TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/30 L502 2168432-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.09.2021
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Entscheidungsdatum

30.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


L502 2168432-1/11E

L502 2168431-1/12E

L502 2168442-1/10E

L502 2168435-1/10E

L502 2168439-1/10E

L502 2168430-1/10E

L502 2168429-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Nikolas BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX , 5.) XXXX , geb. XXXX , 6.) XXXX , geb. XXXX und 7.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Irak und vertreten durch XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.07.2017, FZ. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.07.2021 zu Recht erkannt:

A)

1.       Die Beschwerden werden hinsichtlich der Spruchpunkte I., II. und III., erster Satz, als unbegründet abgewiesen.

2.       Den Beschwerden wird hinsichtlich Spruchpunkt III., zweiter Satz, stattgegeben und festgestellt, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen XXXX gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.

3.       Gemäß § 55 Abs. 1 Z. 1 AsylG wird XXXX jeweils eine „Aufenthaltsberechtigung“ erteilt.
Gemäß § 55 Abs. 1 Z. 2 AsylG wird XXXX eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt.

4.       Die Spruchpunkte III., dritter Satz, und IV. werden jeweils ersatzlos behoben.

B)       

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin (BF1) und ihr Ehegatte, der Zweitbeschwerdeführer (BF2), stellten im Gefolge ihrer illegalen Einreise in das Bundesgebiet am 03.08.2015 für sich sowie für ihre vier minderjährigen Kinder, den Drittbeschwerdeführer (BF3), den Viertbeschwerdeführer (BF4), den Fünftbeschwerdeführer (BF5) und den Sechstbeschwerdeführer (BF6), jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 04.08.2015 erfolgten die Erstbefragungen der BF1 und des BF2 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes.

In weiterer Folge wurden ihre Verfahren zugelassen und an der Regionaldirektion Kärnten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) weitergeführt.

3. Die BF1 stellte als gesetzliche Vertreterin des in Österreich nachgeborenen Siebtbeschwerdeführers (BF7) für diesen einen schriftlichen Antrag auf internationalen Schutz im Rahmen des Familienverfahrens, welcher unter gleichzeitiger Vorlage einer Kopie seiner Geburtsurkunde am 10.04.2017 beim BFA einlangte.

4. Am 28.06.2017 wurden die BF1 und der BF2 vor dem BFA zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz einvernommen, dabei legten sie für sich und für die BF3 bis BF5 Identitätsnachweise vor.

5. Am 28.06.2017 wurden die Geburtsdaten des BF3, des BF4 und des BF5 entsprechend ihrer vorgelegten Personalausweise durch das BFA geändert.

6. Mit den im Spruch genannten Bescheiden der belangten Behörde vom 27.07.2017 wurden die Anträge von BF1, BF2, BF3, BF4, BF5, BF6 und BF7 auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurden die Anträge auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihnen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihnen eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt IV.).

7. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 27.07.2017 wurde den Beschwerdeführern von Amts wegen gemäß § 52 BFA-VG ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.

8. Gegen die am 31.07.2017 zugestellten Bescheide wurden mit Schriftsatz ihrer zugleich bevollmächtigten Vertretung vom 10.08.2017, beim BFA eingelangt am 11.08.2017, fristgerecht Beschwerden in vollem Umfang erhoben.

9. Mit 23.08.2017 langten die Beschwerdevorlagen des BFA beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurden die gg. Beschwerdeverfahren der nunmehr zuständigen Abteilung des Gerichts zur Entscheidung zugewiesen.

10. Am 15.01.2021 und am 08.02.2021 zeigten die Beschwerdeführer ihre nunmehrige Vertretung durch XXXX an.

11. Am 12.07.2021 brachte ihre Vertretung mehrere Beweismittel in Vorlage.

12. Am 23.07.2021 führte das BVwG eine mündliche Verhandlung in den Rechtssachen der Beschwerdeführer durch, in der die BF1 und der BF2 zu ihren Antragsgründen persönlich gehört wurden.

Ihnen wurden auch Länderberichte zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat zur Kenntnis gebracht und diese in das Verfahren eingebracht. Die Beschwerdeführer legten weitere Integrationsnachweise vor.

13. Das BVwG erstellte Auszüge aus dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR), dem Betreuungsinformationssystem, dem AJ-Web, dem Strafregister sowie dem Zentralen Melderegister (ZMR).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Identität der Beschwerdeführer steht jeweils fest. Sie sind irakische Staatsangehörige und gehören der arabischen Volksgruppe sowie der sunnitischen Glaubensgemeinschaft des Islams an. Sowohl die BF1 als auch der BF2 wurden in XXXX in der Provinz XXXX geboren. BF1 und BF2 sind Verwandte und schlossen am 18.03.2007 in XXXX die Ehe. Aus der Ehe stammen die drei in den Jahren 2008, 2009 und 2012 im Irak geborenen Söhne, der BF3, der BF4 und der BF5, der im Jahr 2015 in der Türkei geborene Sohn, der BF6, sowie der im Jahr 2017 in Österreich geborene Sohn, der BF7. BF1 bis BF5 lebten bis zu ihrer Ausreise aus dem Irak gemeinsam mit der Familie des BF2 in einem Eigenheim in XXXX , im Bezirk XXXX .

Die BF1 besuchte im Irak sechs Jahre die Grundschule und übte keine berufliche Tätigkeit aus. Der BF2 besuchte sechs Jahre die Grundschule und zwei Jahre die Mittelschule. Im Alter von 12 oder 13 Jahren begann er in einem Supermarkt zu arbeiten. Er war dort für etwa vier oder fünf Jahre beschäftigt. Danach hat er für einen Cousin in einem Restaurant drei oder vier Jahre gearbeitet. Zuletzt war er selbständig erwerbstätig. Er eröffnete im Jahr 2009 gemeinsam mit seinen beiden Brüdern ein Restaurant mit fünf Angestellten. Sie führten das Restaurant bis zu ihrer Flucht im Jahr 2015. Er verdiente als Selbständiger monatlich etwa XXXX .

Die Eltern der BF1 sowie vier Brüder und vier Schwestern von ihr und deren Familien leben unbehelligt im Bezirk XXXX . Der Vater der BF1 war zuletzt als LKW-Fahrer tätig. Ihre Brüder arbeiten alle in verschiedenen Restaurants, finanzieren damit den Lebensunterhalt ihrer Familien und unterstützen auch die Eltern der BF1. Ihre Mutter und ihre Schwestern sind nicht erwerbstätig. Weiter leben in XXXX zwei Onkel und vier Tanten mütterlicherseits sowie zwei Tanten väterlicherseits. Die BF1 steht mit ihren Eltern und ihren Geschwistern in Kontakt.

Der Vater des BF2 ist bereits verstorben. Seine Mutter sowie seine zwei Brüder und zwei seiner Schwestern leben mit ihren Familien als subsidiär Schutzberechtigte in Österreich. Eine weitere Schwester lebt in der Türkei. In Österreich ist auch ein Onkel mütterlicherseits aufhältig. Eine Tante mütterlicherseits ist in Kroatien wohnhaft. In der Provinz XXXX leben ein Onkel und zwei Tanten mütterlicherseits sowie zwei Tanten und ein Onkel väterlicherseits. Zwei Tanten mütterlicherseits leben in XXXX . Im Irak leben auch zahlreiche Neffen und Nichten.

Am 28.02.2015 verließen BF1, BF2, BF3, BF4 und BF5 gemeinsam mit der Mutter des BF2 und seinen beiden Brüdern, seiner Schwester und deren Familienangehörigen den Irak. Sie überquerten den Grenzübergang zwischen Irak und Syrien in XXXX und gelangten über diesen Weg zur damals in der syrischen Stadt XXXX wohnhaften Schwester des BF2. Von dort setzten sie schlepperunterstützt ihren Weg in die Türkei fort. Nach einem fünfmonatigen Aufenthalt in der Türkei setzten sie auf die griechische Insel Samos über, reisten von dort nach Athen und auf dem Landweg weiter bis Österreich, wo sie am 03.08.2015 ihre Anträge auf internationalen Schutz stellten und sich seither aufhalten.

BF1 und BF2 sprechen Arabisch als Muttersprache. Die BF1 hat keinen Deutschkurs besucht und auch keine Sprachprüfungen abgelegt. Der BF2 hat am 20.12.2019 an einer Integrationsprüfung des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) auf dem Sprachniveau A1 teilgenommen, diese jedoch nicht bestanden. Er war bei einem A1 Deutschkurs von 18.02.2020 bis 08.05.2020 angemeldet. BF1 und BF2 verfügen über keine nennenswerten Deutschkenntnisse.

