TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/17 W177 2142426-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.11.2021
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Entscheidungsdatum

17.11.2021

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W177 2142426-1/35E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, vom 24.11.2016, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.07.2019 zu Recht:

A)

I.       Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.

II.      Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 23.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Im Rahmen der am 23.06.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass der BF im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX in der Provinz Kapisa, geboren worden sei. Seine Muttersprache sei Paschtu. Er habe bis zum Jahr 2008 die Grundschule besucht. Im Herkunftsstaat würden noch seine Mutter, seine Schwester und sein Bruder aufhältig sein. Er habe in Afghanistan beim Militär als Soldat gearbeitet. Sein Heimatland habe er Anfang 2012 verlassen und sich danach über eineinhalb Jahre im Iran aufgehalten. Sein Vater sei Polizist gewesen und von den Taliban getötet worden. Er selbst sei Soldat gewesen und deswegen sei er von den Taliban bedroht und angeschossen worden. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst von den Taliban getötet zu werden.

3.       Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 05.08.2016 legte der BF als Bescheinigungsmittel eine Tazkira samt englischer Übersetzung und eine Teilnahmebestätigung an einem Deutschkurs für Asylwerber vor. Er sei afghanischer Staatsbürger, ledig und kinderlos, sunnitischer Moslem und paschtunischer Volksgruppenzugehörigkeit. Er stamme aus dem Ort XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Kapisa. In dieser Provinz habe seine Familie ein eigenes Haus und Grundstücke. Diese habe er wegen der Taliban nicht bewirtschaften können, weshalb er mit seiner Familie um 2011 in die Provinz Nangarhar umgezogen sei. Zu seiner Familie habe er nach wie vor regelmäßigen Kontakt. Er habe neun Jahre die Grundschule besucht, aber keine Berufsausbildung gemacht, jedoch habe er Autos verkauft und sei bei der Armee gewesen. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass sein Vater bei der Polizei und er selbst bei der Armee gewesen seien. Die Taliban seien in der Provinz Kapisa mächtig und hätten ihnen gedroht. So hätte man dem BF gedroht, dass er die Armee verlassen solle. Sein Vater sei durch eine Mine der Taliban getötet worden.

Die Taliban hätten ihm das Haus und das Grundstück wegnehmen wollen. So sei er in den Iran gegangen, wo er in Teheran zwei Jahre als Dachdecker gearbeitet habe. Den Iran habe er verlassen, weil er dort illegal aufhältig gewesen sei. Die Taliban würden immer noch nach ihm suchen, weil er bei der Armee gewesen sei.

In Österreich wolle er die Sprache lernen und arbeiten. Er habe sich entschlossen hier zu bleiben, weil es schön sei und die Leute nett wären. In Griechenland sei er inhaftiert worden, weil er keinen Asylantrag gestellt habe.

3.       Mit Bescheid vom 24.11.2016 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005. Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde festgehalten, dass der Tod des Vaters zwar bedauerlich sei, jedoch es sich hierbei um keinen gezielten Anschlag auf ihn gehandelt habe. Aufgrund der kurzen und untergeordneten Tätigkeit bei der Armee ist es völlig unglaubwürdig, dass der BF diesbezüglich von den Taliban verfolgt worden sei. Ebenso würden die Taliban die fortgesetzte Verfolgung nicht nur mündlich über den Cousin ausrichten lassen. Zum angeblichen Angriff der Taliban habe sich der BF in Widersprüche bezüglich der Drohungen verstrickt. Widersprüche habe das Vorbringen des BF auch bei angeblichen Festnahme durch die Taliban durchzogen. Der BF habe sich frei in Afghanistan bewegen können und bei neunjähriger Schulbildung nur vage Datumsangaben zu den fluchtauslösenden Vorfällen machen können. Gegen die Angst vor einer Verfolgung und somit eine Glaubwürdigkeit des Vorbringens spricht weiters, dass die Familie des BF nach wie vor unbehelligt in Afghanistan leben kann und der BF sein Asylantrag nicht im ersten sicheren Land, sondern in dem Land, in dem es ihm am besten gefallen habe, gestellt habe.

