Entscheidungsdatum
28.10.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs2Spruch
W123 2207888-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Serbien, vertreten durch RA Dr. Wolfgang WEBER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.09.2018, Zl. 650731805/180450019, zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer ist seit dem 23.01.2009 mit kurzen Unterbrechungen und seit dem 11.11.2013 durchgehend mit Hauptwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet und war von 04.12.2013 bis zum 06.12.2018 im Besitz einer Rot-Weiß-Rot Karte plus. Ein Antrag auf Erneuerung des Aufenthaltstitels wurde fristgerecht eingereicht.
2. Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 15.11.2017 wurde der Beschwerdeführer wegen § 127 StGB zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt.
3. Mit Straferkenntnis der LPD XXXX vom 24.04.2018 wurde über den Beschwerdeführer wegen Verwaltungsübertretungen nach § 37 Abs. 1 iVm § 14 Abs. 1 Z 1 FSG und § 99 Abs. 1b iVm § 5 Abs. 1 StVO eine Geldstrafe in Höhe von € 955,- verhängt.
4. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 26.04.2018 wurde der Beschwerdeführer wegen § 84 Abs. 4 StGB iVm § 15 StGB, wegen § 107 Abs. 1 StGB und § 107 Abs. 1 und 2 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von 10 Monaten, Probezeit 3 Jahre, rechtskräftig verurteilt.
5. Am 04.06.2018 fand die Einvernahme des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde statt. In dieser gab der Beschwerdeführer insbesondere an, dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund der Teilnahme am Kosovokrieg leide und aus diesem Grund auch Beruhigungsmittel einnehme. Er habe zum ersten Mal in seinem Leben Alkohol getrunken und unter diesem Alkoholeinfluss sei es zu der Körperverletzung im Zuge eines Raufhandels gekommen. In Serbien würden noch seine Mutter, seine Schwester und sein Halbbruder leben. Dort besitze er auch noch ein Grundstück und ein Wochenendhaus.
6. Mit Schreiben vom 05.06.2018 übermittelte der Beschwerdeführer den Befund des Medizinische Zentrums in XXXX vom 27.12.2017, in welchem die Diagnose der Pathologischen Trunkenheit (F10.5) festgehalten wurde, und eine Medikamentenverordnung vom 22.05.2018.
7. Mit Schreiben vom 08.06.2018 verständigte die belangte Behörde den Beschwerdeführer vom Ergebnis der Beweisaufnahme mit der Möglichkeit, zur beabsichtigten Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot binnen vierzehn Tagen (ab Zustellung des Schreibens) Stellung zu nehmen.
8. Am 20.06.2018 erstattete der Beschwerdeführer eine Stellungnahme und führte im Wesentlichen aus, dass er seit dem Jahr 2009 rechtmäßig im österreichischen Bundesgebiet lebe. Im selben Jahr habe er auch seine Ehefrau geheiratet. Seit seiner Teilnahme am Kosovokrieg habe er schlechte „Momente“ und müsse Antidepressiva nehmen. In Österreich habe der Beschwerdeführer die Deutschkurse A1, A2 und A2 plus absolviert und auch versucht seinen Lehrabschluss als Maschinenschlosser zu nostrifizieren. In Österreich würden seine Kinder, seine Ehefrau sowie seine beiden Stiefkinder leben, die alle daueraufenthaltsberechtigt seien. Er bereue seine Straftaten zutiefst. In Serbien habe er nur mehr seinen Halbbruder und sonst keine familiären Anknüpfungspunkte, weil sein Mutter und seine Schwester in Italien leben würden.
9. Mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid der belangten Behörde wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt I.), gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt II.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Serbien gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde dem Beschwerdeführer eine Frist von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 6 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt V.).
10. Mit Schriftsatz vom 15.10.2018 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde und führte zusammenfassend aus, dass er nach 10-jähriger Alkohol-Abstinenz im Rahmen einer Geburtstagsfeier Alkohol konsumiert habe, was zu einer Unverträglichkeit mit den von ihm eingenommenen Antidepressiva geführt habe, und es dadurch in weiterer Folge zur Schlägerei, den Drohungen und der Körperverletzung gekommen sei. Bei der zweiten Verurteilung handle es sich nur um einen „kleinen“ Diebstahl. Der Beschwerdeführer lebe seit Jahren mit seiner Ehefrau, seinen Kindern und seinen Stiefkindern in Österreich und sei „vollkommen“ Integriert. Im November würde er mit einem Kurs beim AMS beginnen. Darüber hinaus habe er auch schon in Österreich gearbeitet und spreche sehr gut Deutsch.
11. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23.10.2018 erging die Aufforderung an den Beschwerdeführer zur Vorlage der Heiratsurkunde, der Geburtsurkunden der Kinder, allenfalls vorhandener Schulzeugnisse derselben, den Nachweis über bestehende Deutschkenntnisse und über eine (beabsichtigte) Berufsausbildung sowie den Nachweis hinsichtlich der Bezahlung der Geldstrafen.
12. Mit Eingabe vom 14.11.2018 legte der Beschwerdeführer fristgerecht Zahlungsbestätigungen über die erfolgte Zahlung der verhängten Verwaltungsstrafen in Höhe von EUR 955,00 sowie der vom Bezirksgericht XXXX verhängten Geldstrafe samt Exekutionskosten in Höhe von EUR 307,70, Auszüge aus den Geburtseinträgen der am 25.03.2011 und 14.12.2013 geborenen Kinder des Beschwerdeführers, die Heiratsurkunde des Beschwerdeführers vom 05.09.2009, ein Jahreszeugnis des erstgeborenen Kindes, eine Bestätigung über den Besuch einer Kinderbetreuungseinrichtung des zweitgeborenen Kindes, Bestätigungen über die bestandene Absolvierung der Sprachmodule der Stufe A1 und A2, sowie einen Dienstvertrag, abgeschlossen zwischen dem Beschwerdeführer und der XXXX GmbH, vor.
13. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.07.2021 erging die Aufforderung an den Beschwerdeführer, binnen drei Wochen Bescheinigungen betreffend eine Behandlung der Alkoholerkrankung des Beschwerdeführers, in eventu eine Bestätigung einer im Rahmen einer die Alkoholabstinenz unterstützenden Psychotherapie, in eventu eine Bestätigung einer Anti-Aggressionstherapie im Zusammenhang mit seiner Straffälligkeit, sowie den Beschluss des Landesgerichts XXXX über die endgültig nachgesehene Freiheitsstrafe vorzulegen.
14. Mit Eingabe vom 25.08.2021 legte der Beschwerdeführer nach Fristerstreckung Lohn- und Gehaltsabrechnungen von Oktober 2018 bis Februar 2021 vor. Nachdem er kein Visum vorlegen habe können, sei er jedoch gekündigt worden. Seit März 2021 beziehe er Arbeitslosengeld vom AMS und bewerbe sich laufend bei verschiedenen Dienstgebern.
Festgehalten wurde, dass der Beschwerdeführer einer Tätigkeit nachgegangen sei und daher keineswegs unter Alkoholproblemen leide. Die vorgelegte Bestätigung über seine pathologische Trunksucht habe er lediglich im Zuge des Verfahrens beim LG für Strafsachen XXXX benötigt. Bestätigungen über die Absolvierung einer Psychotherapie oder einer Anti-Aggressionstherapie konnten nicht vorgelegt werden.
15. Mit Eingabe vom 30.08.2021 wurde vom Beschwerdeführer der Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX über die endgültige Strafnachsicht vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Serbiens und führt die im Spruch angeführten Personalien; seine Identität steht fest. Der Beschwerdeführer war bis 06.12.2018 in Besitz einer Rot-Weiß-Rot Karte plus und stellte fristgerecht einen Antrag auf Erneuerung des Aufenthaltstitels.
1.2. Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 15.11.2017, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen § 127 StGB zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je EUR 4,00 sowie im Nichteinbringungsfall zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 60 Tagen verurteilt.
1.3. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 26.04.2018, XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen § 84 Abs. 4 StGB iVm § 15 StGB, wegen § 107 Abs. 1 StGB und § 107 Abs. 1 und 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 10 Monaten verurteilt. Gemäß § 43a StGB wurde die Freiheitsstrafe unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen.
Im Zuge der Strafbemessung wertete das Gericht als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen als mildernd die Unbescholtenheit des Beschwerdeführers sowie sein reumütiges Geständnis.
Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 23.08.2021 wurde der bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe endgültig nachgesehen.
1.2. Der Beschwerdeführer ist in Serbien geboren und aufgewachsen und besuchte dort 8 Jahre die Grundschule. Im Anschluss absolvierte er eine dreijährige Lehre als Maschinenschlosser. Darüber hinaus absolvierte er einen dreimonatigen Kurs an der Schweißerakademie. Seit 23.01.2009 ist der Beschwerdeführer mit kürzeren Unterbrechungen und seit dem 11.11.2013 durchgehend im Bundesgebiet mit Hauptwohnsitz gemeldet.
