Entscheidungsdatum
24.11.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W265 2193181-1/47E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , auch XXXX , XXXX geb. XXXX XXXX XXXX StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.03.2018, Regionaldirektion Wien, XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1, 2 und 4 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetztes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer reiste illegal nach Österreich ein und stellte am 24.05.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 26.05.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt, wo der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen angab, dass er in Afghanistan mit einem paschtunischen Mädchen eine sexuelle Beziehung gehabt habe, obwohl er verheiratet gewesen sei. Er sei von ihrer Familie mitgenommen und zwei Tage angehalten worden. Er und seine Familie seien von ihrer Familie bedroht worden, er habe fliehen können.
3. Am 16.07.2015 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zum Parteiengehör zur geplanten Anordnung zur Außerlandesbringung.
Dabei gab der Beschwerdeführer u.a. an, dass er bereits im Jahr 2011 für einige Monate in Österreich gewesen sei, danach sei er in seine Heimat zurückgekehrt. Im Jahr 2015 sei er wieder aus Afghanistan ausgereist und nach Österreich gekommen. In Ungarn seien ihm unter Zwang die Fingerabdrücke abgenommen worden.
4. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.09.2015 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und Ungarn gemäß Art. 18 Abs. 1b der VO (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlamentes und des Rates für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständig erklärt. Des Weiteren wurde eine Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG angeordnet und ausgesprochen, dass gemäß § 61 Abs. 2 FPG seine Abschiebung zulässig sei.
5. Der Beschwerdeführer erhob mit Schreiben vom 15.09.2015 gegen diesen Bescheid fristgerecht Beschwerde.
6. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.09.2015 wurde der Beschwerde stattgegeben und der Bescheid vom 08.09.2015 behoben.
7. Mit Schreiben vom 18.08.2016 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Taufbestätigung des Beschwerdeführers vom 07.07.2016 vor.
8. Am 17.10.2017 erfolgte eine weitere niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl.
Dabei gab der Beschwerdeführer u.a. an, dass er Hazara und seit zwei Jahren Christ sei. Er sei im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX in der Provinz Helmand geboren. In seinem Heimatdorf habe er fünf Jahre die Schule besucht, danach sei er Schuhmacher gewesen. Seine Eltern, drei Schwestern und seine Ehefrau würden in einem Haus in XXXX leben.
Zu seinen Fluchtgründen gab er zusätzlich an, dass er in Gefahr sei, er habe das Land verlassen müssen. Er habe ein paschtunisches Mädchen kennen gelernt und sich mit ihr getroffen. Jemand habe die beiden auf der Straße gemeinsam gesehen und ihre Familie informiert. Eines Tages hätte ihre Familie bewaffnet auf ihn gewartet und ihn mitgenommen. Er sei geschlagen und gefoltert worden. Sie hätten ihn gefesselt und in ein Zimmer gesperrt. Der Großvater des Mädchens habe ihn nach islamischen Recht bestrafen wollen. Der Beschwerdeführer habe durch ein Fenster flüchten können. Er habe seine Familie kontaktiert, von Freunden Geld bekommen und sei in den Iran gegangen. Seine Familie sei danach ebenso von der Familie des Mädchens bedroht worden. Diese hätten das Haus durchsucht und versucht ihn zu finden. Seine Familie habe nach wie vor Probleme, daher sei sie umgezogen.
Er legte Integrationsunterlagen und eine Taufurkunde vor.
9. Am 21.12.2017 erfolgte eine weitere niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl.
Ergänzend gab er an, dass er in der Landwirtschaft seines Großvaters gearbeitet habe und angelernter Schuhmacher sei. Er habe für 15 Jahre als Schuhmacher selbstständig in XXXX gearbeitet. Er war gläubiger Moslem, jedoch sei er über einen Freund in XXXX mit dem Christentum in Kontakt gekommen.
10. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit dem im Spruch genannten Bescheid bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten in Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan in Spruchpunkt II. gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab. Weiters erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ ihm gegenüber gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 leg.cit. iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.), und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Schließlich sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 leg.cit. FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten begründete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen damit, dass dem Beschwerdeführer nicht im gesamten Herkunftsstaat Verfolgung durch die Verwandten des Mädchens drohe. Das Vorbringen sei nicht glaubhaft. Des Weiteren habe er eine Verinnerlichung des behaupteten Glaubenswechsels zum Christentum sowie eine daraus resultierende Verpflichtung zur Missionierung nicht glaubhaft machen können.
11. Der Beschwerdeführer erhob mit Schreiben vom 16.04.2018 gegen diesen Bescheid fristgerecht Beschwerde. Dazu führte er im Wesentlichen aus, dass die rechtliche Beurteilung aufgrund von Feststellungs- und Begründungsmängel unrichtig sei.
Der Beschwerdeführer beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
12. Am 23.03.2020 wurde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Landespolizeidirektion XXXX über eine Anzeige gegen den Beschwerdeführer aufgrund des Verdachts des Diebstahls am 22.03.2020 verständigt.
13. Am 14.04.2020 verständigte die Staatsanwaltschaft XXXX das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Anklageerhebung gegen den Beschwerdeführer aufgrund des Verdachts des gewerbsmäßigen Diebstahls.
14. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 19.04.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 20.04.2018 in der Gerichtsabteilung W167 einlangte (vgl. OZ 1).
15. Mit Eingabe vom 01.02.2019 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen vor und beantragte die Befragung von zwei Zeugen in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. OZ 2).
16. Mit Eingaben vom 01.02.2019 und 25.02.2020 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung weitere Integrationsunterlagen vor (vgl. OZ 3 und 4).
17. Am 23.03.2020 verständigte die Landespolizeidirektion XXXX die belangte Behörde über die Anzeige gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Diebstahls (vgl. OZ 14).
18. Mit Eingabe vom 25.03.2020 reichte die belangte Behörde die Verständigung der Landespolizeidirektion XXXX über die Anzeige gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Diebstahls am 25.03.2020 nach (vgl. OZ 6).
19. Mit Eingabe vom 30.03.2020 reichte die belangte Behörde die Verständigung der Landespolizeidirektion XXXX über die Anzeige gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Diebstahls am 26.03.2020 nach (vgl. OZ 7).
20. Mit Eingabe vom 02.04.2020 reichte die belangte Behörde die Verständigung der Landespolizeidirektion XXXX über die Anzeige gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts des gewerbsmäßigen Diebstahls am 01.04.2020 nach (vgl. OZ 8).
21. Mit Eingabe vom 16.04.2020 reichte die belangte Behörde die Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX über die Anklage gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts des gewerbsmäßigen Diebstahls, zu XXXX , nach (vgl. OZ 9).
22. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 29.05.2020, zu XXXX rechtskräftig seit 29.05.2020, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 Abs. 1 erster Fall, 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Monaten verurteilt, welche unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde (vgl. OZ 15).
23. Am 29.05.2020 erfolgte eine weitere niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (vgl. OZ 13).
Dabei gab der Beschwerdeführer zu seiner Verurteilung vom 29.05.2020 an, dass es dumm gewesen sei und er so etwas nicht mehr machen werde.
24. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.01.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W167 abgenommen und der Gerichtsabteilung W265 neu zugewiesen, wo diese am 03.02.2021 einlangte (vgl. OZ 20).
25. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.02.2021 wurde das Verfahren aufgrund des zum damaligen Zeitpunktes unbekannten Aufenthaltes des Beschwerdeführers eingestellt (vgl. OZ 26).
26. Am 10.03.2021 wurde der Beschwerdeführer im Bundesgebiet aufgegriffen und ins XXXX eingeliefert (vgl. OZ 29).
27. Am 10.03.2021 wurde der Beschwerdeführer wegen Haftunfähigkeit aus der Anhaltung im XXXX entlassen (vgl. OZ 30).
28. Mit Eingabe vom 23.06.2021 legte die, mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX vom 27.05.2021, zu XXXX , bestellte Erwachsenenvertreterin des Beschwerdeführers eben genannten Beschluss und medizinische Unterlagen des Beschwerdeführers vor (vgl. OZ 31).
29. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.07.2021 wurde das eingestellte Verfahren fortgesetzt (vgl. OZ 35).
30. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 30.09.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Diese musste aufgrund des unentschuldigten Fernbleibens der Erwachsenenvertreterin vertagt werden (vgl. OZ 37).
31. Mit Eingabe vom 08.11.2021 gab die Erwachsenenvertreterin die Vollmacht der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH bekannt (vgl. OZ 42).
32. Mit Eingabe vom 09.11.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Taufurkunde vom 21.10.2016, Integrationsunterlagen, Arztbestätigungen und Unterstützungserklärungen vor und gab eine Stellungnahme ab. Dazu führte er im Wesentlichen aus, dass sich die Lage in Afghanistan aufgrund der Machtübernahme durch die Taliban verschärft habe. Die Gefahr der asylrelevanten Verfolgung von Konvertiten habe sich dramatisch erhöht. Des Weiteren sei der Beschwerdeführer aufgrund seiner psychischen Erkrankung besonders vulnerabel. Zudem habe sich die Versorgungslage in Afghanistan noch weiter verschlechtert. (vgl. OZ 43)
33. Das Bundesverwaltungsgericht setzte am 11.11.2021 u.a. im Beisein des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers die öffentliche mündliche Verhandlung fort, in welcher er ausführlich zu seiner in Österreich erfolgten Konversion, seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat und seiner Integration in Österreich befragt wurde. Neben der Befragung des Beschwerdeführers fand eine Zeugenbefragung eines Mitglieds und des Pastors der Baptistengemeinde im Hinblick auf die vom Beschwerdeführer in dieser Kirche erfolgte Konversion und die damit in Zusammenhang stehenden Umstände durch. Der Beschwerdeführer legte zudem einen fachärztlichen Befund vor. (vgl. OZ 45)
Die belangte Behörde nahm an den Verhandlungen nicht teil. Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Anschluss an die Verhandlung übermittelt.
Zu dem in der mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingebrachten Länderinformationen gab der Vertreter keine Stellungnahme ab und verwies auf das bisherige Vorbringen und Anträge.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie die Einvernahmen des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht und der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er führt den Namen XXXX XXXX im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Helmand geboren und dort auch aufgewachsen. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht auch Deutsch.
Er war in Afghanistan verheiratet und ist seit 2018 geschieden. Er hat keine Kinder.
Sein Vater heißt XXXX und ist ca. 61 Jahre alt, seine Mutter heißt XXXX und ist ca. 53 Jahre alt. Er hat drei Schwestern, XXXX (ca. 24 Jahre), XXXX (ca. 22 Jahre) und XXXX (ca. 21 Jahre). Seine Familie lebt in XXXX . Sein Vater ist seit 2011 unbekannten Aufenthaltes. Er hat wenig Kontakt mit seiner Familie.
Er hat des Weiteren zwei Onkel väterlicherseits, einen Onkel und eine Tante mütterlicherseits in Afghanistan.
In seinem Heimatdorf besuchte er fünf Jahre die Schule, arbeitete in der Landwirtschaft der Familie und als Schuster.
Der Beschwerdeführer reiste bereits im Jahr 2011 nach Österreich und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Damals erhielt er einen negativen Asylbescheid und kehrte nach Afghanistan zurück. Vor der weiteren Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2015 lebte er in XXXX , in der Provinz Helmand.
Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2015 aus Afghanistan aus und gelangte in der Folge nach Österreich, wo er am 24.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Der Beschwerdeführer leidet an einer chronischen paranoiden Schizophrenie und war darauffolgend eine Zeit lang obdachlos. Von 10.03.2021 bis 07.04.2021, von 09.04.2021 bis 27.04.2021 und ab 29.04.2021 war er in stationärer psychiatrischer Behandlung. Seit 13.08.2021 wird er im Rahmen des Liasondienstes im Flüchtlingsquartier regelmäßig psychiatrisch behandelt. Er nimmt Medikamente und Depotspritzen. Die Einstellung der Medikation ist noch im Gange. Aufgrund seiner Erkrankung wurde für ihn mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 27.05.2021 eine Erwachsenenvertreterin für die Vertretung vor Ämtern und Behörden, Verwaltung von Einkünften, Vermögen und Verbindlichkeiten und Vertretung in Wohnungsangelegenheiten bestellt.
Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 29.05.2020, zu XXXX rechtskräftig seit 29.05.2020, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 Abs. 1 erster Fall, 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Monaten verurteilt, wobei diese unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.
Anzumerken ist, dass der Beschwerdeführer während seiner begangenen Straftat bereits unter den Auswirkungen der chronischen paranoiden Schizophrenie litt und obdachlos war.
1.2. Zu der in Österreich erfolgten Konversion des Beschwerdeführers zum Christentum:
Der Beschwerdeführer wuchs als schiitischer Moslem auf. Bereits bei seinem ersten Aufenthalt in Österreich im Jahr 2011 lernte er den christlichen Glauben sowie die baptistische Kirche über regelmäßige Treffen, mit Menschen verschiedenster Nationalitäten, in einem Café namens „ XXXX “ kennen. Über eine dortige Filmvorführung über das Leben des Jesu Christi und über Gespräche mit den Anwesenden wurde sein Interesse am Christentum geweckt. Im Jahr 2015, als er wieder nach Österreich kam besuchte er wieder das Café und lernte dort zwei Männer kennen, die ihm über das Christentum erzählten und ihn in eine Kirche in XXXX mitnahmen.