Der BF2 hat im Zeitraum Juni bis Juli 2020 gemeinnützige Hilfstätigkeiten für eine Gemeinde erbracht. BF1 und BF2 erbringen Hilfstätigkeiten im Rahmen ihrer organisierten Unterbringung. Sie sind in Österreich bisher noch keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nachgegangen. Alle Beschwerdeführer beziehen für ihren Lebensunterhalt seit der Einreise bzw. Geburt Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und wohnen in einer organisierten Unterkunft.

Der BF3 und der BF4 besuchten zuletzt die fünfte Schulstufe einer Mittelschule und wurden im Schuljahr 2020/2021 im Unterrichtsgegenstand „Deutsch“ jeweils mit der Note 4 beurteilt. Der BF5 besuchte zuletzt die zweite Klasse einer Volksschule. Der BF6 geht in den Kindergarten. Der vierjährige BF7 wird zu Hause betreut.

BF1 und BF2 sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Die minderjährigen Beschwerdeführer sind strafunmündig.

Die Beschwerdeführer sind gesund und leiden an keinen gravierenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen. BF1 und BF2 sind voll erwerbsfähig.

1.2. Die Beschwerdeführer sind bei einer Rückkehr in den Irak nicht aus individuellen Gründen einer Verfolgung durch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) oder schiitische Milizen ausgesetzt.

1.3. Die Beschwerdeführer sind bei einer Rückkehr in den Irak auch nicht aus sonstigen individuellen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt und finden dort eine hinreichende Existenzgrundlage vor.

1.4.1. Al-Anbar ist die größte Provinz des Irak und macht rund ein Drittel des gesamten Staatsgebiets des Irak aus. Ungeachtet seiner Größe ist al-Anbar aufgrund seiner großen Wüstengebiete eine der am dünnsten besiedelten Regionen des Landes. Die Provinz umfasst sieben Bezirke: Ana, Falludscha, Haditha, Heet, al-Qa‘im, Ramadi und ar-Rutba. Hauptstadt von al-Anbar ist Ramadi. Al-Anbar grenzt an drei andere Länder, nämlich Syrien im Westen und Nordwesten, Jordanien im Westen und Saudi-Arabien im Südwesten.

Bevölkerung

Für 2019 schätzte die irakische CSO (Zentrale Statistikorganisation) die Bevölkerung der Provinz auf 1 818 318.240 Die Einwohnerzahl der Provinzhauptstadt Ramadi wurde 2007 auf 148 598 geschätzt.

Ethnische Zugehörigkeit

Die Provinz wird überwiegend von sunnitischen Arabern bewohnt, ist aber auch Heimat für eine kleine christliche Minderheit. Das gesellschaftspolitische Gefüge von al-Anbar basiert seit jeher auf lokalen Hierarchien und verfügt über eine ausgeprägte Stammesstruktur, in der Stammesführer und sunnitische Geistliche in lokalen Angelegenheiten noch immer große Autorität genießen. Nach dem Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 sind viele Stammesälteste – Scheichs – aus dem Land geflohen. Dies eröffnete neuen Scheichs die Gelegenheit, selbst Macht und Ansehen aufzubauen, indem sie „mit den Koalitionskräften zusammenarbeiteten und Wiederaufbauprojekte sowie Beschäftigung für ihre Stämme sicherten“.

Straßensicherheit

Verschiedene militärische Gruppen und Sicherheitsakteure sorgten für die Sicherheit in der Provinz al-Anbar; zu ihnen gehörten die ISF, die Polizei, lokale und externe PMU einschließlich schiitischer und sunnitischer Stammesmilizen. Einem Bericht von Al Monitor zufolge „ist in der Provinz al-Anbar eine Vielzahl von Kontrollpunkten verstreut, an denen unterschiedliche Sicherheitskräfte tätig sind. Diese behindern das Fortkommen und sorgen aufgrund der ineffektiven Kommunikation zwischen den diensthabenden Verantwortlichen für Verwirrung über ihre Zuständigkeiten.“ 2019 und auch 2020 wurden weiterhin gelegentliche Anschläge durch aufständische Gruppen einschließlich ISIL auf Straßen und an Kontrollstellen in der Provinz al-Anbar gemeldet. Laut Angaben von iMMAP im Juni 2020 gab es Meldungen zu explosionsgefährlichen Stoffen auf Straßen in der Provinz al-Anbar in und um Rutbah, Falludscha, Ramadi, Heet und auf der Straße zwischen al-Qa‘im und dem Grenzübergang.

Zwei der drei offiziellen Grenzübergänge zwischen Irak und Syrien liegen in der Provinz al-Anbar, der Übergang al-Qa‘im-Bukamal und der Übergang Tanf-Walid weiter südlich, die Berichten vom März 2020 zufolge geschlossen blieben. Der Grenzübergang zwischen Irak und Syrien in al-Qa’im wurde von der irakischen Regierung am 30. September 2019 geöffnet und unterstand der Kontrolle durch die Grenzpolizei, auch wenn verschiedene PMU weiterhin Präsenz rund um den Hauptkontrollpunkt zeigten. Der Grenzübergang Turaybil-Karameh zu Jordanien sowie der Grenzübergang Arar zu Saudi-Arabien sind ebenfalls in der Provinz al-Anbar gelegen. Medienberichten zufolge war der Grenzübergang Turaybil-Karameh 2019 in Betrieb, während der Übergang Arar geschlossen blieb, seine Wiedereröffnung aber für Oktober 2020 geplant war. Der Grenzübergang Arar und die in seiner Nähe gelegene Stadt Al-Nukhaib wurden von PMU kontrolliert, darunter die irakischen Hisbollah-Brigaden, Al-Najaba, Khorasani und Imam Ali.

In einem Bericht des USDOS von 2020 heißt es: „Bei der Grenzsicherung bestand nach wie vor eine kritische Fähigkeitslücke, da die ISF nur über begrenzte Fähigkeiten verfügen, die Grenzen Iraks zu Syrien und Iran umfassend zu sichern.“ Die Grenze mit Syrien südlich der KRI blieb durchlässig und bot sich an für Aktivitäten des ISIL und anderer terroristischer Netzwerke sowie für Schmuggel und andere strafbare Aktivitäten. Von Iran unterstützte PMU erhielten ihre Präsenz an den größeren Grenzübergängen des Irak aufrecht. Berichten aus dem Jahr 2019 zufolge operierten Einheiten der Kataib Hisbollah entlang der Grenze und unterhielten Kontrollpunkte an der Grenzstraße (Fernstraße 20). Derselben Quelle zufolge kontrollierte Kataib Hisbollah auch den Einreisepunkt Husseibah und wurden die Grenzübergänge Akashat über einen Stützpunkt der Kataib Hisbollah am Flugfeld H-3 nahe Rutbah koordiniert.

Wirtschaft

In der Zeit vor dem ISIL fand rund ein Viertel der Bevölkerung der Provinz al-Anbar Beschäftigung in der Landwirtschaft. Gemäß dem Carnegie Endowment Report vom März 2020 hat die Kataib Hisbollah große Teile landwirtschaftlicher Flächen mit rund 1 600 landwirtschaftlichen Betrieben im Gebiet Masharii an der Südseite von al-Qa‘im in eine militärische Zone umgewandelt und allen örtlichen Bauern die Nutzung verboten. Mitglieder des Gemeinderats von al-Qa‘im haben sich über die wirtschaftlichen Verluste für die Gemeinschaft beschwert, zumal rund 40 % der örtlichen Bevölkerung ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft verdienen.

1.4.2. Hintergrund des Konflikts und bewaffnete Akteure in der Provinz

Im Zeitraum von kurz nach der 2003 unter Führung der USA erfolgten Invasion in Irak bis 2006 galt die Provinz al-Anbar als Zentrum einer anhaltenden sunnitischen Aufstandsbewegung gegen die US-Streitkräfte. Gegen Ende 2006 taten sich sunnitische Stämme in Ramadi zu einer Bewegung zusammen, der „al-Anbar Erwachungsbewegung“, die zum Partner der US-Streitkräfte im Kampf gegen Al-Qaida wurde und Mitte 2007 zur Niederlage der aufständischen Gruppe in Ramadi beitrug. Die Erwachungsbewegung verbreitete sich in der übrigen Provinz und anderen Teilen Iraks, woraufhin es zu einem Rückgang der Gewalt und einer Zeit vergleichsweiser Ruhe und Stabilität in al-Anbar kam.