Aufgrund des Vorliegens eines sozialen Netzes in seinem Heimatland und der Tatsache, dass der BF vor seiner Ausreise selbsterhaltungsfähig gewesen sei, sei eine Rückkehr nach Afghanistan für ihn möglich. Auch wenn seine Herkunftsprovinz zu den volatilen Landesteilen gehören würde, würde dem BF mit Kabul jedenfalls eine innerstaatliche Fluchtalternative offenstehen.

4. Mit Verfahrensanordnung vom 25.11.2016 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 25.11.2016 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

5.       Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 06.11.2016 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch die rechtsfreundliche Vertretung, den Verein Menschenrechte Österreich, erhobene Beschwerde.

6.       Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 13.12.2016 vom BFA vorgelegt.

7. Mit Schreiben von 23.05.2019 wurden dem BVwG ein Konvolut an Integrationsunterlagen vorgelegt.

8. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 04.07.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF sowie sein bevollmächtigter Vertreter persönlich teilnahmen. Ein Vertreter des BFA nahm entschuldigt an der Verhandlung nicht teil.

Er gab an, dass sich sein Bruder aufgrund der Probleme mittlerweile im Iran aufhalte. Der BF gab an fünf Monate bei der Armee in Ausbildung gewesen zu sein und diese nach dem Tod seines Vaters verlassen zu haben. Sein Vater sei im Jahr 2009 durch eine Bombe, zusammen in einer Gruppe mit weiteren Lokalpolizisten, getötet worden. Er habe als Lokalpolizist den Straßenbau beaufsichtigt. Er selbst sei auch in der Gegend entführt worden, wo sein Vater gestorben sei. Der BF bestätigte, dass er 180 Tage lang im Krankenhaus gewesen sei. Heute habe er bei stärkerer Belastung noch Schmerzen in den Beinen.

Zu den Grundstücksstreitigkeiten befragt, führte der BF aus, dass es im Dorf zahlreiche Personen gegeben habe, die für die Taliban gearbeitet hätten. Diese hätten über die Lage Bescheid gewusst, wobei dies aber eine Privatangelegenheit gewesen sei.

Er habe Afghanistan nicht gleich nach der Entführung verlassen, sondern acht Monate danach, weil er privat Autos verkauft habe und es nicht einfach gewesen sei, die Geschäfte sofort aufzugeben. In dieser Zeit habe es keine Vorfälle mit den Taliban gegeben, jedoch habe er Angst gehabt. Nach seiner Flucht aus Afghanistan habe er sich eineinhalb Jahre im Iran und sieben Monate, von denen er sechs Monate in Haft gewesen sei, in Griechenland aufgehalten.

In Österreich lebe er allein und lerne viel Deutsch. In seiner Freizeit spiele er Volleyball. Die meisten seiner Freund seien Afghanen, aber kenne auch viele Österreicher.

Der erkennende Richter verweist auf den glaubwürdigen Eindruck bezüglich der Tätigkeit seines Vaters und der seiner Tätigkeit beim Militär. Der rechtsfreundliche Vertreter beantragte weiterhin die Stattgabe der Beschwerde und verwies darauf, dass Afghanistan generell unsicher sei. Danach erfolgte der Schluss der Verhandlung, wobei gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG die Verkündung der Entscheidung entfiel.

9.       Das Bundesverwaltungsgericht wies mit Erkenntnis vom 18.03.2020 die Beschwerde gegen den mit oben genanntem Bescheid vom 24.11.2016 gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG und §§ 52, 55 FPG ab (Spruchteil A). Gemäß Art. 133 Abs. 4 BFA-VG war die Revision nicht zulässig (Spruchteil B). Begründend wurde zur Abweisung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides ausgeführt, dass sich aus einer Gesamtschau der oben angeführten Angaben des BF zu seinem Fluchtvorbringen im gesamten Verfahren ergeben habe, dass eine Verfolgung des BF aus asylrelevanten Gründen in seinem Herkunftsstaat nicht glaubhaft gemacht habe werden können und diese auch nicht maßgeblich wahrscheinlich sei. Es konnte weder eine konkrete gegen die Person des BF gerichtete asylrelevante Verfolgung festgestellt werden, noch sind im Verfahren sonst Anhaltspunkte hervorgekommen, die eine mögliche Verfolgung des BF im Herkunftsstaat aus asylrelevanten Gründen bei einer Rückkehr für wahrscheinlich erscheinen lassen.

Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF wurde festgehalten, dass sich die Feststellungen zu den Folgen einer Ansiedlung des BF in seinem Herkunftsstaat – unter Berücksichtigung der von UNHCR aufgestellten Kriterien für das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative für Afghanistan – aus den in das Erkenntnis eingeflossenen Länderberichten und dem übrigen in das Verfahren eingeführten Berichtsmaterial in Zusammenschau mit den vom BF glaubhaft dargelegten persönlichen Umständen ergeben würden.

Aufgrund der Sicherheitslage in seiner Herkunftsprovinz, die als eine volatile Provinz eingestuft werde, sei eine Rückkehr dorthin nicht möglich. Auch wenn der BF in seiner Herkunftsprovinz einer privaten Verfolgung und/oder einem bewaffneten Konflikt ausgesetzt wäre, so sei es ihm dennoch möglich beispielsweise in Herat unterzukommen und sich dort Erwerbstätigkeit, Unterkunft und Nahrung zu beschaffen. Aufgrund der bestehenden Sicherheitslage in der Stadt Herat und in der Stadt Mazar-e Sharif sei eine Rückkehr des BF auch dorthin möglich. Sowohl die Stadt Herat als auch die Stadt Mazar-e Sharif wären über den Luftweg aufgrund ihre vorhandenen Flughafens gut bzw. sicher erreichbar.

Der BF verfüge zwar über keine Ortskenntnisse in Herat oder Mazar-e Sharif, allerdings siehe das erkennende Gericht die Möglichkeit einer Ansiedlung in einer dieser beiden Städte. Der BF habe sich vor seiner Ausreise in Afghanistan frei bewegen können und habe auch dargelegt, dass er in Provinz Nangarhar, abseits seiner Heimatprovinz und unbehelligt von den Taliban aus der Provinz Kapisa, leben habe können. Es sei daher auch davon auszugehen, dass die Taliban aus der Provinz Kapisa den BF in einer dieser beiden als relativ sicher eingestuften afghanischen Großstädten nicht finden und belangen würden. Insbesondere sei dies umso unwahrscheinlicher, weil der der BF schon seit 2012 nicht mehr in Afghanistan gewesen wäre und er aufgrund seiner fünfmonatigen Ausbildungstätigkeit bei der Armee nicht als „High Profiler“ eingestuft werden könne.

Im Übrigen seien darüberhinausgehende außergewöhnliche Gründe, die einer Rückkehr entgegenstehen würden vom BF nicht genannt worden sein bzw. seien diese im Verfahren nicht hervorgekommen.

Beim BF handle es sich um einen arbeitsfähigen und jungen Mann, bei dem die erfolgreiche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Ausführungen zu seinem Gesundheitszustand, zu seiner Berufserfahrung, seiner Selbsterhaltungsfähigkeit und seiner Vermögenslage verwiesen worden. Aufgrund dieser Umstände sei davon auszugehen, dass der BF in der Lage wäre, in seinem Herkunftsstaat seine grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können.

Eine konkrete Unterstützung durch Familienangehörige bei einer Rückkehr sei im Verfahren nicht hervorgekommen. Jedoch sei davon auszugehen, dass insbesondere sein Bruder, der sich mittlerweile im Iran aufhalten würde, ihn durch Geldleistungen aus seinem Aufenthaltsstaat unterstützten würde. Jedenfalls habe der BF die Möglichkeit, eine Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

Selbst ein mangelndes soziales Netzwerk in Afghanistan bewirke nicht, dass es ihm unmöglich werde, mittels Arbeit und Rückkehrhilfe Nahrung und Wohnraum zu beschaffen.