Nachdem er im Jahr 2016 Religionskurse besuchte und seine Kontakte mit Mitgliedern der Baptistengemeinde vertiefte, entschied er sich zu konvertieren und sich taufen zu lassen. Er besuchte dazu zwei Taufvorbereitungskurse. Am 19.06.2016 wurde er in der Baptistengemeinde in XXXX getauft. Der Beschwerdeführer besucht nach wie vor regelmäßig den farsisprachigen Glaubenskurs und den Gottesdienst und ist ehrenamtlich in der Baptistengemeinde tätig. Er besitzt die Bibel in Farsi und Deutsch und liest daraus wöchentlich. Er betet täglich und trifft sich einmal in der Woche mit den anderen Gemeindemitgliedern.
Der Beschwerdeführer ist während seines Aufenthaltes in Österreich aus freier persönlicher Überzeugung und von Ernsthaftigkeit sowie Nachhaltigkeit getragen zum christlichen Glauben konvertiert.
Seine Familie in Afghanistan weiß über seine Konversion Bescheid, wobei sie anfänglich nicht damit einverstanden war, letztendlich seine Entscheidung jedoch akzeptierte. Seine Ehefrau ließ sich aufgrund seiner Konversion von ihm scheiden. Zwar erzählte er nicht jedem seiner afghanischen Bekannten von seiner Konversion, da er vor einem Streit Angst hatte, sein engster Freundeskreis weiß jedoch darüber Bescheid und empfindet seine Entscheidung als gut. Es ist daher nicht anzunehmen, dass der Beschwerdeführer seinen christlichen Glauben in seinem Herkunftsstaat Afghanistan verleugnen würde. Der christliche Glaube ist Teil seiner Identität geworden. Sein soziales Umfeld, sein Tagesablauf und seine Lebenseinstellung sind vom christlichen Glauben geprägt.
Auch nach dem Ausbruch seiner Erkrankung und während seiner Obdachlosigkeit suchte und erhielt er Unterstützung durch die Baptistengemeinde, durch welche er sich schlussendlich in psychiatrische Behandlung begab.
Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seiner Hinwendung zum Christentum physische und/oder psychische Gewalt.
Es liegen keine Gründe vor, nach denen der Beschwerdeführer von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen ist oder nach denen ein Ausschluss des Beschwerdeführers hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat.
Die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative ist für den Beschwerdeführer nicht gegeben.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 16.09.2021 (LIB)
- UNHCR Position zur Rückkehr nach Afghanistan von August 2021
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)
- Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)
- ACCORD- Anfragebeantwortung vom 02.09.2016: Lage der Hazara
- ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan vom 01.06.2017: Situation von Apostaten, christlichen KonvertitInnen, Personen, die Kritik am Islam äußern, die sich nicht an den Regeln des Islam halten, und Rückkehrern aus Europa
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 12. Juli 2017: Christen, Konvertiten, Abtrünnige in Afghanistan
- ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan vom 09.11.2017: Situation vom muslimischen Familienangehörigen und vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), christlichen Konvertiten und Personen, die sich kritisch gegenüber dem Islam äußern
- ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan vom 15.06.2020: Apostasie, Blasphemie, Konversion, Verstoß gegen islamische Verhaltensregeln, gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 23.07.2020: aktuelle Lage von Konvertiten
1.3.1. Ethnische Gruppen
Letzte Änderung: 16.09.2021
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 37,5 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind die größten Bevölkerungsgruppen: 32 bis 42% Paschtunen, ca. 27% Tadschiken, 9 bis 20% Hazara, ca. 9% Usbeken, 2% Turkmenen und 2% Belutschen (LIB).
Neben den alten Blöcken der Islamisten und linksgerichteten politischen Organisationen [Anm.: welche oftmals vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan entstanden] mobilisieren politische Parteien in Afghanistan vornehmlich entlang ethnischer Linien, wobei letztere Tendenz durch den Krieg noch weiter zugenommen hat. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf die verschiedenen ethnischen Gruppen sind noch keine validen Informationen bekannt]
1.3.1.1. Hazara
Letzte Änderung: 16.09.2021
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazarajat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (LIB).
Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (LIB).
Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazarajat lebt, ist ismailitisch. Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind, leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (LIB).
Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft [1996-2001] besonders verfolgt waren, hat sich [bis zur erneuten Machtübernahme durch die Taliban im August 2021] grundsätzlich verbessert. Sie wurden jedoch weiterhin am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, fanden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (LIB).
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (LIB).
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (LIB).
Während des gesamten Jahres 2020 und auch 2021 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Am 6.3.2021 griffen Bewaffnete eine Zeremonie in Kabul an, an der hauptsächlich schiitische Hazara teilnahmen, und töteten 32 Personen. Am 24.10.2021 tötete ein Selbstmordattentäter in einem Bildungszentrum in einem Hazara-Viertel von Kabul 40 Personen und verwundete 72 weitere. Der ISKP bekannte sich dazu. Viele der Opfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen wie im Mai 2021, als eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi explodierte, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB).
In Randgebieten des Hazarajat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (LIB).
Im Juli 2021 berichtete AI (Amnesty International) über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni. AI nimmt an, dass diese Tötungen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Todesopfer durch die Taliban darstellen, da die Gruppe in vielen Gebieten, die sie kürzlich erobert hat, die Mobilfunkverbindung gekappt hat und kontrolliert, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen verbreitet werden (LIB).