Der Beschwerdeführer lebt mit seiner Ehefrau und den 2011 und 2013 geborenen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt.
Der Beschwerdeführer absolvierte die Sprachmodule A1 und A2. Er ist kein Mitglied in einem Verein und hat sich in Österreich nicht ehrenamtlich engagiert.
Der Beschwerdeführer befand sich in Österreich in verschiedenen kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen. Er fand auch in einer wirtschaftlich angespannten Zeit mit hoher Arbeitslosigkeit einen Job und stand von 23.10.2018 bis 20.03.2020 und zuletzt von 25.05.2020 bis 02.03.2021 in einem Arbeitsverhältnis mit der XXXX GmbH. Der Beschwerdeführer verdiente zuletzt etwa EUR 2.000,- brutto.
1.3. Laut mit Beglaubigung übersetzten Patientenbrief vom 27.12.2017 des Medizinischen Zentrums „DR. XXXX “ wurde folgende Diagnose beim Beschwerdeführer gestellt (vgl. AS 43):
„F10.5 Pathologische Trunkenheit“
Der Beschwerdeführer war wegen seiner Alkoholsucht in Serbien in einer Klinik in Behandlung. Darüber hinaus nahm der Beschwerdeführer Cipralex, Bromazepan und Rivotril ein. Zur Prävention wurde die subkutane Einlage von Tetidis subkutan empfohlen.
Laut der letzten Medikamentenverordnung vom 22.05.2018 nimmt der Beschwerdeführer Bromazepam, Paroxat, Rivotril, Aripiprazol und Quetialan ein.
1.4. Im Verfahren ergaben sich keine Anhaltspunkte für eine aktuelle Alkoholabhängigkeit des Beschwerdeführers. Eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund der Teilnahme am Kosovokrieg konnte nicht festgestellt werden.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Die Feststellungen zur Identität und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers gründen auf den Inhalt des Verwaltungsaktes, in welchem dokumentiert ist, dass der Beschwerdeführer zuletzt Inhaber eines serbischen Reisepasses sowie bis zum 06.12.2018 im Besitz einer „Rot-Weiß-Rot Karte plus“ war.
Die Ausführungen zum Verfahrensverlauf ergeben sich aus dem Inhalt der entsprechenden Verwaltungs- und Gerichtsakten.
Die Feststellungen über die Dauer des legalen Aufenthaltes des Beschwerdeführers in Österreich ergeben sich aus dessen Angaben, welche mit den im Zentralen Melderegister und im Zentralen Fremdenregister zu seiner Person abrufbaren Daten in Einklang stehen. Die Feststellung zu den Beschäftigungsverhältnissen ergibt sich aus seinen dahingehenden Angaben in Zusammenschau mit dem im Verwaltungsakt einliegenden Versicherungsdatenauszug vom 12.03.2021. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer in einer wirtschaftlich angespannten Zeit mit hoher Arbeitslosigkeit einen Job fand, ergibt sich aus der allgemein bekannten wirtschaftlichen Situation sowie der Lage auf dem österreichischen Arbeitsmarkt aufgrund der Covid-19-Pandemie im vergangenen Jahr (vgl. etwa https://oesterreich.orf.at/ stories/3083413/#:~:text=Das%20AMS%20ver%C3%B6ffentliche%20am%20Montagvormittag,28%2C5%20Prozent%20gegen%C3%BCber%202019.).
2.2. Die Feststellungen zu den strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers ergeben sich aus dem Inhalt der entsprechenden Verwaltungs- und Gerichtsakten sowie aufgrund eines eingeholten Strafregisterauszug vom 30.06.2021.
2.3. Die Feststellungen über die privaten und familiären Verhältnisse des Beschwerdeführers in Österreich beruhen auf seinen Angaben im Verfahren und auf der Vorlage der Heiratsurkunde sowie der Geburtseinträge der Kinder.
2.4. Die Feststellungen, wonach der Beschwerdeführer an keinen schwerwiegenden Erkrankungen und keiner posttraumatischen Belastungsstörung leidet, ergibt sich aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Gemäß § 52 Abs. 4 Z 1 FPG i.d.g.F. hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 AsylG 2005 oder § 11 Abs. 1 und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels entgegengestanden wäre.
Gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 NAG dürfen Aufenthaltstitel einem Fremden nur erteilt werden, wenn der Aufenthalt des Fremden nicht öffentlichen Interessen widerstreitet.
3.2. Wird durch eine Rückkehrentscheidung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist (§ 9 Abs. 1 BFA-VG). Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (§ 9 Abs. 2 BFA-VG).
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung – nunmehr Rückkehrentscheidung – nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Bei der Beurteilung der Frage, ob die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme aus dem Blickwinkel des § 9 BFA-VG iVm. Art. 8 EMRK zulässig ist, ist weiters eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit dem Interesse des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich vorzunehmen. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären und sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 15.12.2015, Zl. Ra 2015/19/0247).
Vom Begriff des "Familienlebens" in Art 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern zB. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, Appl. 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 6.10.1981, Appl. 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, welche miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd. Art 8 EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig. Der Begriff des "Familienlebens" in Art 8 EMRK setzt daher neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen voraus; die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammengelebt haben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind (vgl etwa VwGH 26.1.2006, 2002/20/0423; 8.6.2006, 2003/01/0600; 26.1.2006, 2002/20/0235, worin der Verwaltungsgerichtshof feststellte, dass das Familienleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern nicht automatisch mit Erreichen der Volljährigkeit beendet wird, wenn das Kind weiter bei den Eltern lebt).
Unter dem "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. EGMR 16.06.2005, Fall Sisojeva ua., Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 EMRK, in ÖJZ 2007, 852 ff, aber auch VwGH 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479, wonach ein dreijähriger Aufenthalt "jedenfalls" nicht ausreichte, um daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abzuleiten, so im Ergebnis auch VfGH 12.06.2013, Zl. U485/2012). Die Umstände, dass ein Fremder perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, stellen keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale dar (Hinweis E 26. November 2009, 2008/18/0720). Auch die strafgerichtliche Unbescholtenheit (vgl. § 66 Abs. 2 Z. 6 FrPolG 2005) vermag die persönlichen Interessen des Fremden nicht entscheidend zu stärken (VwGH 25.02.2010, Zl. 2010/18/0029). Vom Verwaltungsgerichtshof wurde im Ergebnis auch nicht beanstandet, dass in Sprachkenntnissen und einer Einstellungszusage keine solche maßgebliche Änderung des Sachverhalts gesehen wurde, die eine Neubeurteilung im Hinblick auf Art. 8 MRK erfordert hätte (vgl. VwGH 19.11.2014, Zl. 2012/22/0056; VwGH 19.11.2014, Zl. 2013/22/0017).
Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist laut ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen und es kann grundsätzlich nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, eine Aufenthaltsbeendigung ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen werden (vgl. etwa VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0340, mwN). Diese Rechtsprechungslinie betraf allerdings nur Konstellationen, in denen der Inlandsaufenthalt bereits über zehn Jahre dauerte und sich aus dem Verhalten des Fremden - abgesehen vom unrechtmäßigen Verbleib in Österreich - sonst keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergab (VwGH 25.4.2014, Ro 2014/21/0054; 10.11.2015, Ro 2015/19/0001). In Fällen gravierender Kriminalität und daraus ableitbarer hoher Gefährdung der öffentlichen Sicherheit steht die Zulässigkeit der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auch gegen langjährig in Österreich befindliche Fremde, selbst wenn sie - anders als im vorliegenden Fall - Ehegatten österreichischer Staatsbürger sind, nicht in Frage (vgl. VwGH 23.2.2016, Ra 2015/01/0249 mwN).
Aufenthaltsbeendigende Maßnahmen sind aber auch unter dem Aspekt der Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen zu sehen, wobei die "Zehn-Jahres-Grenze" in der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nur dann eine Rolle spielt, wenn einem Fremden kein erhebliches strafrechtliches Fehlverhalten vorzuwerfen ist. Hierbei kommt es ebenso auf den Zeitpunkt und der Art des jeweiligen Fehlverhaltens sowie das seither erfolgte Wohlverhalten an (vgl. VwGH 03.09.2015, Zl. 2015/21/0121; aber auch VwGH 10.11.2015, Zl. 2015/19/0001).