Vor dem Hintergrund des Rückzugs der US-Streitkräfte aus Irak Ende 2011 begann sich der ISIL verstärkt in Ramadi, Falludscha und verschiedenen Städten in der Provinz al-Anbar zu zeigen. Im Dezember 2013 eskalierten nach der Verhaftung von Ahmed al-Alwani, einem Politiker aus al-Anbar, Zusammenstöße zwischen sunnitischen Stammesmilizen und der irakischen Armee. Am 1. Januar 2014 übernahm der ISIL die Kontrolle über die Städte der Provinz und verließen die ISF weitgehend fluchtartig ihre Stellungen. Ohne eine geeinte Opposition überrannte der ISIL Kontrollpunkte und Posten der Polizei überall in der Provinz al-Anbar und übernahm er die Kontrolle über große Teile der Provinz, darunter Rutba, al-Qa‘im, Heet und die Hauptstadt Ramadi. Operationen des US-Militärs wurden wieder aufgenommen nach dem Eindringen des ISIL in Mossul im Juni 2014, wobei US-Streitkräfte Ende 2014 in den Luftwaffenstützpunkt al-Asad in al-Anbar zurückkehrten.

Nach einer Reihe langwieriger Kämpfe mit Unterstützung durch das US-Militär zwischen Dezember 2015 und Juni 2016 eroberte die irakische Regierung Falludscha und Ramadi unter erheblicher Schwächung des ISIL zurück. Die Militäroffensive zur Rückeroberung von ISIL-Territorium wurde im November 2017 mit der Rückeroberung von Rawa abgeschlossen, der letzten vom ISIL kontrollierten Stadt.

Die Herrschaft des ISIL und seine militärischen Operationen zur Wiedergewinnung der Kontrolle über al-Anbar hinterließen von Zivilpersonen bewohnte Gebiete mit „weitgehender Zerstörung öffentlichen und privaten Eigentums“ zurück und lösten mehrere Wellen von Massenvertreibung aus. Fast eine halbe Million Menschen floh zwischen Januar und Mai 2014 vor dem Vorrücken des ISIL, und eine zweite Vertreibungswelle entstand 2015/2016 aufgrund der militärischen Kampagne zur Rückeroberung von Gebieten vom ISIL. Bis Juni 2020 kehrten mehr als 1,5 Millionen Menschen in die Provinz al-Anbar zurück, in der es nach Angaben der IOM zu Spannungen zwischen denen kam, die während des ursprünglichen Vorrückens des ISIL geflohen waren, und denen, die anfänglich dageblieben waren und erst später flohen.

Bis November 2018 wurden in der Provinz al-Anbar 24 weitere Massengräber entdeckt, von denen viele die sterblichen Überreste von Zivilisten und Angehörigen der ISF enthielten. Im Dezember 2019 wurde ein Massengrab in der Nähe der Stadt Falludscha mit den Leichnamen von 643 sunnitischen arabischen Zivilpersonen entdeckt, die vermutlich dem Stamm der Al Muhamdah angehörten und 2016 verschwanden, nachdem ihre Gebiete von schiitischen Milizen übernommen worden waren, die unter der Flagge der PMU kämpften. Berichten zufolge wurde von den irakischen Behörden eine Untersuchung eingeleitet.

Bewaffnete Akteure

Irakische Sicherheitskräfte (ISF) und mit ihnen verbundene Gruppen

Die ISF tragen über die regionalen Einsatzkommandos die Gesamtverantwortung für die Sicherheit in der Provinz. Laut einem ISW-Bericht von 2017 über die irakische Gefechtsgliederung sollen Berichten zufolge regionale Einsatzkommandos in Irak als Hauptquartiere auf regionaler Ebene fungieren und in einem bestimmten Zuständigkeitsgebiet für das Kommando und die Aufsicht über verschiedene ISF-Einheiten verantwortlich sein. Die Provinz al-Anbar war aufgeteilt zwischen dem Einsatzkommando al-Anbar (Anbar Operations Command, AOC), zuständig für Ramadi und Falludscha und die sie umgebenden Wüstengebiete, und dem Einsatzkommando Jazeera und Badia (Jazeera and Badia Operations Command, JBOC), zuständig für den größten Teil der Provinz al-Anbar westlich von Ramadi, einschließlich des westlichen Euphrat-Tals, des westlichsten Bezirks Rutba, der Fernstraße zwischen Amman und Bagdad und eines Großteils der Jazeera- und Badia-Wüsten. Das JBOC war Berichten zufolge unterbesetzt und daher in hohem Maße von der Unterstützung der Kämpfer des lokalen Stammes der Jughaifi abhängig, die den Bezirk Haditha beanspruchen. Neben dem AOC und dem JBOC haben die ISF weitere Einsatzkommando-Einheiten aus dem ganzen Land in al-Anbar stationiert.

Einige Teile der Provinz al-Anbar, insbesondere entlang der syrischen und iranischen Grenze mit großen Wüstengebieten, gelten jedoch als „schwer kontrollierbar“. Die ISF bestehen in erster Linie aus Einheiten der Armee, der Bundespolizei und der mobilen Abteilung für Notfallmaßnahmen. Nach Medienberichten von 2018/2019 gab es Pläne, die Kontrolle der Sicherheit schrittweise von den ISF auf die lokale und föderale Polizei zu übertragen, auch in der Provinz al-Anbar. Es sollten Berichten zufolge Grenzschutzeinheiten in der Provinz al-Anbar an den Grenzübergängen zu Syrien, Jordanien und Saudi-Arabien eingesetzt werden.

Streitkräfte der Vereinigten Staaten (USA) und internationale Streitkräfte

Im März 2020 sollen Berichten zufolge US-Streitkräfte weiterhin zwei Militärstützpunkte in der Provinz al-Anbar in der Nähe der irakisch-syrischen Grenze betrieben haben, einen in Tanf-Walid im Bezirk ar-Rutbah und den anderen in Ain al-Asad in der Nähe des Bezirks Baghdadi. Ferner waren US-Streitkräfte früher, während des Feldzugs gegen den ISIL, nahe des alten Bahnhofs in al-Qa‘im stationiert, wurden aber seit Mitte März 2020 auf einen anderen Stützpunkt in Kirkuk verlegt. Der Stützpunkt al-Qa‘im wurde Ende März 2020 von den ISF übernommen.

Volksmobilisierungseinheiten (PMU)

Viele der Regierung zugehörige PMU sowie Milizen mit engeren Verbindungen zu Iran sind nahe al-Qa‘im in der Nähe der syrisch-irakischen Grenze aktiv. Laut dem Bericht 2019 von Michael Knights wird der Unterabschnitt Akashat von den Brigaden Allah al-Tawfiya (PMU-Brigade 19), Liwa al-Tafuf (PMU-Brigade 13) und Saraya Talia al-Khurasani (PMU-Brigade 18) mit Beschlag belegt. Der Unterabschnitt Husseibah/al-Qa‘im wurde im Wesentlichen von Liwa al-Tafuf (PMU-Brigade 13) mit Beschlag belegt. Der Kommandeur von Liwa al-Tafuf, Qasim Muslih, stand auch an der Spitze der PMU Western Anbar Axis, der Sektor-Hauptquartier für alle PMU-Operationen entlang der Grenze und in Rutbah war. Liwa al-Tafuf und Kataib Hisbollah kontrollierten gemeinsam alle Schmuggel- und Handelsaktivitäten über die Grenze.

Michael Knights berichtete ferner, dass das Euphrat-Tal, das sich hinunter zum östlichen Teil der Provinz al-Anbar erstreckt, überwiegend unter der Kontrolle von ISF und Liwa al-Muntadher (PMU-Brigade 7) und Kataib Ansar al-Hujja (PMU-Brigade 29) stand. 2019 berichtete die gleiche Quelle, dass sich am östlichen Ende dieses Gebiets der über den Euphrat führende Grenzübergang Husseibah befindet, und zwar gegenüber den Albu Kamal-Gebieten in Syrien, wo PMU wie Kataib Hisbollah (PMU-Brigade 45), Kataib Al-Imam Ali (PMU-Brigade 40) und Harakat al-Abdal (PMU-Brigade 39) Kampftruppen unterhielten. Kataib Hisbollah (PMU-Brigade 45) kontrollierte die Straße zwischen al-Qa‘im und Akashat in Richtung Südwesten. Qassim Musleh ist der Anführer der PMU für den westlichen Teil von al-Anbar und damit der Kataib Hisbollah-Brigaden. Einige Einheiten der Kataib Hisbollah sind formell in die von der Regierung bezahlten PMU eingegliedert worden, doch stehen die meisten Einheiten nicht unter staatlicher Kontrolle.