1.3.1.2. Lage der Hazara
(ACCORD Anfragebeantwortung vom 02.09.2016)
In einem Update zur Sicherheitslage in Afghanistan vom September 2015 thematisiert die regierungsunabhängige Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) die Situation von Hazara und beschreibt Maßnahmen gegen Hazara wie folgt:
„Diskriminierung gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten sind verbreitet und es kommt immer wieder zu Spannungen zwischen verschiedenen Ethnien, welche zu Todesopfern führen. Die Diskriminierung Angehöriger der Hazara äussert sich in Zwangsrekrutierungen, Zwangsarbeit, Festnahmen, physischem Missbrauch oder illegaler Besteuerung. Hazara wurden überdurchschnittlich oft zu Opfern gezielter Ermordungen.“ (SFH, 13. September 2015, S. 18)
Der im April 2016 veröffentlichte Länderbericht des US-Außenministeriums (US Department of State, USDOS) zur Menschenrechtslage (Berichtsjahr: 2015) hält fest, dass Hazara von fortwährender, sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt und Inhaftierung betroffen seien. Laut NGOs seien Hazara-Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) einem stärkeren Risiko ausgesetzt, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden als Nicht-Hazara-Beamte. Aus mehreren Provinzen, darunter Ghazni, Zabul und Baghlan, seien eine Reihe von Entführungen von Hazara berichtet worden. Die Entführer hätten Berichten zufolge ihre Opfer erschossen, enthauptet, Lösegeld für sie verlangt oder sie freigelassen. Im Februar 2015 hätten Aufständische 31 Hazara-Männer aus einem Bus in der Provinz Zabul entführt und im Mai 2015 19 Geiseln und im November 2015 acht weitere freigelassen. Mit Stand November 2015 seien die übrigen vier Geiseln weiterhin vermisst gewesen:
Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) bemerkt in ihrem im Februar 2016 erschienenen Jahresbericht zum Jahr 2015, dass sie während des Jahres 2015 einen starken Anstieg bei Entführungen und Tötungen von Hazara-ZivilistInnen durch regierungsfeindliche Kräfte verzeichnet habe. So hätten regierungsfeindliche Kräfte zwischen 1. Jänner und 31. Dezember 2015 mindestens 146 Mitglieder der Hazara-Gemeinde bei insgesamt 20 verschiedenen Vorfällen getötet. Mit Ausnahme eines einzigen Vorfalls hätten sich alle in ethnisch gemischten Gebieten ereignet, die sowohl von Hazara als auch von Nicht-Hazara-Gemeinden besiedelt seien, und zwar in den Provinzen Ghazni, Balch, Sari Pul, Faryab, Uruzgan, Baghlan, Wardak, Jowzjan und Ghor. UNAMA habe die Freilassung von 118 der 146 entführten Hazara bestätigen können. 13 entführte Hazara seien von regierungsfeindlichen Kräften getötet worden, während zwei weitere in Geiselhaft verstorben seien. UNAMA habe den Verbleib der übrigen Geiseln nicht eruieren können. Die Motive für die Entführungen seien unter anderem Lösegelderpressung, Gefangenenaustausche, Verdacht der Mitgliedschaft bei den Afghanischen Nationalen Sicherheitskräften (ANSF) und Nichtbezahlung illegaler Steuern gewesen. In manchen Fällen seien die zugrundeliegenden Motive unbekannt gewesen. UNAMA führt folgende Beispiele für Entführungen und anschließende Tötungen von Hazara an:
Am 23. Februar 2015 seien im Bezirk Shajoy der Provinz Zabul 30 Hazara-Insassen zweier öffentlicher Busse, die von Herat nach Kabul unterwegs gewesen seien, von regierungsfeindlichen Gruppen entführt worden. Drei der Entführungsopfer seien während ihrer Gefangenschaft getötet worden, während zwei offenbar aufgrund von natürlichen Ursachen verstorben seien. Zwischen Mai und August 2015 seien die übrigen Geiseln freigelassen worden, nachdem es Berichten zufolge zu einem Austausch mit einer Gruppe von Häftlingen gekommen sei.
Am 13. Oktober 2015 hätten regierungsfeindliche Kräfte sieben Hazara-ZivilistInnen, darunter zwei Frauen, zwei Jungen und ein Mädchen, die sich auf der Autobahn zwischen Kabul und Kandahar auf dem Weg in den Distrikt Jaghuri (Provinz Ghazni) befunden hätten, entführt. Stammesälteste hätten sich vergeblich um deren Freilassung bemüht. Die Hazara seien im Distrikt Arghandab der Provinz Zabul festgehalten worden, bis Kämpfe zwischen rivalisierenden regierungsfeindlichen Gruppen, darunter auch der Gruppe, zu denen die Entführer gehört hätten, ausgebrochen seien. Im Zeitraum von 6. bis 8. November hätten die regierungsfeindlichen Kräfte allen sieben Hazara-ZivilistInnen, darunter auch den Kindern, die Kehlen durchgeschnitten. Dieser Vorfall habe Demonstrationen in der Stadt Kabul ausgelöst, bei denen mehr Schutz für die Hazara-Gemeinschaft gefordert worden sei.
Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), eine Agentur der Europäischen Union, die die praktische Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Asylbereich fördern soll, nennt in einem Bericht zur Sicherheitslage in Afghanistan vom Jänner 2016 Beispiele von Sicherheitsvorfällen, die Hazara betreffen. Demnach seien im Februar 2015 bei zwei Vorfällen Mitglieder der Hazara Minderheit von maskierten bewaffneten Männern im Distrikt Kajran [Provinz Daykundi, Anm. ACCORD] in ihren Fahrzeugen gestoppt worden. Die Reisenden seien nach ihrem religiösen Glauben gefragt worden und 55 der Reisenden seien entführt und an unbekannte Orte gebracht worden. Laut offiziellen Quellen hätte es sich bei den Entführern um Taliban gehandelt, Augenzeugenberichte würden aber auf eine Beteiligung der Gruppe Islamischer Staat (IS) hindeuten.
Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) erwähnt in ihrem World Report vom Jänner 2016, dass es im Jahr 2015 einen Anstieg von Entführungen und Geiselnahmen von ZivilistInnen durch aufständische Gruppen gegeben habe, darunter auch die zwei Vorfälle in der Provinz Zabul, nämlich die Entführung und Tötung von 7 ZivilistInnen am 9. November und die Entführung von 31 Businsassen am 23 Februar, von denen 19 wieder freigelassen worden seien. In beiden Fällen seien die Opfer offenbar wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu den Hazara ins Visier genommen worden.
Der in Prag ansässige, vom US-Kongress finanzierte Radiosender Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) berichtet im August 2015, dass vier Männer, die in der Woche zuvor entführt worden seien, im Distrikt Nawur der Provinz Ghazni erschossen aufgefunden worden seien. Bei drei der Toten handle es sich um Hazara, bei dem Vierten um einen Paschtunen. Bei einem weiteren Vorfall im August seien mindestens acht weitere Hazara auf dem Weg in die Stadt Ghazni entführt worden. Im Februar seien 30 Hazara in der Provinz Zabul, im Süden von Ghazni, entführt worden. 19 seien im Mai wieder freigelassen worden, zwei seien getötet worden, und neun seien noch als vermisst gemeldet. Im Juli seien 11 Hazara im Norden der Provinz Baghlan entführt worden.
Die Nachrichtenargentur Agence France-Presse (AFP) berichtet im September 2015, dass Bewaffnete im Distrikt Zari der größtenteils ruhigen Provinz Balch 13 männliche Hazara erschossen hätten, nachdem sie zwei Fahrzeuge aufgehalten und die Insassen gezwungen hätten, auszusteigen.
Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) berichtet im November 2015 über die Enführung von mindestens sieben Hazara durch die Taliban, nachdem es zu einem lokalen Streit um Schafe gekommen sei. Die Taliban hätten drei Busse in der Provinz Zabul aufgehalten und zunächst 17 Geiseln genommen und neun von ihnen wieder freigelassen. Ein örtlicher Taliban-Anführer habe die Entführungen mit der Begründung angeordnet, dass Hazara Schafe gestohlen hätten.