Der BF habe sein Leben größtenteils in Afghanistan verbracht, und somit sei er, aufgrund des Zusammenlebens mit seinen Angehörigen und dem Besuch der Schule in seinem Herkunftsland mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates sowie mit der Sprache vertraut. Anzuführen sei ebenfalls, dass der BF vor seiner Ausreise aus Afghanistan Autoverkäufer gewesen sei und er sich auch im Iran als Maurer und Dachdecker seinen Lebensunterhalt sichern habe können.

Es sei daher anzunehmen, dass er im Herkunftsstaat im Falle einer Rückkehr in der Lage sein werde, sich ein ausreichendes Einkommen zu sichern und er somit nicht in eine hoffnungslose Lage geraten werde. Dafür spreche zuletzt auch die Tatsache, dass der BF als junger Erwachsener in der Lage gewesen sei, völlig auf sich alleine gestellt über ihm unbekannte Länder die Flucht bis nach Österreich zu meistern, wobei er sicherlich ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit unter Beweis habe stellen müssen.

10.      Gegen das Erkenntnis des BVwG erhob der BF innerhalb offener Frist Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (nunmehr: „VfGH“) und außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof (Nunmehr „VwGH“).

11. Der VwGH wies mit Beschluss vom 01.09.2020 unter Ra 2020/19/0202-8, die außerordentliche Revision zurück. Begründend wurde ausgeführt, dass im vorliegenden Fall das BVwG - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - aufgrund der gleichbleibenden und glaubwürdigen Angaben des Revisionswerbers davon ausgegangen sei, dass der Vater des Revisionswerbers als Lokalpolizist tätig gewesen sei und der Revisionswerber eine Ausbildung bei der Armee begonnen habe. Glaubwürdig sei daher auch, dass der Revisionswerber und sein Vater zum damaligen Zeitpunkt Drohungen erhalten hätten und aufgefordert worden seien, ihren Dienst bei den staatlichen Organisationen zu beenden. Den Angaben des Revisionswerbers sei auch zu entnehmen, dass sein Vater bei einem Anschlag getötet worden sei. Dieser Anschlag habe sich jedoch nicht gezielt gegen den Vater des Revisionswerbers, sondern gegen die Sicherheitsbehörden des Landes gerichtet. Ebenfalls glaubwürdig angegeben habe der Revisionswerber, dass er Schussverletzungen erlitten habe, die einen längeren Aufenthalt in einem Krankenhaus nach sich gezogen hätten. Allerdings habe der Revisionswerber nicht glaubhaft machen können, dass es sich hierbei um einen auf seine Person gerichteten Angriff seitens der Taliban gehandelt habe. Hinsichtlich der vom Revisionswerber vorgebrachten Grundstücksstreitigkeiten und der damit zusammenhängenden Entführung sei das BVwG in seiner Beweiswürdigung weiters davon ausgegangen, dass sich diese Vorfälle deshalb zugetragen hätten, weil Dorfbewohner mit den Taliban kooperiert und die Taliban diese bei der Unterstützung ihrer privaten Interessen, nämlich der Erlangung der Grundstücke des Revisionswerbers unterstützt hätten. Die Taliban seien somit keineswegs an einer landesweiten Verfolgung des Revisionswerbers aufgrund seiner fünfmonatigen Ausbildungstätigkeit beim Militär interessiert. Bei den vom Revisionswerber geschilderten Problemen handle es sich um regional begrenzte Probleme. Der Revisionswerber habe sich vor seiner Ausreise in Afghanistan frei bewegen können und habe dargelegt, dass er in der Provinz Nangarhar unbehelligt von den Taliban habe leben können. Eine Unvertretbarkeit dieser Beweiswürdigung vermag die Revision nicht aufzuzeigen.

Das BVwG habe - gestützt auf diese ausführliche Beweiswürdigung - die Feststellungen getroffen, dass der Revisionswerber in Afghanistan keiner landesweiten konkreten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt sei. Rechtlich folgerte das BVwG, dass eine Rückkehr in die Heimatprovinz nicht möglich wäre, aber dem Revisionswerber eine Ansiedlung in den Städten Herat und Mazar-e Sharif möglich und zumutbar sei. Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reiche es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten habe. Es müsse ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten führen zu können, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall sei, erfordere eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handle sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden müsse (vgl. VwGH 8.6.2020, Ra 2020/19/0155, mwN).