In Berichten heißt es, dass die Vielzahl der Sicherheitsakteure und hier vor allem der im Westen der Provinz al-Anbar operierenden PMU sich häufig untereinander nicht abspricht, dass es „zu Verwirrung kommt“, sie keine einheitliche Sicherheitsstrategie verfolgen und somit bei der örtlichen Bevölkerung Bedenken und Misstrauen hervorrufen. Medienberichten zufolge „war lange Zeit nur schwer zu bestimmen, über welche Präsenz, welche Mannstärke und welchen relativen Einfluss die verschiedenen Sicherheitskräfte verfügen, und zwar sowohl die der Zentralregierung unterstehenden als auch die anderen Akteuren unterstehenden“, und weiter: „Angehörige der Zivilbevölkerung haben sich bei Al-Monitor bei mehreren Besuchen in dem Gebiet nach dessen Befreiung von der Herrschaft des Islamischen Staats im November 2017 wiederholt über die verwirrende Vielfalt von Sicherheitskräften beschwert, von denen einige keinerlei Abzeichen, wohl aber Waffen tragen.“

Sunnitische Stammesmilizen

Sunnitische Stammesstreitkräfte wurden seit 2014 im Rahmen des Kampfes gegen den ISIS in Irak mobilisiert und in die PMU integriert. Die Initiative wurde teilweise von den USA gefördert, und die Streitkräfte sind unter dem Namen Tribal Mobilization Force (TMF) oder Stammes-haschd in den Provinzen al-Anbar und Ninawa bekannt, denen zufolge Stammesstreitkräfte nach einer Rückeroberung von Gebieten vom ISIL dort die Rolle lokaler „Sicherungs“-Streitkräfte spielen sollten.

Nach Angaben des Anführers der Stammesstreitkräfte in der Provinz al-Anbar, Scheich Qatari Samarmad al-Obeidi, waren dort im Juni 2019 schätzungsweise 10 000 besoldete Mitglieder der TMF stationiert. Ferner waren ungefähr 7 500 Kämpfer im Osten der Provinz al-Anbar registriert, darunter in Ramadi und Falludscha, während 2 500 Kämpfer in den westlichen Bezirken der Provinz wie Heet, Haditha und al-Qa‘im stationiert waren. Eine der größeren dieser Gruppen soll Berichten zufolge die Hamza-Brigade unter der Führung von Rabah al-Mahallawi sein, bestehend aus Angehörigen des Stammes der Bou Mahal, die nahe Husseibah eingesetzt wurden. Die andere ist die Upper Euphrates Brigade, die mit dem Stamm Karbuli verbunden ist und von Musa al-Karbuli und Assif Ibrahim al-Karbuli angeführt wird. Berichten zufolge soll die Brigade in Karabla und in der Nähe des Akkas-Erdgasfelds eingesetzt worden sein.

Nach Angaben des Anführers der Stammesstreitkräfte in al-Anbar, Scheich Qatari Samarmad al-Obeidi, hatten bis Juni 2019 weitere 4 000 Kämpfer in der Provinz al-Anbar zuvor eine militärische Ausbildung erhalten und waren im Besitz einer behördlichen Anordnung, die sie als offizielle Kämpfer bezeichnete, doch gehörten sie nicht zu den offiziellen TMF und erhielten auch keinen Sold. Diese Kämpfer sollten in die TMF aufgenommen werden und einen Sold von der irakischen Regierung erhalten.

ISIL

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen führte im Februar 2020 aus: „Zwar hat das Gesamtausmaß der Gewalt im Zusammenhang mit dem ISIL abgenommen, doch stellt die Gruppe nach wie vor eine erhebliche Bedrohung dar und hat sie sich in ihrer Taktik auf Aufstände mit weiterhin in verschiedenen Teilen des Landes verübten Anschlägen verlegt.“ Leerräume in der Sicherheit, hervorgerufen durch den Einsatz von ISF bei Protesten gegen die Regierung, den COVID-19-Lockdown sowie den Abzug eines Großteils der US-Streitkräfte aus Irak wurden vom ISIL Berichten zufolge ausgenutzt, um an Stärke zu gewinnen und sich in Teilen des Irak, darunter die Provinz al-Anbar, neu zusammenzufinden. Berichten zufolge verübt der ISIL weiterhin in entlegenen Gebieten Iraks Anschläge auf offizielle Kontrollpunkte, Infrastruktur und Amtsträger. Der verstorbene Husham al-Hashimi, ein führender irakischer Sicherheitsanalyst, bezeichnete die Operationen des ISIL in der ersten Jahreshälfte 2020 als „Mordkampagne“. Das Stockholmer Internationale Institut für Friedensforschung berichtet im Juni 2020, die geografische Ausdehnung und die Aktivitäten des ISIL hätten sich seit Ende Dezember 2018 in den Provinzen al-Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninawa und Salah al-Din fast verdoppelt. Nach Ansicht der ICG sind die Anschläge der militanten Gruppe im Frühjahr 2020 „nachdrücklicher“ geworden und haben sich im Wesentlichen auf einen ländlichen Streifen quer durch das Zentrum und den Norden Iraks, auf die Provinzen Kirkuk, Salah al-Din und Diyala sowie auf den westlichen Rand der Provinz al-Anbar entlang der Grenze zu Jordanien und Saudi-Arabien erstreckt

Nach Ansicht von Husham al-Hashimi verfügte per Dezember 2019 der ISIL über rund 350 bis 400 aktive Kämpfer, die von 400 inaktiven Kämpfern oder „Schläferzellen“ unterstützt wurden, die sich hauptsächlich um die Logistik in ihren jeweiligen „Sektoren“, darunter dem „Sektor“ al-Anbar kümmerten. Kleine Patrouillen von neun bis elf Männern waren an verschiedenen Orten tätig und führten Anschläge durch. Laut ICG sind viele dieser aktiven ISIL-Kämpfer Iraker und leben in ihrem jeweiligen Einsatzgebiet, doch waren nach Schätzungen von Husham al-Hashimi die meisten der übrigen 200 bis 300 ausländischen Kämpfer in Irak in al-Anbar stationiert. Die ISIL-Kämpfer konnten sich die abgelegenen Wüstengebiete von al-Anbar zu Nutze machen, die nur schwer zu kontrollieren sind. Die ISIL-Kämpfer nutzten vergrabene Container als unterirdische Stützpunkte; einige von ihnen durchquerten große Flächen als Hirten verkleidet.

Knights und Almeida stellten im Mai 2020 fest, der ISIL unterhalte aktive Anschlagszellen in folgenden Gebieten der Provinz al-Anbar: Akashat; Grenzbereich al-Qa‘im/Abu Kamal; Wadi Horan/Rutbah; Nukhayb; Korridor Rawah-Anah-Haditha; Hit; Ramadi und Razazah-See; Karmah und südliches Thar und Falludscha/Amiriyat al-Fallujah.

1.4.3. Neueste Sicherheitstrends und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung

In einer Eskalation der Feindseligkeiten zwischen den USA und Iran wurde zwischen Dezember 2019 und Januar 2020 eine Reihe von Anschlägen in Irak verübt, darunter auch in der Provinz al-Anbar. Am 29. Dezember 2019 flog das US-Militär Luftangriffe auf fünf Stellungen der Kataib Hisbollah nahe der irakisch-syrischen Grenze (drei in der Provinz al-Anbar und zwei in Syrien), bei denen mehr als 25 PMU-Kämpfer getötet und Dutzende verletzt wurden. Dieser Angriff ließ die Spannungen zwischen den USA und von Iran unterstützten Gruppen und der irakischen Regierung weiter eskalieren und führte zu einem Anschlag von den PMU nahestehenden Demonstranten auf die US-Botschaft in Bagdad am 31. Dezember 2019. Als Reaktion befahl die US-Administration am 3. Januar 2020 einen Drohnenangriff, bei dem der Kommandant der Kataib Hisbollah, Abu Mahdi al-Muhandis, und der iranische Generalmajor Qassem Soleimani, Anführer der IRGC’s Quds Force, auf dem Baghdad International Airport getötet wurden. Am 7. Januar 2020 wurden in einem Vergeltungsschlag 22 iranische ballistische Raketen auf US-Truppen im Stützpunkt Ain al-Asad im Westen von al-Anbar und auf einen Stützpunkt in der Nähe von Erbil abgefeuert, in dem ebenfalls US-Truppen stationiert waren; hierbei wurden 34 Angehörige der US-Truppen verletzt und entstand erheblicher Sachschaden am Stützpunkt Ain al-Assad. In der Folge bemühten sich beide Seiten um eine Deeskalation der Krise.