In einer Pressemitteilung vom November 2015 schreibt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) über Proteste in der afghanischen Hauptstadt Kabul am 11. November 2015 aufgrund einer Reihe von ethnisch motivierten Tötungen. Die Pressemitteilung berichtet über die Entführung und anschließende Tötung von sieben Hazara, darunter auch zwei Mädchen, am 9. November in der Provinz Zabul. Es habe sich keine Gruppe zu dem Anschlag bekannt. Weiters wird beschrieben, dass sich die Sicherheitslage im Berichtsjahr 2015 in vielen Gebieten Afghanistans verschlechtert, die Gewalt gegen Zivilisten zugenommen habe und dass es zu internen Machtkämpfen zwischen rivalisierenden Fraktionen innerhalb der Taliban gekommen sei. HRW berichtet, dass eine der größten Splitterfraktionen der Taliban von Mullah Abdul Manan Niazi angeführt werde, welcher zur Zeit des Massakers an tausenden von Hazara in Mazar-e-Sharif 1998 Taliban-Gouverneur in der Provinz Balch gewesen sei. Diese Gruppe werde Berichten zufolge vom Islamischen Staat (IS) unterstützt und sei in dem Gebiet in der Provinz Zabul aktiv, in dem die sieben Hazara getötet worden seien. Wenngleich alle Zivilisten in Konfliktgebieten gefährdet seien, würden die Tötungen in Zabul die besondere Gefährdung aufzeigen, mit denen Hazara konfrontiert seien. In den vergangenen zwei Jahren seien bei einer Reihe von Vorfällen Hazara-Buspassagiere von anderen Insassen ausgesondert und entführt und in manchen Fällen getötet worden.
BBC Monitoring schreibt in der Zusammenfassung eines Berichts der in Pakistan ansässigen privaten Nachrichtenagentur Afghan Islamic Press News Agency im März 2016, dass in der nördlichen Provinz Sar-e Pul 11 Hazara entführt worden seien. Laut des Polizeichefs der Polizeizentrale von Sar-e Pul, seien die 11 Hazara aufgrund ihrer Ethnizität von den Taliban entführt worden. Es handle sich bei den Entführten um Zivilisten, die nicht für die Regierung arbeiten würden. Die Taliban hätten sich noch nicht zu dem Vorfall geäußert.
In der Vergangenheit seien einige ethnische Hazara in Zabol, Ghazi und anderen Provinzen entführt worden. Manche seien freigelassen, andere seien getötet worden.
Im Juni 2016 berichtet die Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP), dass Bewaffnete im Bezirk Santscharak der Provinz Sar-e-Pul mindestens 17 reisende Hazara, bei denen es sich allesamt um Zivilisten, die nicht mit der Regierung in Verbindung gebracht werden könnten, handle, aus ihren zivilen Fahrzeugen gezerrt und in ein entlegenes Gebiet gebracht hätten, das sich unter Taliban- Kontrolle befinde. Laut dem ortsansässigen Gouverneur seien die Dorfältesten gebeten worden mit den Taliban über die Freilassung der Entführten zu verhandeln.
Zwei Tage später berichtet Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), dass die 17 oben erwähnten, von den Taliban entführten Hazara freigelassen worden seien. Der Vorfall in der Provinz Sar-e-Pul sei Teil einer Serie von Angriffen auf zivile Fahrzeuge gewesen. Die Taliban hätten sich nicht zu dem Vorfall geäußert.
In den letzten Monaten habe es einen Anstieg der Gewalt gegen Hazara in Form einer Reihe von Entführungen und Tötungen gegeben. In einem der letzten Vorfälle hätten die Taliban 10 Busreisende getötet, viele davon seinen summarisch hingerichtet worden, und ein Dutzend andere seien im Norden der Provinz Kunduz entführt worden. Laut dem Provinz-Gouverneur hätten die Dorfältesten und die ortsansässigen Bewohner die sichere Befreiung der Geiseln, bei denen es sich um Zivilisten handelte, ausgehandelt.
In einem Statement vom Juni 2016 äußert sich die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) besorgt über den Anstieg von Entführungen, Geiselnahmen sowie summarischen Hinrichtungen und berichtet von einer bewaffneten Entführung von 25 ZivilistInnen, bei denen es sich Berichten zufolge allesamt um Hazara gehandelt habe. Die Entführten seien in zwei Fahrzeugen im Bezirk Balkh Ab, der nördlichen Provinz Saripul (Sar-e-Pul), unterwegs gewesen. Während vier Frauen und ein älterer Herr wieder freigelassen worden seien, sei der Verbleib der 20 Anderen nicht bekannt.
Im Juli 2016 beschreibt die deutsche Tageszeitung (Taz) einen Anschlag der Gruppe Islamischer Staat (IS) während einer Demonstration von Hazara in der Stadt Kabul, bei dem mindestens 80 Personen ums Leben gekommen seien: „Die Zahl der Todesopfer bei einem Anschlag auf friedliche Demonstranten in der afghanischen Hauptstadt Kabul ist auf mindestens 80 gestiegen. Außerdem seien bei dem Bombenanschlag am Samstag 231 Menschen verletzt worden, teilte das afghanische Innenministerium mit. Nach vorläufigen Informationen sei die Tat von drei Selbstmordattentätern begangen worden. ‚Der dritte Angreifer wurde von Sicherheitskräften niedergeschossen‘, hieß es weiter. […] Tausende Angehörige der ethnischen Minderheit der Hasara hatten in der afghanischen Hauptstadt für den Bau einer Stromtrasse in der vernachlässigten Region Bamijan demonstriert, als inmitten der Menschenmenge mindestens ein Sprengsatz detonierte. Ein AFP-Fotograf sah am Tatort dutzende zum Teil völlig zerfetzte Leichen. Krankenwagen hatten Schwierigkeiten, zum Explosionsort zu gelangen, weil die Behörden Straßenkreuzungen blockiert hatten, um zu verhindern, dass die Demonstranten zum Präsidentenpalast marschieren. Zu der Tat bekannte sich die Dschihadistenorganisation Islamischer Staat (IS). Die radikalislamischen Taliban, die derzeit ihre Sommeroffensive gegen die afghanischen Sicherheitsbehörden führen, wiesen jegliche Beteiligung an dem Anschlag zurück.” (Taz, 23. Juli 2016)
In einem weiteren Artikel vom Juli 2016, geht die Taz auf die Motive für den oben beschriebenen Anschlag ein:
„Der IS-Anschlag auf die Friedensdemo in Kabul mit mindestens 80 Toten hatte militärisch keinen Sinn. Ziel war eine schiitische Minderheit. Es gibt kaum Zweifel daran, dass der schwere Anschlag am Sonnabend in Kabul vom örtlichen Ableger des Islamischen Staates (IS) durchgeführt worden ist. Die Handschrift des Anschlags spricht eindeutig dafür: Es ist ein skrupelloser Akt ohne jeglichen militärischen Sinn: gegen den friedlichen, von Zivilisten getragenen Protest der schiitischen Hazara-Minderheit und gegen die schiitische Minderheit insgesamt gerichtet, die vom IS und seinen Geistesgenossen nicht als ‚richtige‘ Muslime angesehen werden.“ (Taz, 25. Juli 2016)
Regionale Aspekte zur Sicherheitslage der Hazara
In einer E-Mail-Auskunft vom 11. August 2016 teilt Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network (AAN), einer unabhängigen gemeinnützigen Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, mit, dass es unterschiedlich gefährliche Gegenden überall in Afghanistan gebe. Berichten zufolge werde zwischen "sehr gefährlich", "mittel-gefährlich" und "niedrig-gefährlich" unterschieden, nicht gefährlich würde nicht vorkommen. Das würde daran liegen, dass vereinzelte Kampfhandlungen, Terroranschläge oder Entführungen jederzeit und überall möglich seien und diese seien in letzter Zeit besonders gegen Hazara gerichtet. Weiters würde er nicht zwischen städtischen und ländlichen Gebieten unterscheiden, die Sicherheitslage und die Kampfsituation seien sehr fließend, dem asymmetrischen Charakter des Krieges entsprechend, und es gebe kaum feste Frontverläufe (Ruttig, 11. August 2016).