Um von einem Wegfall oder einer wesentlichen Minderung der vom Fremden ausgehenden Gefährlichkeit ausgehen zu können, bedarf es grundsätzlich eines Zeitraums des Wohlverhaltens, wobei in erster Linie das gezeigte Wohlverhalten in Freiheit maßgeblich ist (vgl. VwGH 22.1.2015, Ra 2014/21/0009; 22.3.2018, Ra 2017/22/0194).
3.3. Im Falle des Beschwerdeführers ist zu berücksichtigen, dass das strafbare Verhalten mittlerweile fast vier Jahre zurückliegt und der Beschwerdeführer sich seit seiner letzten Verurteilung im April 2018 kein strafrechtlich relevantes Verhalten mehr zu Schulden hat kommen lassen. Daher muss dieses Wohlverhalten des Beschwerdeführers positiv hinsichtlich einer zu erstellenden Zukunftsprognose gewertet werden. Weiters ist zu seinen Gunsten anzuführen, dass mittlerweile seit April die Probezeit abgelaufen ist (vgl. § 49 StGB) und die Freiheitsstrafe endgültig nachgesehen wurde.
Dem Beschwerdeführer gelang es zwar in seinem nunmehr fast ununterbrochenen 12-jährigen Aufenthalt im Bundesgebiet lange Zeit nicht, eine Ausbildung abzuschließen oder sich langfristig am österreichischen Arbeitsmarkt zu integrieren. Mittlerweile stand er aber seit dem Jahr 2018 fast durchgehend in Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber. Dabei ist zu Gunsten des Beschwerdeführers zu berücksichtigen, dass es ihm auch in einer wirtschaftlich angespannten Zeit gelang, einen neuen Job zu finden.
Die Dauer des Beschwerdeverfahrens von mehr als drei Jahren war vom Beschwerdeführer nicht zu vertreten.
Aufgrund des Gesamtverhaltens des Beschwerdeführers war daher nicht von einem Fortbestehen einer von ihm ausgehenden Gefährdung von öffentlichen Interessen auszugehen. Insbesondere die nunmehr abgelaufene Probezeit sowie die in den letzten Jahren erfolgreiche Integration des Beschwerdeführers in den Arbeitsmarkt nach der Überwindung seiner psychischen Probleme zeugen von seinem Gesinnungswandel.
Zudem ist im Lichte der nach § 9 BFA-VG iVm. Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotenen Abwägung zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer sich bereits seit ca. 12 Jahren durchgehend im Bundesgebiet aufhält, hier einer Beschäftigung nachgeht, mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern in einem Haushalt wohnt. Auch unter Beachtung des Kindeswohles scheint sowohl eine Rückkehrentscheidung als auch das verhängte Einreiseverbot eine unbillige Härte darzustellen. Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG liegt durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK vor.
Daher war trotz der strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers nicht davon auszugehen, dass sein Aufenthalt öffentlichen Interessen iSd § 11 Abs. 2 Z 1 NAG widerstreitet, weshalb die für die Rückkehrentscheidung erforderlichen Voraussetzungen nach § 52 Abs. 4 Z 1 iVm § 11 Abs. 2 Z 1 NAG nicht gegeben sind.
3.4. In Ansehung der zu Rückkehrentscheidungen nach § 52 Abs. 4 bzw. Abs. 5 FPG ergangenen Judikatur des VwGH (VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0224, VwGH 29.05.2018, Ra 2018/21/0067) war jedoch nicht die dauerhafte Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung iSd § 9 Abs. 3 1. Satz BFA-VG iVm der nach § 58 Abs. 2 AsylG 2005 notwendigen Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 auszusprechen; vielmehr ist diesen Fällen die Rückkehrentscheidung samt den darauf aufbauenden Spruchpunkten ersatzlos zu beheben.
3.5. Zum Entfall der mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
Der Sachverhalt ist im Gegenstand aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt, weshalb gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG eine mündliche Verhandlung unterbleiben konnte. Im Übrigen wurde weder vom Beschwerdeführer, noch von der belangten Behörde eine mündliche Verhandlung beantragt.
Zu B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung (vgl. die unter A) zitierte Judikatur); weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.
Schlagworte
Aufenthaltsdauer Behebung der Entscheidung Diebstahl Einreiseverbot aufgehoben ersatzlose Behebung Familienleben gefährliche Drohung Interessenabwägung Körperverletzung Rückkehrentscheidung behoben strafrechtliche Verurteilung Voraussetzungen ZukunftsprognoseEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W123.2207888.1.00Im RIS seit
14.01.2022Zuletzt aktualisiert am
14.01.2022