Das BVwG habe im vorliegenden Fall Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in den als innerstaatliche Fluchtalternative in Frage kommenden Städten Afghanistans sowie zu den persönlichen Umständen des Revisionswerbers getroffen und habe sich auf dieser Grundlage mit der Frage der bei einer Rückkehr zu erwartenden Lebensumstände des Revisionswerbers auseinandergesetzt. Die Revision habe vor dem Hintergrund der unbestritten gebliebenen Feststellungen des BVwG, wonach es sich beim Revisionswerber um einen gesunden und arbeitsfähigen Mann mit jahrelanger Berufserfahrung handle, der eine der Landessprachen Afghanistans spreche und zwar keine familiäre Unterstützung, jedoch finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe erhalten könne, nicht aufzuzeigen können, dass die Beurteilung des BVwG, dem Revisionswerber stehe in den Städten Herat und Mazar-e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative offen, fallbezogen mit einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Rechtswidrigkeit belastet wäre.

12. Der VfGH gewährte mit Beschluss vom 20.01.2021, unter der Zl. E 1703/2020-12, die in der Beschwerde beantragt aufschiebende Wirkung. Mit Erkenntnis des VfGH vom 29.09.2021, E 1703/2020-20, wurde festgehalten, dass der Beschwerdeführer durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und gegen die Feststellung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß Art. I Abs. 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durch-führung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. Nr. 390/1973, verletzt worden sei. Das Erkenntnis werde insoweit aufgehoben. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt. Insoweit werde die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

Es wurde festgehalten, dass ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreife, unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage vorliegen würde, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

Ein solcher Fehler sei dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 sei einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen werde, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Der Verfassungsgerichtshof habe in diesem Zusammenhang wiederholt darauf hingewiesen, dass die im Asylverfahren herangezogenen Länderberichte hinreichend aktuell sein müssen; dies betrifft insbesondere Staaten mit sich rasch ändernder Sicherheitslage (vgl. etwa VfSlg. 19.466/2011; VfGH 12.12.2019, E 3350/2019; 5.3.2020, E 394/2020; 21.9.2020, E 4673/2019). Vor diesem Hintergrund komme den vom Bundesverwaltungsgericht angestellten Ermittlungen bzw. getroffenen Feststellungen in Bezug auf die Situation im Herkunftsstaat besondere Bedeutung zu.

Das angefochtene Erkenntnis habe aber keine hinreichend aktuellen Länderberichte enthalten. Das Bundesverwaltungsgericht habe seine Feststellungen, dass dem Beschwerdeführer eine Ansiedelung in Herat und Mazar-e Sharif möglich und zumutbar sei, überwiegend auf Länderberichte aus dem Jahr 2018 gestützt. Insbesondere in Bezug auf die Sicherheitslage in den Provinzen Kapisa, Herat und Balkh (bzw. der Stadt Mazar-e Sharif) sowie hinsichtlich der Grundversorgung und Wirtschaft, dem Arbeitsmarkt und der Arbeitslosigkeit, der medizinischen Versorgung und der Situation von Rückkehrern finden sich hauptsächlich Informationen aus den Jahren 2017 und 2018. Feststellungen zur Grundversorgung in den Städten Herat und Mazar-e Sharif als innerstaatliche Fluchtalternativen würden gänzlich fehlen. Aktuelleren Datums wären nur die abgedruckten Kurzinformationen aus dem Jahr 2019, die jedoch hauptsächlich Feststellungen bezüglich politischer Ereignisse, ziviler Opfer sowie Anschlägen in Kabul beträfen. Wenn das Bundesverwaltungsgericht daher in seiner rechtlichen Beurteilung ausgeführt habe, dass es dem Beschwerdeführer unter Berücksichtigung der Sicherheits- und Versorgungslage möglich und zumutbar sei, sich in Herat oder Mazar-e Sharif anzusiedeln, weil der Zugang zu Unterkunft, grundlegender Versorgung und Erwerbsmöglichkeiten vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen grundsätzlich gegeben sei und die Provinzen als relativ friedlich gewertet würden, hätten sich diese Annahmen aus den zitierten Länderfeststellungen nicht ableiten lassen.

