TE Bvwg Beschluss 2021/11/2 W192 2247235-1

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Veröffentlicht am 02.11.2021
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Entscheidungsdatum

02.11.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
FPG §55 Abs4
VwGVG §28 Abs3

Spruch


W192 2247235-1/2E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH (BBU), gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.08.2021, Zahl: 1187775610-211030714:

A)       In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B)              Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1. Die Beschwerdeführerin, eine volljährige Staatsangehörige Afghanistans, reiste am 21.07.2021 auf Grundlage eines infolge eines Verfahrens nach § 35 AsylG 2005 erteilten Einreisevisums legal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 28.07.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dem Ehemann der Beschwerdeführerin war in Österreich der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden.

In der am Tag der Antragstellung im Beisein der Beschwerdeführerin und ihres Ehemannes vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes aufgenommenen Niederschrift ist durch Ankreuzen der jeweiligen vorgegebenen Textpassagen festgehalten worden, dass die Beschwerdeführerin keine eigenen Fluchtgründe habe und den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz deshalb stelle, da ihr Ehemann in Österreich den Status eines subsidiär Schutzberechtigten erlangt hätte und sie denselben Schutzstatus wie ihr Ehemann beantragen würde. Sie sei mit der Entscheidung des Bundesamtes auf Basis dieser Angaben einverstanden und verzichte auf eine weitere Einvernahme.

Weitere Ermittlungsschritte wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht gesetzt.

2. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 31.08.2021 wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin vom 28.07.2021 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), der Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr gemäß § 8 Abs. 4 und 5 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte mit einer Gültigkeit bis 05.12.2021 erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend wurde ausgeführt, die Beschwerdeführerin sei aufgrund eines Einreiseantrages im Familienverfahren am 21.07.2021 legal von Teheran mit einem gültigen Visum nach Österreich eingereist und habe am 28.07.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, wobei sie die Zuerkennung von subsidiärem Schutz beantragt habe. Sie habe sich mit der Entscheidung der Behörde auf Basis der in der Erstbefragung gemachten Angaben einverstanden erklärt, habe auf eine weitere Einvernahme verzichtet und angegeben, keine eigenen Fluchtgründe aufzuweisen. Ihre Asylantragstellung diene nur dem Zweck der Aufrechterhaltung mit ihrem in Österreich subsidiär schutzberechtigten Ehemann. Ihr drohe in Afghanistan keine asylrechtlich relevante Verfolgung. Zur Lage im Herkunftsstaat wurde festgestellt: „Ein LIB zur aktuellen Lage in Afghanistan ist derzeit nicht vorhanden.“ Der Beschwerdeführerin sei daher im Familienverfahren, abgleitet vom Status ihres Ehemannes, der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen.

Dem Ehegatten der Beschwerdeführerin wurde am 06.09.2021 einen Aufenthaltstitel nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz ausgestellt.

3. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheids richtet sich die durch die nunmehr bevollmächtigte Vertretung der Beschwerdeführerin am 29.09.2021 eingebrachte Beschwerde. Begründend wurde ausgeführt, die Beschwerdeführerin sei ihrer Erinnerung nach bei der Erstbefragung nicht nach ihren Fluchtgründen gefragt worden, sondern es seien lediglich die Personalien ihrer Person und ihres Ehemannes aufgenommen worden. Nach der Flucht ihres Mannes nach Österreich im Jahr 2012 sei die Beschwerdeführerin plötzlich alleinstehend gewesen, was nicht in das Weltbild der afghanischen Gesellschaft und der Taliban gepasst hätte. Ihr Heimatdorf habe schon damals unter Kontrolle der Taliban gestanden, Hazara und sonstige Schiiten seien verfolgt worden. Ihr Vater habe sie nicht mehr vor den Taliban schützen können bzw. wollen. Deshalb sei die Beschwerdeführerin nach Teheran zu einer dort lebenden Tante geflohen. Die Wünsche der Beschwerdeführerin, ihr Leben selbst zu gestalten, zur Schule zu gehen, einen Beruf auszuüben, Auto und Fahrrad zu fahren, Fitness auszuüben und zwei bis drei Kinder in einem sicheren Umfeld aufziehen zu können, wären in Afghanistan undenkbar und in Teheran nur bedingt realistisch gewesen. Dem Vorbringen der Beschwerdeführerin stehe das in § 20 BFA-VG normierte Neuerungsverbot nicht entgegen. So sei im Fall der Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung am 28.07.2021 nicht absehbar gewesen, dass zwei Wochen später mit dem Fall von Kabul und der Einnahme der letzten innerstaatlichen Fluchtalternative durch die Taliban eine Rückkehr als alleinstehende aus Europa zurückkehrende Frau auf Jahre unmöglich bzw. unzumutbar werden würde. In § 19 Abs. 2 AsylG werde ausdrücklich festgehalten, dass im Asylverfahren eine Einvernahme durchzuführen sei, auf die nicht verzichtet werden könne und an der auch das Familienverfahren nichts ändere, da nach § 34 Abs. 4 AsylG 2005 die Anträge von Familienangehörigen gesondert zu prüfen wären. Die Feststellungen zu den Fluchtgründen der Behörde seien absolut mangelhaft und würden nicht aufzeigen, von welchem Sachverhalt die Behörde in der Entscheidung ausginge; die Reduzierung eines Asylantrages auf einen Antrag zum „Zweck der Aufrechterhaltung des Ehelebens“ entspreche nicht den Anforderungen. Die Behörde habe sich nicht mit einer Bedrohung der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara auseinandergesetzt. Weiters sei es unzutreffend, dass zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung ein aktuelles LIB nicht vorhanden gewesen wäre, zumal dieses zuletzt am 12.08.2021 um eine Kurzinformation ergänzt worden wäre. Die Behörde wäre verpflichtet gewesen, dem Bescheid Länderfeststellungen zugrunde zu legen und eine Einvernahme der Beschwerdeführerin durchzuführen. Die Behörde hätte aufgrund ihrer amtswegigen Ermittlungspflicht abklären müssen, welche Gefahren der Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen würden, da notorisch bekannt wäre, dass unter der Herrschaft der Taliban sowohl Frauen als auch Zugehörige der Volksgruppe der Hazara einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein können. Trotz der Geschehnisse in Afghanistan zur Zeit der Bescheiderlassung sei jede Würdigung der Lage im Herkunftsland unterlassen worden. Im Fall der Beschwerdeführerin als westlich orientierte Frau mit einem schon lange in Österreich lebenden Ehegatten könne jedenfalls angenommen werden, dass diese im gesamten Land verfolgt werden würde.

4. In einer gemeinsam mit der Beschwerdevorlage übermittelten Stellungnahme vom 01.10.2021 führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass ein am 01.10.2021 geführtes Telefonat mit dem der Erstbefragung beigezogenen Dolmetscher ergeben hätte, dass seiner Erinnerung nach von der Beschwerdeführerin angegeben worden wäre, keine eigenen Fluchtgründe zu haben und sich mit ihrem Antrag auf den Status ihres Ehemannes zu beziehen. Dies entspreche auch dem von der Beschwerdeführerin unterzeichneten Protokoll der Erstbefragung. Die Beschwerdeführerin habe den Antrag erst sieben Tage nach ihrer Einreise im Beisein ihres Ehemannes gestellt und zuvor jahrelang im Iran gelebt, sodass auch insofern eine ihr im Herkunftsstaat unmittelbar drohende Verfolgung nicht anzunehmen wäre. Familiäre Probleme der Beschwerdeführerin seien im Einreiseverfahren in keiner Weise angedeutet worden und es lägen keine Hinweise vor, dass diese als alleinstehende Frau losgelöst vom Familienverband in Teheran gelebt hätte. Es lägen derzeit auch keine Hinweise über eine gegen die Volksgruppe der Hazara gerichtete systematische Verfolgung vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Beweiswürdigung:

Der oben angeführte Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem vorgelegten Verwaltungsakt sowie eingeholten Auszügen aus dem Zentralen Melderegister, dem Zentralen Fremdenregister und dem Strafregister.

2. Rechtliche Beurteilung:

2.1. Zu Spruchpunkt A)

2.1.1. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß Abs. 2 hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder dieser durch das Verwaltungsgericht selbst festgestellt werden kann, sofern dies im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Gemäß Abs. 3 zweiter Satz kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde die notwendigen Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat. In diesem Fall ist die Behörde an die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtes gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgeht.

Das Modell der Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG (Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren, 2. Auflage [2018] § 28 VwGVG, Anm. 11).

§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, wenn „die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen“ hat.

2.1.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich bereits wiederholt mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063; 30.06.2015, Ra 2014/03/0054):

Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht kommt nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

Der Verfassungsgesetzgeber hat sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist.

Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stellt die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das in § 28 insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer „Delegierung“ der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).