Melissa Chiovenda Kerr, eine in der USA und Afghanistan tätige Anthropologin, die sich mit Hazara beschäftigt, antwortet in einer E-Mail-Auskunft an ACCORD vom 25. August 2016 folgendes auf die Frage, ob es bestimmte Regionen gebe, in denen die Sicherheit von Hazara besonders gefährdet sei, oder ob es möglich sei, zwischen gefährlichen und weniger gefährlichen Regionen für Hazara zu unterscheiden („Are there specific regions (provinces, districts etc.) where the security of Hazara is particularly threatened? Or is it possible to localize security threats, saying that some regions are more dangerous and other regions are less dangerous?”). Auch wenn dies definitiv der Fall sei, gebe es große Vorbehalte gegen eine solche Unterteilung in sichere und nicht-sichere Regionen, da grundsätzlich jeder, der in Mehrheitsgebieten der Hazara ansässig sei, aufgrund von Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung in größere Städte reisen müsse. Fast alle Hazara würden durch unsichere Regionen reisen müssen, wo sie aufgrund ihrer Ethnizität und Religionszugehörigkeit gefährdet seien.
Grundsätzlich seien homogene Gebiete, in denen hauptsächlich Hazara wohnen würden, sicher, die Provinzen Bamiyan und Daikondi seien Großteils sicher. Es gebe instabile Gebiete im nördlichen Teil Bamiyans, der an Regionen grenze, in denen es Aktivitäten aufständischer Kämpfer gebe. Die Provinz Daikondi sei auch zu großen Teilen sicher, mit Ausnahme der Gebiete, die an die Provinz Urusgan grenzen würden, wo es Aktivitäten aufständischer Kämpfer gebe. Nötige Reisen aus diesen sicheren Gebieten und Provinzen nach Kabul oder Kandahar seien aber extrem heimtückisch. In der Provinz Wardak gebe es zwei Distrikte mit Hazara-Mehrheiten namens Behsud, die zu großen Teilen sicher seien, außer wenn jährlich Konflikte mit paschtunischen Kuchi-Nomaden, die in die Region ziehen würden, aufgrund von Landstreitigkeiten ausbrechen würden. In der Provinz Ghazni würden viele Hazara und Paschtunen wohnen und Hazara seien dort sehr gefährdet. Auch dort gebe es Distrikte wie Jaghori mit Hazara-Mehrheiten, in denen es grundsätzlich sicher sei, aber die dortigen Bewohner müssten in die Stadt Ghazi reisen, was gefährlich sei. Es gebe Gebiete wie Karabogh, in denen Hazara und Paschtunen in gemischten Gemeinschaften zusammenleben würden, die extrem gefährlich seien. Dieses Muster lasse sich überall wiederfinden, im Norden sowie im Westen. Die Antwort sei deshalb grundsätzlich, dass es zwar Gebiete gebe die sicher seien, wenn es möglich wäre einen bestimmten Distrikt niemals zu verlassen. Da Menschen aber medizinische Versorgung bräuchten und arbeiten müssten, seien alle Hazara, ohne Ausnahme, einem Risiko ausgesetzt, wenn sie längere Strecken („travelling“) zurücklegen würden. Nach dem Anschlag am 23. Juli 2016 (Selbstmordanschlag in Kabul auf eine Demonstration von Hazara, bei dem 80 Menschen getötet und rund 230 verletzt wurden, Anmerkung ACCORD), gebe es Berichte von Quellen, die nicht genannt werden können, dass weitere Anschläge geplant seien, Kabul selbst sei für Hazara daher unsicher.
Die internationale Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP) schreibt in einem Artikel vom Dezember 2015, dass es westlich der Stadt Maidan Shahr einen 40 Kilometer langen Abschnitt einer Schnellstraße gebe, der als „Todesstraße“ bekannt sei, da dort Mitglieder der Hazara-Minderheit von Aufständischen getötet würden. Ein Busfahrer berichtet davon, dass er über die Jahre zahlreiche Leichen ohne Kopf an der Straße gesehen habe. Die Menschen seien von den Taliban getötet worden. Die Straße führe durch die Provinz Wardak, in der es viele Taliban gebe, und sei eine von nur zwei Möglichkeiten um nach Bamyan, eine der wichtigsten Städte des Hazarajat, zu gelangen. Nach einer Reihe von Enthauptungen und Entführungen und Furcht vor einem Wiederaufleben der Taliban und dem Aufstieg der Gruppe Islamischer Staat hätten Tausende in Kabul gegen die unsichere Lage der Hazara demonstriert. Laut dem Menschenrechtsaktivist Aziz Royesh sei es den Hazara nicht möglich ihre Heimat zu verlassen, da sie auf den Straßen ihr Leben riskieren würden. Statistiken, die die genaue Anzahl der Tötungen auf der „Todestsraße“ verzeichnen, würden nicht zur Verfügung stehen.
Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), beschreibt in seinem Bericht zur Sicherheitslage in Afghanistan vom Jänner 2016, ebenfalls von einer „Todesstraße“, die durch Wardak nach Bamyan führe. Straßensicherheit habe sich nicht verbessert. Aufgrund verstärkter Kontrolle ländlicher Gebiete durch die Taliban seien die Straßen unsicherer geworden und manche Distrikte seien von den Städten abgeschnitten.
Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet im November 2015 von Protesten in Kabul. Laut den DemonstrantInnen würden Hazara jeden Tag auf den Straßen zwischen den Provinzen Ghazni, Bamyan and Wardak im Westen von Kabul, in denen die Taliban weite Landstriche kontrollieren würden, getötet.
Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), beschreibt in seinem Bericht zur Sicherheitslage in Afghanistan vom Jänner 2016, dass Bamyan, in der viele Angehörige der Hazara Minderheit leben würden, als die sicherste Region des Landes bekannt sei und wenige Vorfälle verzeichnet worden seien. Trotzdem sei die Region, durch steigende Unsicherheit gefährdet, da sie an manche der am unbeständigsten Regionengrenze.
Die wöchentliche Dokumentationsreihe Foreign Correspondent des australischen Fernsehsenders ABC berichtet im April 2016 über die Provinz Bamiyan, in der viele Hazara leben würden. Hazara seien stark besorgt, dass die Taliban in die Region kommen würden.
In einer Schnellrecherche zur Sicherheitslage in der Provinz Uruzgan vom 6. Juni 2016 geht die regierungsunabhängige Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) auf die Situation der Zivilbevölkerung und besonders der Hazara im Distrikt Khas Uruzgan ein und beschreibt die Lage wie folgt:
„Taliban setzten Hazara unter Druck. Durch ihre starke Präsenz im Distrikt Khas Uruzgan setzten die Taliban laut AAN (2. September 2015) die lokalen Hazara vermehrt unter Druck, sich von ihnen rekrutieren zu lassen oder sie zu unterstützen, und dies besonders in den von Hazara bewohnten Gebieten Palan und Shashpar. Kämpfe im Distrikt Khas Uruzgan im Jahr 2015 sind vom ethnischen Konflikt zwischen Hazara und Paschtunen beeinflusst. Laut AAN (2. September 2015) findet sich die Zivilbevölkerung – Hazaras und Paschtunen– im Distrikt Khas Uruzgan oft auf entgegengesetzten Seiten eines grösseren Konflikts wieder. Wegen der strategischen Lage des Distrikts sind die Distrikthauptstadt und die Standorte der Sicherheitskräfte seit Jahren immer wieder umkämpft. […] Konflikt zwischen Kuchis und Hazara. Während der Belagerung Samads [Afghan Local Police (ALP) commander Abdul Samad] durch die Taliban griff laut AAN [Afghanistan Analysts Network] (2. September 2015) Abdul Hakim Shujai, ein der Hazara-Ethnie angehörender, wegen Menschenrechtsverletzungen umstrittener ehemaliger ALP-Kommandeur, die Taliban an. Er gerierte sich als Verteidiger der im Distrikt Khas Uruzgan ansässigen Hazara, denen als «taleban» bezeichnete Kuchis (paschtunischen Nomaden) aus dem Distrikt Ajiristan in der Provinz Ghazni bis zu 200 Schafe gestohlen hatten.“ (SFH, 6. Juni 2016, S. 5-6)
1.3.2. Religionsfreiheit
Letzte Änderung: 14.09.2021
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus. Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden. Der letzte bislang in Afghanistan lebende Jude hat nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen. Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (LIB).
In den fünf Jahren vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichteten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskierten (LIB).
In Hinblick auf die Gespräche im Rahmen des Friedensprozesses, äußerten einige Sikhs und Hindus ihre Besorgnis darüber, dass in einem Umfeld nach dem Konflikt von ihnen verlangt werden könnte, gelbe (Stirn-)Punkte, Abzeichen oder Armbinden zu tragen, wie es die Taliban während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 vorgeschrieben hatten (LIB).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf Religionsfreiheit sind noch keine validen Informationen bekannt]
1.3.2.1. Schiiten
Letzte Änderung: 14.09.2021
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wurde vor der Machtübernahme durch die Taliban auf 10 bis 19% geschätzt. Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Vertretern der Religionsgemeinschaft sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (LIB).
Direkte Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten waren vor der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan selten. Im Jahr 2020 verzeichnete UNAMA 19 Angriffe mit 115 zivilen Opfern (60 Tote und 55 Verletzte), die dem ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und anderen regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben werden und die auf Kultstätten, religiöse Führer und Gläubige abzielten, verglichen mit 20 Angriffen im Jahr 2019 mit 236 zivilen Opfern (80 Tote und 156 Verletzte) (LIB).
[Anmerkung: Zur Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf die schiitische Minderheit sind noch keine validen Informationen bekannt]
1.3.2.2. Apostasie, Blasphemie, Konversion
Letzte Änderung: 14.09.2021
Die Zahl der afghanischen Christen in Afghanistan ist höchst unsicher, die Schätzungen schwanken zwischen einigen Dutzend und mehreren Tausend. Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam. Der Islam spielt eine entscheidende Rolle in der afghanischen Gesellschaft und definiert die Auffassung der Afghanen vom Leben, von Moral und Lebensrhythmus. Den Islam zu verlassen und zu einer anderen Religion zu konvertieren bedeutet, gegen die gesellschaftlichen Kerninstitutionen und die soziale Ordnung zu rebellieren (LIB).
Landinfo argumentiert, dass die größte Bedrohung für einen afghanischen Konvertiten das Risiko ist, dass seine Großfamilie von der Konversion erfährt. Wenn das der Fall ist, wird diese versuchen, ihn oder sie davon zu überzeugen, zum Islam zurückzukehren. Dieser Druck kommt oft von den engsten Familienmitgliedern wie Eltern und Geschwistern, kann aber auch Onkel, Großeltern und männliche Cousins betreffen. Ein Konvertit wird in jeder Hinsicht stigmatisiert: als Repräsentant seiner Familie, Ehepartner, Eltern/Erzieher, politischer Bündnispartner und Geschäftspartner. Weigert sich der Konvertit, zum Islam zurückzukehren, riskiert er, von seiner Familie ausgeschlossen zu werden und im Extremfall Gewalt und Drohungen ausgesetzt zu sein. Einige Konvertiten haben angeblich Todesdrohungen von ihren eigenen Familienmitgliedern erhalten (LIB).
Die dominierende Rolle des Islam schränkt den Zugang zu Informationen über andere Religionen für die in Afghanistan lebenden Afghanen ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen in Afghanistan das Christentum kennen lernen, ist relativ gering. Normalerweise sind es Afghanen, die im Ausland leben, unter anderem in Pakistan oder im Iran, die mit dem Christentum in Kontakt kommen. In den Jahren zwischen dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 und deren erneuten Machtübernahme im August 2021 war die internationale Präsenz in Afghanistan beträchtlich und einige Menschen kamen möglicherweise durch ausländische christliche Entwicklungshelfer oder anderes internationales Personal mit dem Christentum in Kontakt. Verschiedene digitale Plattformen haben ebenfalls dazu beigetragen, dass mehr Menschen mit dem Christentum bekannt gemacht wurden (LIB).