In mehreren aufeinander folgenden Berichten des UN-Sicherheitsrats aus 2019 und der ersten Jahreshälfte 2020 hieß es, Überbleibsel des ISIL verübten häufig asymmetrische Anschläge auf die Bevölkerung und die Sicherheitskräfte des Irak, insbesondere in den Provinzen al-Anbar, Bagdad, Diyala, Erbil, Kirkuk, Ninawa und Salah al-Din. Einer Analyse von Knights und Almeida vom Mai 2020 ist zu entnehmen, dass es von allen beobachteten Provinzen in den Jahren 2018 und 2019 in der Provinz al-Anbar die wenigsten Anschläge gab, nämlich im Durchschnitt 7,0 ISIL-Anschläge pro Monat in 2018 und 8,7 pro Monat in 2019. Nach April 2019 jedoch gab es in al-Anbar erneut versuchte Anschläge auf Menschenmengen, darunter auf Städte wie Ramadi und Hit, sowie eine zunehmende Einschüchterung von Stämmen in ländlichen Gegenden mit Terrortaktik wie versuchte Selbstmordbombenattentate gegen Märkte, Moscheen und Hirten. Größere und relativ neu aussehende Waffenverstecke wurden im Korridor Hit - Ramadi gefunden, also in Reichweite von Hit, Ramadi, Falludscha und Bagdad.

Laut einer Analyse von Joel Wing von Musings of Iraq war der ISIL während des ganzen Jahres 2019 überwiegend damit beschäftigt, Kämpfer und Material von Syrien über die Provinzen al-Anbar und Ninawa nach Irak zu verlegen.

Im ersten Quartal 2020 schoss die Zahl der durchschnittlichen monatlichen Anschläge in al-Anbar auf 27,6 in die Höhe; das ist das Dreifache des Durchschnitts von 2019. Bombenattentate auf der Straße kamen zunehmend zum Einsatz, meist gegen nicht gepanzerte zivile Fahrzeuge der PMU auf den Wüstenfernstraßen zwischen Qaim und Rutbah, die von der Hochebene des Wadi Horan aus angegriffen wurden. Für den gleichen Zeitraum wurden in größerem Umfang taktische Operationen von Zügen mit 30 oder mehr mit Panzerfäusten und Mörsern bewaffneten Männern sowie Anschläge von Heckenschützen gegen mukhtars in den Dörfern gemeldet.

Gemäß einer Analyse von Joel Wing von Musings on Iraq startete der ISIL im gesamten Irak eine „Frühjahrskampagne“, da es in den Monaten April und Mai 2020 zu einem spürbaren Anstieg der Gewalt kam, die im Juni 2020 dann wieder weitgehend abnahm. Die Provinz al-Anbar meldete zehn Vorfälle im April, 17 Vorfälle im Mai und vier Vorfälle im Juni 2020, was einen seltenen Höhepunkt bei Sicherheitsvorfällen in der Provinz bedeutet und ein Hinweis darauf ist, dass „al-Anbar nicht mehr wie früher ein Zentrum des Aufstands ist“.

Berichten zufolge wurden 2019 und 2020 im Kampf gegen den ISIL in der Provinz al-Anbar und vor allem im Westen der Provinz weiterhin Suchaktionen und militärische Einsätze unterschiedlichen Ausmaßes durchgeführt. Im Februar 2020 starteten die ISF aufgrund des seit kurzem festzustellenden Aufwärtstrends bei aufständischen Aktivitäten wie Bombenanschläge, Überfälle aus dem Hinterhalt, Entführungen, Erpressung und Brandstiftung einen größeren Einsatz („Heroes of Iraq“) gegen Schläferzellen des ISIL in Gebieten der Provinz al-Anbar, die an Syrien und Jordanien grenzen. An der Operation waren mehrere Abteilungen der ISF beteiligt, darunter Grenzschutzeinheiten, das Einsatzkommando al-Anbar, das Einsatzkommando Bagdad und das Einsatzkommando Al-Jazeera, mit Unterstützung durch die irakische Luftwaffe. Im Mai 2020 lief eine weitere größere militärische Operation („Desert Lions Operation“) an, mit der Gebiete von Überbleibseln des ISIL befreit werden sollten, und in deren Mittelpunkt der Norden der Provinz al-Anbar, der Süden der Provinz Ninawa und der Westen der Provinz Salah al-Din standen. Im Juni 2020 gab es in der Provinz al-Anbar insgesamt zehn Suchaktionen, „in deren Mittelpunkt stand, Bewegungen des IS über die syrische Grenze und die Provinz in andere Teile Iraks zu unterbinden.“ Berichten zufolge haben gegen den ISIL gerichtete Operationen nur begrenzte Wirkung im Sinne einer Vertreibung des ISIL aus der Provinz al-Anbar.

Einige Beispiele für Sicherheitsvorfälle

•        Am 11. Januar 2019 explodierte eine Autobombe auf einem Markt in al-Qa‘im, tötete zwei Zivilpersonen und verletzte 25 weitere.

•        Zwischen Januar und März 2019 haben ISIL-Kämpfer „irakische Trüffelsucher gekidnappt und in einigen Fällen hingerichtet, meist in den Wüsten im Westen der Provinz al-Anbar. Die ISF bestätigten die Entführung von 44 Trüffelsuchern in diesem Jahr; vermutlich gab es aber noch mehr nicht gemeldete Fälle.“ Die ISF bestätigten die Entführung von 44 Trüffelsuchern im ersten Quartal 2019, vermutlich gab es aber noch mehr nicht gemeldete Fälle. Am 13. März 2019 tötete ein Angehöriger des ISIL einen Einwohner, der beim Sammeln von Löwentrüffeln in der Wüste gekidnappt worden war. Am 15. Februar 2019 wurden acht Zivilpersonen beim Sammeln von Trüffeln bei zwei voneinander unabhängigen Vorfällen verschleppt. Fünf Personen wurden im Bezirk Rawa und drei im Bezirk Haditha im Westen der Provinz al-Anbar verschleppt. Am 28. Januar 2019 töteten ISIL-Kämpfer zwei irakische Bauern bei der Suche nach Löwentrüffeln und entführten einen weiteren im Bezirk Haditha.

•        Am 6. Mai 2019 zündeten nicht identifizierte Täter offensichtlich als Vergeltung eine Bombe in einem der Familie eines ISIL-Angehörigen gehörenden Haus im Zentrum der Stadt Heet in der Provinz al-Anbar.

•        Am 29. August 2019 erschossen nicht identifizierte Killer vier irakische Soldaten und verwundeten sieben weitere an einem Kontrollpunkt des Militärs in der Provinz al-Anbar.

•        Im Januar 2020 kam bei einer vom ISIL in der Grenzstadt Al-Nukhaib, rund 20 km von der Grenze zu Saudi-Arabien entfernt, herbeigeführten Explosion einer Autobombe ein irakischer Offizier ums Leben und wurden fünf weitere verletzt.

•        Anfang Februar 2020 wehrten PMU innerhalb einer Woche zwei Anschläge von ISIL-Kämpfern auf von PMU bemannte Kontrollposten im Westen der Provinz al-Anbar ab.

•        Am 21. März 2020 kamen zwei irakische Soldaten bei einem doppelten Bombenattentat in der Stadt Rutba im Westen der Provinz al-Anbar ums Leben. Zwar übernahm keine Gruppe die Verantwortung für diesen Anschlag, doch werden derartige Anschläge in dem Gebiet Berichten zufolge gemeinhin von ISIL-Kämpfern verübt.

•        Am 5. April 2020 kamen vier irakische Soldaten bei einem ISIL-Anschlag auf einen Kontrollpunkt westlich der Stadt Rutba im Westen der Provinz al-Anbar ums Leben.

•        Am 25. Juli 2020 kam bei der Explosion einer Motorradbombe in der Nähe von Kubaisa in der Provinz al-Anbar ein Soldat ums Leben und wurde ein weiterer verletzt.

Zahl der zivilen Opfer

Die nachstehende Tabelle gibt Auskunft über mit bewaffneten Konflikten zusammenhängende Vorfälle und zivile Opfer in der Provinz, die von der UNAMI für den Zeitraum 1. Januar 2019 - 31. Juli 2020 erfasst wurden.

Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle

Im Referenzzeitraum verzeichnete ACLED 124 Kämpfe, 100 Vorfälle von ferngesteuerter Gewalt/Explosionen, 16 Fälle von Gewalt gegen Zivilpersonen, 0 Unruhen; das sind insgesamt 240 sicherheitsrelevante Vorfälle dieser Arten in der Provinz al-Anbar, meist im Bezirk Ar-Rutba. Ferner wurden für den Referenzzeitraum 16 Demonstrationen in der Provinz al-Anbar gemeldet. Die folgende Abbildung gibt Auskunft über die Entwicklung aller Arten sicherheitsrelevanter Vorfälle im Referenzzeitraum.

Fähigkeit des Staates zur Sicherung von Recht und Ordnung

In einem Medienartikel von 2018 hieß es, der Staat verfüge in der Provinz al-Anbar nur über geringe Autorität, „weil angesichts der Vielzahl von Streitkräften in Irak der Gouverneur der Provinz [al-Anbar] sich beklagte, er verfüge gar nicht über die Macht, einige Angelegenheiten in seiner eigenen Provinz zu untersuchen.“ Insbesondere in al-Qa‘im unterstanden in Anbetracht der in Berichten immer wieder erwähnten Präsenz einer Vielzahl lokaler und nicht lokaler PMU nicht alle Milizen der irakischen Zentralregierung und waren ihr gegenüber nicht rechenschaftspflichtig und gingen einige sogar völlig unabhängig von der irakischen Regierung vor. Darüber hinaus gefährdete der bereits genannte Mangel an Koordinierung zwischen verschiedenen Sicherheitsakteuren das Funktionieren eines Sicherheitssystems. In einem Bericht des Carnegie Middle East Centre über die Vielzahl von in al-Qa‘im stationierten Streitkräften hieß es: „Aufgrund der durch die Anwesenheit von Milizen verursachten Spannungen und der Schwäche der offiziellen Sicherheitskräfte ist es schwierig geworden, Städte an der Grenze in vollem Umfang zu sichern und Ressourcen in den Wiederaufbau und in eine langfristige Stabilisierung zu lenken.“

Berichten zufolge ärgerten sich die meisten sunnitischen arabischen Einwohner über die anhaltende Dominanz der vorherrschend schiitischen PMU, die nach wie vor große Bereiche in al-Anbar kontrollierten und dort patrouillierten. Die PMU begingen in der Provinz al-Anbar während der militärischen Operationen gegen den ISIL 2016 und 2017 ausgedehnte und massive Menschenrechtsverletzungen, darunter außergerichtliche Hinrichtungen und andere ungesetzliche Tötungen. Da nach Ansicht von Michael Knights die örtliche Bevölkerung den Sicherheitskräften nicht vertraut und Angst vor ihnen hat, sind viele Einwohner nicht bereit, mit diesen Sicherheitsakteuren zusammenzuarbeiten. Der oberste sheikh eines der größten Stämme in dem Gebiet, Scheich Rabah al-Karbouly, sagt hierzu: „Die örtliche Bevölkerung ist noch immer unzufrieden wegen angeblicher Beschlagnahmen von Land in dem Gebiet durch die PMU, wegen des Machtverhältnisses zwischen ihnen und anderen irakischen Sicherheitskräften bei der Bemannung von Kontrollpunkten und wegen des anhaltenden Schmuggels.“ Zivilpersonen beklagten sich in Medien „über die verwirrende Vielfalt von Sicherheitskräften, von denen einige keinerlei Abzeichen, wohl aber Waffen tragen.“ Des Weiteren heißt es von dem vielfältigen Spektrum von PMU, dass sie ihren eigenen Interessen Vorrang einräumen und sich nicht um die Förderung der Rückkehr von Flüchtlingen oder um den Wiederaufbau kümmern und damit die Bedürfnisse der örtlichen Bevölkerung ignorieren.

Nach Ansicht von Beobachtern waren PMU-Gruppierungen mit Sicherheitsfunktionen in kriminelle Aktivitäten wie Schmuggel, räuberische Erpressung und illegale Steuererhebung verwickelt und gefährdeten damit Existenzgrundlagen und wirtschaftliche Entwicklung. Insbesondere in al-Qa‘im haben Milizen der örtlichen Wirtschaft geschadet, indem sie das Monopol auf Schwarzmarktaktivitäten erhoben, hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Schmuggel von Kraftstoff und anderen Waren aus Syrien über die Grenze, und zwar Berichten zufolge sowohl vor als auch nach der offiziellen Wiedereröffnung des Grenzübergangs am 1. Oktober 2019. Ein Angehöriger eines irakischen Sicherheitsorgans wurde in dem Bericht des Carnegie Middle East Centre mit den Worten zitiert, „dass staatliche Institutionen nicht wirksam Gebiete überwachen konnten, die durch von den IRGC unterstützte Milizen im grenznahen Gebiet bei al-Qa‘im kontrolliert wurden“. Des Weiteren sollen einem Bericht des Carnegie Middle East Center vom März 2020 zufolge die meisten Milizen und sogar einige Angehörige von Sicherheitskräften unmittelbar an Erpressungen beteiligt gewesen sein. So heißt es dort beispielsweise: „Einwohner berichteten, einige Stammeskämpfer, die nunmehr des früheren Schutzes durch das US-Militär oder die irakische Regierung verlustig gegangen sind, hätten dieses Minus durch regelmäßige Erpressung von Unternehmern und Ladenbesitzern wettmachen wollen“.

Schäden an der Infrastruktur und explosive Kampfmittelrückstände

Laut einer Studie aus dem Jahr 2018, die die irakische Regierung zusammen mit der Weltbank durchgeführt hat, gehört al-Anbar zu den Provinzen mit hohen konfliktbedingten Schäden an kritischer Infrastruktur. Dabei handelt es sich insbesondere um Schäden an Wohngebäuden, in der Landwirtschaft, an wesentlichen kommunalen Diensten sowie in den produktiven Sektoren Industrie und Handel. Von den in den sieben am stärksten vom Konflikt betroffenen irakischen Provinzen entfallen bei den Schäden an Wohngebäuden 19 % auf die Provinz al-Anbar. Insgesamt wurden während des Konflikts mit dem ISIL in der Provinz al-Anbar 29 000 Häuser völlig zerstört. Die öffentliche Stromversorgung ist als Ergebnis des Konflikts „erheblich zurückgegangen“. So ergab beispielsweise in der Stadt Falludscha in der Provinz al-Anbar „eine Analyse der Schäden am öffentlichen Stromnetz, dass 85 % der öffentlichen Elektrizitätsinfrastruktur der Stadt während der Besetzung durch den ISIL Schaden erlitten hatten.“ Nach Ansicht der Weltbank gab es aufgrund des Konflikts und der daraus resultierenden Vertreibung der Bevölkerung, von Plünderung und Diebstahl und von Todesfällen einen erheblichen Rückgang der landwirtschaftlichen Erträge. In der Schadens- und Bedarfsanalyse (DNA) war jedoch von einigen Verbesserungen in einigen wenigen landwirtschaftlichen Untersektoren per September 2017 die Rede, insbesondere durch Reparaturen an der Wasserinfrastruktur entlang des Euphrat. Analysen zufolge galt die Provinz al-Anbar als bei Weitem am härtesten getroffen, was Schäden in den Produktivsektoren Industrie und Handel angeht, einschließlich schwerer Beschädigungen von Phosphat- und Betonfabriken, deren Wiederaufbaukosten sich Schätzungen zufolge auf 3,3 Trillionen IQD belaufen sollen.

2019 und 2020 wurden in der Provinz al-Anbar weiter Wiederaufbau- und Modernisierungsvorhaben durchgeführt; dabei wurden fast 19 991 Häuser fertiggestellt und waren 5 726 entweder in der Planung oder im Bau, derweilen noch nach Finanzmitteln für 2 200 Häuser gesucht wurde, wie der Shelter Cluster Iraq am 5. August 2020 feststellte. Amnesty International wusste hingegen zu berichten, dass während des gesamten Jahres 2019 der Wiederaufbau in vom Konflikt schwer betroffenen Provinzen, darunter al-Anbar, weiterhin nur schleppend verlief.

Berichten zufolge stellt die Kontamination mit Sprengkörpern ein Hindernis für die sichere Rückkehr von Binnenvertriebenen sowie für humanitäre Aktivitäten in mehr als einem Drittel der Bezirke dar, die in den Provinzen al-Anbar, Bagdad, Kirkuk, Ninawa und Salah al-Din vom Humanitarian Country Team in Irak geprüft wurden.