2.2. Solche gravierenden Ermittlungslücken sind dem Bundesamt hier unterlaufen:

2.2.1. Im vorliegenden Fall stützte die belangte Behörde ihre Entscheidung bezüglich der Frage des Vorliegens asylrelevanter Verfolgung der Beschwerdeführerin ausschließlich auf die kurzen, formularhaften Angaben der Beschwerdeführerin in der niederschriftlichen Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in dem sie mittels Ankreuzen einer standardisierten Antwort angab, keine eigenen Fluchtgründe zu haben, den selben Status wie ihr in Österreich subsidiär schutzberechtigter Ehegatte zu beantragen und auf eine weitere Einvernahme zu verzichten. Davon ausgehend unterließ die belangte Behörde weitere Erhebungen zu dem im vorliegenden Verfahren maßgebenden Sachverhalt und sah insbesondere davon ab, die Beschwerdeführerin einzuvernehmen und zu allfälligen Fluchtgründen zu befragen. Ebenso unterließ die Behörde es, dem angefochtenen Bescheid aktuelle Länderfeststellungen zugrunde zu legen. Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat beschränkten sich auf den Vermerk, dass ein aktuelles Länderinformationsblatt zum Entscheidungszeitpunkt nicht vorhanden gewesen wäre.

Damit übersieht die belangte Behörde jedoch, dass gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 die Einvernahme durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes nach Antragstellung "insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden [dient] und sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen [hat]". Diese Regelung bezweckt den Schutz der Asylwerber davor, sich im direkten Anschluss an die Flucht aus ihrem Herkunftsstaat vor uniformierten Staatsorganen über traumatische Ereignisse verbreitern zu müssen, weil sie unter Umständen erst vor kurzem vor solchen geflohen sind (vgl. VfGH 27.06.2012, U 98/12, unter Hinweis auf die Erläuterungen zur Regierungsvorlage, RV 952 XXII. GP, S. 44). Daraus ergibt sich auch, dass an die dennoch bei der Erstbefragung erstatteten, in der Regel kurzen, Angaben zu den Fluchtgründen im Rahmen der Beweiswürdigung keine hohen Ansprüche in Bezug auf Stringenz und Vollständigkeit zu stellen sind (vgl. VfGH 20.02.2014, U 1919/2013 ua.).

Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat, ist es auf dem Boden der gesetzlichen Regelung des § 19 Abs. 1 AsylG 2005 zwar weder der Behörde noch dem Bundesverwaltungsgericht verwehrt, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten der Erstbefragung zu späteren Angaben einzubeziehen, es bedarf aber sorgsamer Abklärung und auch der in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind (vgl. VwGH 28.05.2014, Ra 2014/20/0017, 0018; 13.11.2014, Ra 2014/18/0061 uva).

Vor diesem Hintergrund kann auch ein bloß formelhafter Verzicht der rechtsunkundigen Beschwerdeführerin auf eine weitere Einvernahme in der niederschriftlichen Erstbefragung das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht von seiner in § 19 Abs. 2 AsylG 2005 normierten Verpflichtung entbinden, die gebotene ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens eines Asylwerbers auf der Grundlage einer Einvernahme durch die Behörde selbst vorzunehmen. Das BFA hätte somit auch dann, wenn eigene Fluchtgründe im Zuge der Antragstellung noch nicht genannt worden sind, das allfällige Vorliegen solcher Gründe im Wege einer Einvernahme zu prüfen gehabt. Dies trifft umso mehr zu, als es im Zeitraum zwischen der Erstbefragung, in welcher der formelhafte Verzicht auf eine weitere Einvernahme abgegeben wurde, und der Erlassung des angefochtenen Bescheides notorisch zur Machtübernahme der Taliban im gesamten afghanischen Staatsgebiet gekommen ist, wodurch jedenfalls auch eine maßgeblich geänderte Situation hinsichtlich allfälliger individueller Gefährdungsmomente (insbesondere für Frauen) in Afghanistan eingetreten ist. Mangels Durchführung einer Einvernahme vor dem BFA wurde der Beschwerdeführerin nicht mehr die Gelegenheit zu einem diesbezüglichen Vorbringen gegeben.

Dem steht auch nicht der Umstand entgegen, dass die Beschwerdeführerin den Antrag auf internationalen Schutz infolge eines Einreiseverfahrens nach § 35 AsylG 2005 in einem Familienverfahren stellte und sich dabei auf den ihrem Ehegatten zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten bezog. So hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass jeder Antrag eines Familienangehörigen unabhängig von der konkreten Formulierung in erster Linie auf die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gerichtet ist. Es sind daher für jeden Antragsteller allfällige eigene Fluchtgründe zu ermitteln. Nur wenn solche – nach einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren – nicht hervorkommen, ist dem Antragsteller jener Schutz zu gewähren, der bereits einem anderen Familienangehörigen gewährt wurde (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0059 mit Hinweis auf E vom 21.10.2010, 2007/01/0164).

Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Asylstatus zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche "Vorverfolgung" für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person vor dem Hintergrund der zu treffenden aktuellen Länderfeststellungen im Zeitpunkt der Entscheidung des VwG bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (VwGH 23.06.2021, Ra 2021/18/0164).