Die Bibel wurde sowohl in Dari als auch in Paschtu übersetzt. Es konnten keine Informationen gefunden werden, die darauf hindeuten, dass die Bibel in Afghanistan zum Verkauf steht oder anderweitig auf legalem Wege erhältlich ist. Sie ist jedoch in Pakistan und im Iran erhältlich. Mehrere Ausgaben der Bibel wurden von iranischen Verlagen veröffentlicht und sind, wenn auch in begrenztem Umfang, in gewöhnlichen Buchläden im Iran erhältlich. Mit der zunehmenden Nutzung digitaler Plattformen und sozialer Medien sind Informationen über verschiedene Religionen, einschließlich des Christentums, besser verfügbar als in der Vergangenheit. Die Bibel kann sowohl in Dari als auch in Paschtu kostenlos aus dem Internet heruntergeladen werden, ebenso wie anderes christliches Material (LIB).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf Apostasie, Blasphemie, Konversion sind noch keine validen Informationen bekannt]
1.3.2.3. Apostasie, Blasphemie, Konversion, Verstoß gegen islamische Verhaltensregeln, gesellschaftliche Wahrnehmung von Rückkehrenden aus Europa
(ACCORD Anfragebeantwortung vom 15.06.2020)
Laut USDOS-Bericht vom Juni 2020 sei der Straftatbestand Apostasie im Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich vorgesehen. Vielmehr falle er unter die sieben Straftatbestände, die in der Scharia Hudud (Arabisch für „Grenzen“, Anm. ACCORD) genannt würden. Nach dem Strafgesetzbuch würden Personen, die sich Hudud-Verbrechen schuldig gemacht hätten, nach der sunnitischhanafitischen Rechtsprechung bestraft. Gemäß dieser sei für männliche Apostaten Enthauptung die angemessene Bestrafung, während für weibliche lebenslange Haft das angemessene Strafmaß sei. Es sei denn, die Person tue Buße. Einem Richter stehe es auch frei, mildere Strafen zu verhängen, wie etwa kurzfristige Haftstrafen oder Peitschenhiebe, wenn Zweifel am tatsächlichen Vorliegen eines Abfalls vom Glauben bestehen würden. Nach der hanafitischen Rechtsprechung könne die Regierung auch das Eigentum von ApostatInnen konfiszieren oder Abtrünnige daran hindern, Eigentum zu erben. Diese Bestimmungen würden für volljährige Personen gelten, die bei klarem Verstand seien. Das Zivilrecht besage, dass das 5 Volljährigkeitsalter 18 Jahre betrage, während es für Frauen im Hinblick auf die Eheschließung bei 16 Jahren liege. Das islamische Recht definiere Volljährigkeit als jenen Moment, an dem bei einer Person die Anzeichen der Pubertät erkennbar seien, der wiederum – vor allem bei Mädchen - üblicherweise als Zeitpunkt des heiratsfähigen Alters angesehen werde (USDOS, 10. Juni 2020, Section II).
Das USDOS schreibt weiters, dass Personen, die der Blasphemie oder der Apostasie beschuldigt würden, drei Tage Zeit hätten zu wiederrufen, andernfalls sei die Todesstrafe vorgesehen. Allerdings gebe es keinen klaren von der Scharia festgelegten Prozess, wie das Widerrufen auszusehen habe. In einigen Hadithe (Sprüche bzw. Traditionen, die als rechtliche Leitlinien im Islam fungieren) würden Diskussionen und Verhandlungen mit der vom Glauben abgefallenen Person vorgeschlagen, im Zuge derer das Wiederrufen angeregt werden solle (USDOS, 10. Juni 2020, Section II).
Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN), antwortet in einer E-MailAuskunft vom Mai 2020 wie folgt auf die Frage, ob es überhaupt ApostatInnen oder KonvertitInnen gebe, die offen über ihren Glauben bzw. Nicht-Glauben sprechen würden: Ruttig verneint und hält fest, dass eine derartige Äußerung die Person außerhalb der (muslimischen) Gemeinschaft stelle. Etwas Derartiges zu äußern sei auch gefährlich, weil selbst im „Mainstream-Islam“ Apostasie abgelehnt werde und nach orthodoxem Scharia-Verständnis mit der Todesstrafe geahndet werden könne. Ruttig betont das Wort „könne“ und bemüht diesbezüglich das Sprichwort „Wo kein Kläger da kein Richter“ und fährt weiter fort, dass aus diesem Grund etwa afghanische Christen alles versuchen würden, zu vermeiden, dass sich ein Kläger finde. Auf die Frage wie staatliche Behörden vom Glauben Abgefallene oder KonvertitInnen behandeln würden, antwortet Ruttig, dass diese Frage üblicherweise nicht relevant sei, weil vom Glauben Abgefallene und KonvertitInnen wie erwähnt nicht als solche in Erscheinung treten würden oder die Möglichkeit hätten, dies zu tun. Falls es doch zu einer offiziellen Anklage kommen sollte, sei die Rechtsauslegung oft ziemlich willkürlich und vom jeweiligen Richter oder Staatsanwalt, etc. abhängig, sowie von dessen Verankerung in der Scharia. In der Vergangenheit habe es ja tatsächlich Anklagen wegen Apostasie gegeben (Ruttig, 29. Mai 2020).
Melissa Kerr Chiovenda hält in ihrer E-Mail-Auskunft vom Juni 2020 fest, dass Apostasie in Afghanistan illegal sei und mit dem Tode bestraft werde. Es habe zwar einige wenige Fälle gegeben, in denen Menschen verurteilt worden seien, es sei ihr jedoch kein Fall bekannt, in dem der Staat das Todesurteil vollstreckt habe. Ihr sei bekannt, dass es mindestens einen Fall gegeben habe, in dem eine Person verurteilt worden sei, dann aber vor der Vollstreckung des Urteils in Italien Asyl beantragen hätte dürfen. Die gesellschaftlichen Konsequenzen des Bekanntwerdens von Apostasie, auf die sie weiter unten noch näher eingehen werde, seien so gravierend, dass die meisten Menschen, die konvertieren würden, dies streng geheim halten würden. Daher würden sich diese Personen in der Regel so unauffällig verhalten, dass der Staat oder die staatlichen Behörden nie etwas davon erfahren würden. Diskriminierung von ApostatInnen durch staatliche Behörden sei daher auch ein weniger großes Problem, da dem Staat der Glaubensstatus der Person gar nicht bekannt sei. Zum The