Vertreibung und Rückkehr

Per 30. Juni 2020 stammten 10 % aller Binnenvertriebenen in Irak aus der Provinz al-Anbar, meist aus den Bezirken Ramadi (67 266), Falludscha (48 594) und al-Qa‘im (11 956). Gleichzeitig hat die Provinz al-Anbar insgesamt 36 162 Binnenvertriebene aufgenommen; das ist die achthöchste Zahl von Binnenvertriebenen in allen 18 Provinzen mit Vertriebenen. 74 % der Binnenvertriebenen in al-Anbar wurden innerhalb der Provinz vertrieben, während 24 % aus der Provinz Babil stammen. Der gleichen Quelle zufolge leben 44 % der Binnenvertriebenen in der Provinz al-Anbar in „prekären Unterkünften“, womit al-Anbar die Provinz mit dem höchsten Anteil von in „prekären Unterkünften“ lebenden Binnenvertriebenen in Irak ist. Während des Jahres 2019 wurden Berichten zufolge zahlreiche Binnenvertriebene in die Sekundärvertreibung gedrängt, aufgrund „erzwungener und verfrühter Rückkehr und erzwungenen oder durch Nötigung erreichten Verlassens von Lagern und informellen Siedlungen in den Provinzen Ninawa, Salah Al-Din, al-Anbar, Kirkuk und Diyala.“

Es kehren mehr Menschen nach al-Anbar zurück als von dort vertrieben werden, weshalb die Provinz al-Anbar weiterhin die zweithöchste Zahl von Rückkehrern verzeichnet, und zwar insgesamt 1 503 468 Rückkehrer per 30. Juni 2020. Die drei Bezirke mit den meisten Rückkehrern sind Ramadi (593 250), Falludscha (552 138) und Heet (176 034).387 Nach Auffassung der IOM hat die Provinz al-Anbar die drittgrößte Zahl von Rückkehrern zu verzeichnen (122 256 Menschen), die unter „schwierigen Bedingungen“ leben (ein Hinweis auf Mangel an Existenzgrundlage, Diensten, sozialem Zusammenhalt und Sicherheit). In Gebieten mit Rückkehrern, darunter in al-Anbar, bleiben die Beschäftigungsmöglichkeiten beschränkt und die Lebensmittelunsicherheit hoch. Analysen zufolge leiden 35637 Rückkehrer in der Provinz al-Anbar unter Lebensmittelunsicherheit; das ist unter den Provinzen in Irak die dritthöchste Zahl. Laut Angaben der IOM gibt es zwei Gebiete in der Provinz al-Anbar, in denen es seit April 2020 keine Rückkehrer gab, hauptsächlich aufgrund von mangelnder Sicherheit und verbotener Rückkehr.

(Quelle: EASO, Bericht zur Sicherheitslage im Irak, Oktober 2020)

1.5. Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED)

In Al-Anbar wurden 213 Vorfälle mit 187 Toten erfasst und an folgenden Orten lokalisiert: Ain Assad Air Base, Akashat, Al Ammari, Al Baghdadi, Al Baghuz, Al Halabsa, Al Haqlaniyah, Al Hasa, Al Karabilah, Al Kasrat al Qadimah, Al Mashkan, Al Muhammadi, Al Nathirah, Al Nukhib, Al Qaim, Al Waleed Border Crossing, Albu Ali Jassim, Albu Faraj, Alsawar, An Nukhayb, Anah, Ar Rahhaliyah, Ar Rutba, At Tarabshah, Fallujah, Habbaniya, Haditha, Haditha Dam, Hit, Karma, Kilo 35, Kilo Miat wa Sittin, Kubaysah, Makr Al-Nuam, Mintaqat Albu Shihab, Nahiyat al Amiriyah, Qaryat al Habbariyah, Qaryat ash Shihah, Ramadi, Rawah, Tall Al Jurayshi, Tharthar, Wadi Hauran, Wadi al Ghadf, Zawiyah.

(Quelle: ACCORD, Kurzübersicht über sicherheitsrelevante Vorfälle im Irak im Jahr 2020; 25.03.2021)

2. Beweiswürdigung:

2.1. Beweis erhoben wurde in den gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in die Verfahrensakten unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der BF1 und des BF2, der bekämpften Bescheide, des Beschwerdeschriftsatzes und der vorgelegten Beweismittel, die Durchführung einer mündlichen Verhandlungen vor dem BVwG, die Einsichtnahme in vom BVwG beigeschaffte länderkundliche Informationen sowie die Einholung von Auskünften des Zentralen Melderegisters, des Strafregisters, des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister, des AJ-Web und des Grundversorgungsdatensystems.

2.2. Identität und Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer waren auf der Grundlage der vorgelegten nationalen Identitätsdokumente von BF1 bis BF5 sowie der Geburtsurkunde des in Österreich nachgeborenen BF7 feststellbar. Die Identität und Staatsangehörigkeit des in der Türkei geborenen BF6 erschloss sich aus den stets gleichbleibenden Angaben seiner Eltern.

Die Feststellungen ihrer Zugehörigkeit zur arabischen Volksgruppe und zur sunnitischen Glaubensgemeinschaft stützen sich auf den Umstand, dass diese von BF1 und BF2 bereits beginnend mit ihrer Erstbefragung angegeben wurden, woraus wiederum auf jene ihrer minderjährigen Kinder zu schließen war.

Die Feststellungen zum jeweiligen Bildungsweg, zu den beruflichen Tätigkeiten und zu den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat vor der Ausreise sowie in Österreich im Gefolge derselben, zu ihrer Eheschließung, zum Reiseverlauf, zu den Lebensumständen ihrer Verwandten, zu ihrem Gesundheitszustand, ihrer strafgerichtlichen Unbescholtenheit und ihren Integrationsbemühungen ergaben sich in unstrittiger Weise aus einer Zusammenschau ihrer persönlichen Angaben im Verlauf des gg. Verfahrens, dem Inhalt der von ihnen vorgelegten Unterlagen sowie aus den vom BVwG eingeholten Informationen der genannten Datenbanken.

Die Feststellung, dass sie bis zu ihrer Ausreise aus dem Irak gemeinsam mit der Familie des BF2 in einem Eigenheim gelebt haben, ergab sich aus den Angaben des BF2 im Zuge seiner behördlichen Einvernahme am 28.06.2017 (AS 57). Dort führte er aus, dass er mit seinen beiden Brüdern mit dem aus dem Restaurantbetrieb erwirtschafteten Geld ein gemeinsames Haus erbauen konnte und dort auch ihre Mutter bei ihnen gewohnt habe. Am 12.07.2021 legte ihre Vertretung neben Integrationsnachweisen auch drei Lichtbilder, zeigend ein intaktes Haus und offenbar dasselbe Haus in einem zerstörten Zustand vor, ohne diese Lichtbilder jedoch zu erläutern (OZ 7 im Verfahren Zl. XXXX ). Auch im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung erstatteten weder die Beschwerdeführer noch die Vertretung ein entsprechendes Vorbringen zu den vorgelegten Fotos. Das BVwG konnte anhand der bloßen Vorlage von Lichtbildern keine Rückschlüsse auf ein konkretes Vorbringen erkennen, vor allem auch, da im gesamten Verfahren die Beschwerdeführer nie über ein zerstörtes Haus berichtet haben, sondern stets nur die allgemeine Sicherheitslage in ihrer Herkunftsregion schilderten. Darüber hinaus sei erwähnt, dass lediglich anhand von Lichtbildern grundsätzlich nicht festgestellt werden kann, wo sich ein Haus befindet, wem dieses Haus gehört und ob das Haus zuerst intakt und dann zerstört oder umgekehrt zuerst zerstört und dann renoviert wurde. Den Lichtbildern kam daher keine maßgebliche Beweiskraft zu.

Die Feststellung, dass die Mutter, zwei Brüder und zwei Schwestern jeweils mit ihren Familien sowie ein Onkel des BF2 in Österreich und eine Tante in Kroatien (AS 59 im Verfahren Zl. XXXX ) wohnhaft sind, konnte aufgrund der glaubwürdigen Angaben des BF2 getroffen werden. Im Verfahren kam mangels konkreter Angaben nicht hervor, dass zu ihnen ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht.

Die Feststellungen zum Verbleib der Verwandten der BF1 und deren Lebenssituation im Irak ergaben sich aus den aktuellen Angaben der BF1 im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Dort gab sie an, mit ihren Familienmitgliedern in Kontakt zu sein (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls), obwohl sie dies im behördlichen Verfahren noch gänzlich verneinte (AS 55).

