vorhat in den Badush Bergen, westlich von Mossul, Stützpunkte einzurichten (ISW 19.4.2019).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Ninewa 40 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 33 Toten und 25 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es zwölf Vorfälle mit 35 Toten und 15 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Ninewa ereigneten sich im Süden des Gouvernements (Joel Wing 3.2.2020).

Gouvernement Diyala

Das Gouvernement Diyala zählt regelmäßig zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen und als die gewalttätigste Region des Irak (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 9.9.2019) und ist weiterhin ein Kerngebiet des IS (Joel Wing 3.2.2020). Trotz wiederholter Militäroperationen in Diyala kann sich der IS noch immer in den ausgedehnten Gebieten, die sich vom westlichen Teil Diyalas bis zu den Hamreen Bergen im Norden des Gouvernements erstrecken, sowie in den schwer zugänglichen Gebieten nahe der Grenze zum Iran halten (Xinhua 22.12.2019). Es kommt in Diyala regelmäßig zu Konfrontationen des IS mit Sicherheitskräften und zu Übergriffen auf Städte (Joel Wing 5.8.2019).

Der IS hat Zugang zu allen ländlichen Gebieten in Diyala (Joel Wing 5.8.2019), aus denen er einerseits Zivilisten vertreibt, um dort Basen zu errichten, und wo er anderseits wiederholt die lokale Verwaltung und Sicherheitskräfte angreift (Joel Wing 9.9.2019). So häufen sich Berichte über zunehmende Vertreibung von Zivilisten aus ländlichen Gebieten, beispielsweise aus den Bezirken Khanaqin und Jalawla, wegen der Bedrohung durch den IS und dem Unvermögen der Sicherheitskräfte (Irakische Armee/ISF und PMF) für deren Sicherheit zu sorgen (Joel Wing 25.11.2019; vgl. Rudaw 3.12.2019). Ein Hauptproblem Diyalas ist die mangelhafte Kommunikation zwischen den vielen unterschiedlichen Sicherheitsakteuren in der Region (Joel Wing 9.9.2019), andererseits gibt es generell zu wenige Sicherheitskräfte in Diyala, was der IS auszunutzen versteht (Joel Wing 5.8.2019). Die übrigen Vorfälle betrafen hauptsächlich den Norden und das Zentrum von Diyala. Im Süden und Westen gab es hingegen kaum sicherheitsrelevante Vorfälle (Joel Wing 9.9.2019).

Ende 2019 und Anfang 2020 hat der IS seinen Aktionsschwerpunkt verschoben. Während sich bisher die meisten Vorfälle im Distrikt Khanaqin, rund um die Städte Khanaqin und Jalawla, ereigneten, verlegte der IS seinen Fokus zunehmend auf das Zentrum des Gouvernements, insbesondere auf den Distrikt Muqdadiya (Joel Wing 6.1.2020; vgl. Joel Wing 3.2.2020), sowie auch in die westlichen Gebiete Diyalas. Diese Verlagerung wird im Zusammenhang mit einer Kampagne der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in Khanaqin gesehen. Damit zeigt der IS aber auch, dass er die Kapazität hat im gesamten Gouvernement aktiv zu werden (Joel Wing 3.2.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Diyala 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 65 Toten und 93 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Febraur 2020 waren es 24 Vorfälle mit 16 Toten und 27 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).

Gouvernement Salah ad-Din

Im Gouvernement Salah ad-Din ist der IS hauptsächlich in ländlichen Regionen aktiv. Im Dezember 2019 setzte der IS erstmals seit Mai 2019 wieder Autobomben ein (Joel Wing 6.1.2020). Drei derartige Attacken trafen Sicherheitskräfte der PMF (Joel Wing 6.1.2020; vgl. Rudaw 12.12.2019; Anadolu 13.12.2019), zusätzlich zu einem Vorfall mit einem Selbstmordattentäter mit Sprengstoffweste (Joel Wing 6.1.2020; vgl. NINA 29.12.2019).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Salah ad-Din 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 27 Toten und 42 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es sechs Vorfälle mit zehn Toten und vier Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Während die übrigen Vorfälle dem IS zugeschrieben werden, werden für zwei Vorfälle im Jänner 2020 - ein Raketen-, bzw. ein Mörserbeschuss auf den Militärstützpunkt Balad - pro-iranische PMF verantwortlich gemacht (Joel Wing 3.2.2020).

Gouvernement Kirkuk

Im Gouvernement Kirkuk gehen die Zahlen der sicherheitsrelevanten Vorfälle, bis auf wenige Spitzen, kontinuierlich zurück (Joel Wing 5.8.2019). Da der Süden Kirkuks nicht vollständig von IS-Kämpfern befreit wurde, kommt es insbesondere in dieser Region regelmäßig zu Angriffen (Joel Wing 3.2.2020). Wie im benachbarten Diyala handelte es sich bei Vorfällen in Kirkuk meist um Schießereien, Angriffe auf Kontrollpunkte, Überfälle auf Städte und Vertreibungen aus ländlichen Gebieten, wobei sich der IS auf den Süden des Gouvernements Kirkuk konzentrierte. Unter anderem wurden eine Polizeistation und ein Armeestützpunkt angegriffen, sowie ein Polizeihauptquartier mit Mörsern beschossen (Joel Wing 16.10.2019). Im Dezember 2019 hat der IS einen falschen Kontrollpunkt entlang der Straße von Tikrit nach Kirkuk eingerichtet, an dem er sechs Zivilisten hinrichtete (Joel Wing 6.1.2020). Neun der 13 Vorfälle im Jänner 2020 ereigneten sich im Süden, wo der IS im Gouvernement seine Basis hat (Joel Wing 3.2.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Kirkuk 39 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 41 Toten und 60 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es acht Vorfälle mit sieben Toten und zwölf Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Während die übrigen Vorfälle dem IS zugeschrieben werden, werden für je einen Vorfall im Jänner und Februar 2020 pro-iranische PMF verantwortlich gemacht (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Gouvernement Anbar