Daran habe auch die Feststellung des Bundesverwaltungsgerichtes, wo-nach im Hinblick auf die älteren Berichte zur Lage im Herkunftsstaat auszuführen sei, "[…] dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung von anderen[,] dem BVwG von Amts wegen vorliegenden Berichten aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert [...]" hätten, nichts zu ändern vermocht, denn der Inhalt dieses Materials sei im angefochtenen Erkenntnis nicht offengelegt worden (vgl. auch VfSlg. 19.642/2012; VfGH 22.9.2016, E 1641/2016 ua.).

Aus diesem Grund sei dem Verfassungsgerichtshof eine nachprüfende Kontrolle des angefochtenen Erkenntnisses in den relevanten Fragen nicht möglich gewesen.

Soweit sich das Erkenntnis auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie die Zulässigerklärung der Rückkehrentscheidung bzw. der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise beziehe, sei es daher mit Willkür behaftet und insoweit aufzuheben.

13.      Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?         Tazkira (samt englischer Übersetzung)

?        Kursbesuchsbestätigung „Deutsch für Asylwerber“

?        ÖSD-Zertifikat Deutsch A1 und A2

?        Bestätigungen, dass der BF gemeinnützig tätig geworden ist

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und muslimischen Glaubens. Die Muttersprache des BF ist Paschtu. Er ist im erwerbsfähigen Alter und ist gesund. Die in Afghanistan erlittenen Schussverletzungen beeinträchtigen den BF in seiner Arbeitsfähigkeit nicht.

Der BF wurde nach seinen Angaben in Dorf XXXX , im Distrikt XXXX in der Provinz Kapisa geboren. Er hat neun Jahre die Schule besucht, hat Autos verkauft und war fünf Monate lang bei der Armee in Ausbildung. Im Iran war er als Dachdecker und Maurer erwerbstätig. In Afghanistan würden sich jedenfalls noch seine Mutter und seine Schwester aufhalten. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF ist in Österreich bislang strafrechtlich unbescholten. Der BF ist daher in seinem Herkunftsstaat auch nicht vorbestraft und hatte keine Probleme mit Behörden und war politisch nicht aktiv.

Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan über den Iran und die Türkei, in Griechenland auf das Gebiet der EU eingereist, wo er schlepperunterstützt, unter Durchquerung mehrerer sicherer Staaten und illegal in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2.    Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dem BF ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.

Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat würde diesem daher auch ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), drohen.

Der BF verfügt über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und einer Sprache seines Herkunftsstaates als Muttersprache vertraut, weil er in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen und er hat in Afghanistan eine profunde Schulbildung erhalten und Berufserfahrung als Soldat in der Armee gesammelt.

1.3.    Zum Leben in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 23.06.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 23.06.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF hat keine weiteren Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich keine besonderen Merkmale der Abhängigkeit zu sonstigen in Österreich lebenden oder aufenthaltsberechtigten Personen.

Der BF pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Asylwerbern. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und ist auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften ist er auch kein Mitglied in einem Verein.

Er besuchte auch zahlreiche Deutschkurse und konnte seine Sprachkenntnisse auch durch Teilnahmebestätigungen und Prüfungszertifikate sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG darlegen. Er ist in der Lage, auf elementarer Ebene in einfachen, routinemäßigen Situationen des Alltags- und Berufslebens auf Deutsch zu kommunizieren.

Da der BF keine Arbeitserlaubnis hat, war er bisher in Österreich nicht erwerbstätig. Der BF lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Ferner verfügt er über keine Einstellungszusage. Der BF hat vereinzelt gemeinnützige bzw. ehrenamtliche Aufgaben übernommen und legt diesbezüglich Bestätigungen vor. Eine wirtschaftliche Integration ist dem BF nicht gelungen.

Im Strafregister der Republik Österreich scheint keine strafrechtliche Verurteilung des BF auf. Er ist unbescholten.

1.4.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 16.09.2021:

COVID-19

Letzte Änderung: 16.09.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Politische Lage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

Letzte Änderung: 16.09.2021

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).

Abzug der Internationalen Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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