Die Feststellungen zu den Sprachkenntnissen der BF1 und des BF2 konnten angesichts der vor dem BVwG mangelnden Verständigung auf Deutsch (Seite 4 des Verhandlungsprotokolls) sowie der vorgelegten Kursbesuchsbestätigung und dem Nachweis der nicht erfolgreich abgeschlossenen Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau A1 des BF2 getroffen werden.

Die Feststellungen zum Schul- und Kindergartenbesuch der mj. Beschwerdeführer ergaben sich unstrittig aus den vorgelegten Schulzeugnissen und der vorgelegten Bestätigung des Kindergartenbesuches des BF6 (OZ 7 im Verfahren Zl. XXXX ). Die Feststellung, dass der BF7 zu Hause betreut wird, beruhte auf dem Umstand seines jungen Alters und dass kein anderslautendes Vorbringen erstattet wurde.

2.3. Zur Feststellung fehlender individueller Verfolgung der Beschwerdeführer durch die Terrormiliz IS oder schiitische Milizen gelangte das erkennende Gericht aufgrund folgender Erwägungen:

2.3.1. Anlässlich ihrer Erstbefragungen am 04.08.2015 brachten die BF1 und der BF2 zu ihren Antragsgründen befragt gleichlautend vor, dass sie aus Angst vor dem herrschenden Krieg im Irak und aus Angst vor den IS-Terroristen ihr Heimatland verlassen hätten.

Bei der am 28.06.2017 stattgefundenen behördlichen Einvernahme führten sie aus, dass sie am 28.02.2015, als Folge des Einmarsches des IS in XXXX , von dort weggegangen seien. Am 25.02.2015 habe der IS den Menschen in XXXX alle Lebensmittelhefte weggenommen. Der IS würde zudem Söhne aus Familien zwangsrekrutieren. Es sei allgemein zu Bombenanschlägen gekommen und man habe in ihrem Herkunftsort nicht mehr in Ruhe leben können. Bei einer allgemeinen Bombardierung sei ihr Sohn, der BF4, verloren gegangen. Er konnte jedoch nach etwa vier Stunden wiedergefunden werden. Auch die bewaffneten Milizen würden ein Problem darstellen. Diese würden anhand der Ausweise erkennen, ob man Sunnit sei und würden denjenigen mitnehmen. Die Beschwerdeführer seien selbst nie persönlich von Mitgliedern des IS oder anderen Akteuren bedroht worden.

In der Beschwerde wurde das Vorbringen der Beschwerdeführer wiederholt und ausgeführt, dass sie in ihrer vom IS kontrollierten Heimatregion gefährdet seien und sie sich landesweit nirgendwo anders mangels fehlender Lebensgrundlage niederlassen können.

2.3.2. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 23.07.2021 bestätigten die Beschwerdeführer, dass sie den Irak wegen dem IS, der damals in XXXX herrschte, verlassen hätten (Seite 6 des Verhandlungsprotokolls). Bei einer Rückkehr würden nunmehr die Milizen ein Problem für sie darstellen. Die schiitische Miliz XXXX sei am meisten gefürchtet. Die BF konnten jedoch nicht darlegen, welche Probleme diese Miliz in XXXX genau verursachen würde. Befragt, ob die weiterhin in XXXX wohnhaften Eltern oder Geschwister der BF1 über Probleme oder Schwierigkeiten im Irak berichten würden, gab die BF1 lediglich knapp an, dass sie mit ihren Eltern nicht über ihre Situation sprechen würde (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls). Es stellt sich für das erkennende Gericht lebensfremd dar, dass die BF1 in Kontakt mit ihrer Familie – wenn auch nur selten – steht und sich nicht über deren Wohlbefinden erkundigt und deshalb nichts Näheres über deren Situation im Irak schildern kann. Es war daher davon auszugehen, dass die Familie der BF1 weiterhin unbehelligt in XXXX wohnhaft ist und es mit Milizen keine Vorfälle gegeben hat.

Der bloßen Mutmaßungen der Beschwerdeführer im Hinblick auf eine drohende Verfolgung durch schiitische Milizen kam schon mangels näherer Konkretisierung keine Glaubhaftigkeit zu. Auch aus den herangezogenen Länderberichten war eine solche Bedrohungslage für das erkennende Gericht nicht ersichtlich. Dass den Beschwerdeführern im Falle ihrer Rückkehr tatsächlich Verfolgung durch schiitische Milizen drohen würde, stellte sich daher bloß als unsubstantiierte Behauptung ohne konkrete Tatsachengrundlage dar.

2.3.3. In Bezug auf die früher geäußerte Angst vor dem IS war aus Sicht des erkennenden Gerichts vor allem darauf abzustellen, dass sich die Lage gegenüber dem Jahr 2015 maßgeblich geändert hat. Den Länderberichten war zu entnehmen, dass die Rückeroberung der vom IS kontrollierten Gebiete in XXXX im November 2017 unter erheblicher Schwächung des IS abgeschlossen werden konnte, die irakischen Sicherheitskräfte schon Ende 2017 den Sieg über den IS erklärten und sich dessen Aktivitäten inzwischen vor allem auf Anschläge aus dem Untergrund beschränken. Im Lichte dessen war eine drohende aktuelle individuelle Verfolgung der Beschwerdeführer durch Mitglieder des IS im Falle einer Rückkehr zu verneinen.

Zudem gaben sie an, nie von Mitgliedern des IS tatsächlich persönlich bedroht worden zu sein. Es kam auch zu keinen konkreten Zwangsrekrutierungsversuchen. Die Beschwerdeführer bezogen sich in ihren Ausführungen stets lediglich auf die damals gegebene allgemeine Situation im Herkunftsstaat ohne einen Bezug zu ihrer individuellen Lage herzustellen. Vielmehr war aus ihrem Vorbringen eindeutig zu erkennen, dass sie aufgrund des Einmarsches des IS in XXXX und der damit im Zusammenhang stehenden kontinuierlichen allgemeinen Verschlechterung der Sicherheitslage den Irak letztlich verließen.

2.3.4. Insgesamt betrachtet fehlte sohin dem Vorbringen der Beschwerdeführer zu den von ihnen geäußerten Fluchtgründen bzw. Rückkehrbefürchtungen eine substantiierte Tatsachengrundlage. Eine individuelle Verfolgung vor der Ausreise oder die Gefahr einer solchen bei einer Rückkehr konnten sie damit nicht glaubhaft darlegen.

2.4. Die Annahme, dass sie bei einer Rückkehr auch insoweit keiner maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt wären, als sie etwa in wirtschaftlicher Hinsicht in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden, stützt sich darauf, dass es sich beim BF2 um einen arbeitsfähigen Menschen mit Schulbildung und Berufserfahrung im Herkunftsland handelt, der mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit für seinen Unterhalt und den seiner Familienangehörigen sorgen kann, zumal er auch bereits vor der Ausreise aus dem Herkunftsstaat einer sechsjährigen beruflichen Tätigkeit als selbständiger Restaurantbesitzer mit fünf Angestellten nachging und er damit ein entsprechend ausreichendes Einkommen für sich und seine Familie erzielen konnte. Die BF1 verfügt über eine Grundschulausbildung. Wenngleich sie vor der Ausreise keiner Erwerbstätigkeit nachging, ist auch sie grundsätzlich gesund und arbeitsfähig. Es kann ihr daher zugemutet werden sich im Rückkehrfall um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit – als Mutter von fünf zum Teil bereits schulpflichtigen Kindern zumindest im Ausmaß einer Teilzeitbeschäftigung – zu bemühen. Auch die Möglichkeit einer verwandtschaftlichen Unterstützung stünde den Beschwerdeführern angesichts zahlreicher entsprechender Anknüpfungspunkte in ihrer Herkunftsregion zur Verfügung. Bei einer Rückkehr ist auch davon auszugehen, dass sie wieder im gemeinsam mit den Brüdern des BF2 erbauten Haus, in welchem sie zuletzt gelebt haben, eine Unterkunft finden können.

Es wird nicht verkannt, dass es sich bei BF3, BF4, BF5, BF6 und BF7 um besonders vulnerable Personen handelt, da sie noch minderjährig sind. Eine Verletzung ihrer durch Art. 2, 3 EMRK geschützten Rechte ist im Ergebnis aber nicht ersichtlich. Im gg. Fall besteht, wie soeben dargelegt wurde, eine gesicherte Unterkunfts- und Versorgungssituation in XX

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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