Im vorliegenden Fall tätigte das BFA daher nicht einmal ansatzweise Ermittlungen hinsichtlich des maßgebenden Sachverhalts im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, sondern hat die Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts im Ergebnis zur Gänze an das BVwG delegiert. Insbesondere hat sich das BFA nicht mit der Möglichkeit einer westlichen Orientierung der Beschwerdeführerin auseinandergesetzt und nicht geprüft, ob zu der allgemeinen Diskriminierungslage für Frauen in Afghanistan im Fall der Beschwerdeführerin – insbesondere unter Berücksichtigung der Machtübernahme der Taliban im gesamten afghanischen Staatsgebiet – eine individuelle asylrelevante Verfolgungs- und Bedrohungslage hinzutritt. EASO ist bereits vor Machtübernahme der Taliban davon ausgegangen, dass Frauen in Afghanistan vielfachen Gefährdungspotentialen ausgesetzt sein können, welche je nach Umständen des Einzelfalles auch das Ausmaße einer Verfolgung erreichen können (vgl. EASO, Country Guidance Afghanistan, 12/2020, S. 73 ff). Bei Vorliegen einer westlich orientierten Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung der Grundrechte zum Ausdruck kommt, muss - auf der Grundlage aktueller Länderberichte - eine Auseinandersetzung damit stattfinden, ob und bejahendenfalls mit welchen staatlichen bzw. nicht-staatlichen Reaktionen die Asylwerberin aufgrund ihres gelebten selbstbestimmten westlichen Lebensstils rechnen müsste, ob diese Reaktionen nach ihrer Schwere als Verfolgung angesehen werden können und ob der Asylwerberin - im Falle von Privatverfolgung - staatlicher Schutz gewährt werden würde (vgl. VwGH 24.06.2019, Ra 2018/20/0434 mwN.). Auch sonstige mögliche individuelle Verfolgungsbefürchtungen wurden nicht ermittelt.

Der angefochtene Bescheid enthält zudem keinerlei Feststellungen zur allgemeinen Lage von Frauen sowie Angehörigen der Volksgruppe der Hazara nach der Machtübernahme der Taliban im afghanischen Staatsgebiet, sodass auch die Beurteilungsgrundlage für die Prüfung einer allfälligen von individuellen Aspekten unabhängigen Gruppenverfolgung zur Gänze fehlt.

Von den Asylbehörden ist zu erwarten, dass sie insoweit, als es um Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern geht, von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einbeziehen (VwGH 18.10.2017, Ra 2017/19/0141, mwN.). Da die Behörde es zur Gänze unterließ, Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin zu treffen, hat sie das Verfahren ebenfalls mit einem gravierenden Mangel belastet.

Der angefochtene Bescheid leidet somit im Ergebnis unter erheblichen Ermittlungsmängeln in Bezug auf die Frage der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer konkret und gezielt gegen die Beschwerdeführerin gerichteten Verfolgung maßgeblicher Intensität. Der vorliegende Sachverhalt erweist sich für das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung einer allfälligen Gefährdung der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Frage der Gewährung des Status der Asylberechtigten als so mangelhaft, dass weitere Ermittlungen des Sachverhalts diesbezüglich unerlässlich erscheinen.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Ermittlung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann nicht im Sinne des Gesetztes liegen, v.a. unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl als Spezialbehörde für die Ermittlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig ist, und weil eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst beim Bundesverwaltungsgericht beginnen und zugleich enden soll.

Dass eine unmittelbare Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - auch angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich. Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.

Das BFA wird im fortgesetzten Verfahren die Beschwerdeführerin einzuvernehmen und sich mit ihrem Vorbringen zu allfälligen Fluchtgründen im Wege einer ganzheitlichen Würdigung auseinanderzusetzen haben.

2.2.3. Da der maßgebliche Sachverhalt noch nicht feststeht, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid des BFA gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG in Spruchpunkt I. aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückzuverweisen.

2.3. Hinsichtlich des Antrages auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung ist darauf hinzuweisen, dass der entscheidungsrelevante Sachverhalt - nämlich das Vorliegen von mangelhaften Ermittlungen zum entscheidungsrelevanten Sachverhalt - durch den vorliegenden Bescheid unter Bedachtnahme auf die Beschwerde feststeht und daher auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet werden kann, zumal bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides aufzuheben ist.

Zu Spruchpunkt B) Unzulässigkeit der Revision

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung Einvernahme Ermittlungspflicht Fluchtgründe Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Voraussetzungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W192.2247235.1.00

Im RIS seit

14.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

14.01.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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