Das Gouvernement Anbar, früher ein IS-Zentrum und Schwerpunkt der IS-Aktivitäten, wird nun hauptsächlich für den Transit von IS-Kämpfern zwischen dem Irak und Syrien genutzt (Joel Wing 16.10.2019; vgl. Joel Wing 3.2.2020). Die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Anbar hat bis Mitte 2019 stark fluktuiert (Joel Wing 5.8.2019) und ab Mitte 2019 hat sich Anbar zu einem sekundären Schauplatz entwickelt, mit einem Rückgang der Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle im einstelligen Bereich (Joel Wing 3.2.2020).

Im November 2019 gab es im Gouvernement Anbar keine sicherheitsrelevanten Vorfälle. Im Dezember 2019 waren es fünf Vorfälle mit zwölf Toten und zwei Verletzten (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 war Anbar mit einer Steigerung von fünf Vorfällen im Dezember 2019 auf sieben im Jänner 2020, mit acht Toten und 76 Verletzten das einzige Gouvernement mit einer Zunahme an sicherheitsrelevanten Vorfällen, mit einer Steigerung von fünf Vorfällen. Zu diesen Vorfällen zählen der iranische Raketenangriff auf die Militärbasis Ain Al-Assad, bei dem 64 amerikanische Soldaten verwundet wurden, ein Angriff mit einer Autobombe (VBIED) gegen einen Armeekonvoi, Entführungen und Angriffe mit Schusswaffen (Joel Wing 3.2.2020; vgl. BasNews 16.1.2020). Im Februar 2020 waren es fünf Vorfälle mit je zwei Toten und Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).

Quellen:

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Minderheiten

Letzte Änderung: 14.05.2020

Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten faktisch unter weitreichender Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 12.1.2019). Mitglieder bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen erleiden in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen, häufig Diskriminierung oder Verfolgung, was viele dazu veranlasst, Sicherheit in anderen Stadtteilen oder Gouvernements zu suchen (FH 4.3.2020). Es gibt Berichte über rechtswidrige Verhaftungen, Erpressung und Entführung von Angehörigen von Minderheiten, wie Kurden, Turkmenen, Christen und anderen, durch PMF-Milizen, in den umstrittenen Gebieten, insbesondere im westlichen Ninewa und in der Ninewa-Ebene (USDOS 11.3.2020).

Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60-65% der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17-22%) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15-20%) (AA 12.1.2019). Genaue demografische Aufschlüsselungen sind jedoch mangels aktueller Bevölkerungsstatistiken sowie aufgrund der politisch heiklen Natur des Themas nicht verfügbar (MRG 5.2018). Zahlenangaben zu einzelnen Gruppen variieren oft massiv (siehe unten).

Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Kurdischen Region im Irak (KRI), oft benachteiligt. Zudem ist nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins die irakische Gesellschaft teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen – eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräuel gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Gepaart mit der extremen Korruption im Lande führt diese Spaltung der Gesellschaft dazu, dass im Parlament, in den Ministerien und zu einem großen Teil auch in der nachgeordneten Verwaltung, nicht nach tragfähigen, allgemein akzeptablen und gewaltfrei durchsetzbaren Kompromissen gesucht wird, sondern die zahlreichen ethnisch-konfessionell orientierten Gruppen oder Einzelakteure ausschließlich ihren individuellen Vorteil suchen oder ihre religiös geprägten Vorstellungen durchsetzen. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit existieren nicht (AA 12.1.2019).

Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des IS standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäer-Sabäern, Kaka‘i, Schabak und Christen. Aus dieser Zeit liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert (AA 12.1.2019).

In der KRI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden (AA 12.1.2019; vgl. KAS 8.2017). Mit der Verabschiedung des Gesetzes zum Schutze der Minderheiten in der KRI durch das kurdische Regionalparlament im Jahr 2015 wurden die ethnischen und religiösen Minderheiten zumindest rechtlich mit der kurdisch-muslimischen Mehrheitsgesellschaft gleichgestellt. Dennoch ist nicht immer gewährleistet, dass die bestehenden Minderheitsrechte auch tatsächlich umgesetzt werden (KAS 8.2017). Es gibt auch Berichte über die Diskriminierung von Minderheiten (Turkmenen, Arabern, Jesiden, Schabak und Christen) durch KRI-Behörden in den sogenannten umstrittenen Gebieten (USDOS 13.3.2019). Darüber hinaus empfinden dort Angehörige von Minderheiten seit Oktober 2017 erneute Unsicherheit aufgrund der Präsenz der irakischen Streitkräfte und v.a. der schiitischen Milizen (AA 12.1.2019).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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