Entscheidungsdatum
29.11.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W287 2185104-2/6E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Dr. Julia KUSZNIER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Migrantinnenverein St.Marx gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.06.2021, Zl. XXXX , zu A) zu Recht und beschließt zu B):
A)
I. Der Beschwerde wird hinsichtlich des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und es wird dieser behoben.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 28 Abs 1 und 2 VwGVG iVm § 8 Abs 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
III. Die Spruchpunkte III. bis VIII. des angefochtenen Bescheides werden gemäß § 28 Abs. 2 Z. 1 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Anträge in der Beschwerde, das Bundesverwaltungsgericht möge
„a) den Asylantrag des Beschwerdeführers inhaltlich behandeln“,
„b) dem Beschwerdeführer Flüchtlingseigenschaft zusprechen“,
werden gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG als unzulässig zurückgewiesen.
C)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise als Minderjähriger am 30.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Mit Bescheid vom 11.01.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG nicht erteilt, gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen sowie festgestellt, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.) und gem. § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).
3. Gegen diesen Bescheid brachte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 01.02.2018 fristgerecht Beschwerde ein.
4. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.02.2018 ( XXXX ) wurde die Beschwerde gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z. 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA VG und §§ 52, 55 FPG als unbegründet abgewiesen.
5. Am 26.02.2021 wurde der Beschwerdeführer aufgrund eines Wiederaufnahmeersuchens Italiens gemäß Art. 18 Abs. 1 lit d Dublin III-VO aus Italien nach Österreich überstellt. Bei der am selben Tag von der belangten Behörde zur Erlassung der Anordnung der Schubhaft und einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme durchgeführten niederschriftlichen Einvernahme stellte der Beschwerdeführer erneut einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich (den gegenständlichen Folgeantrag).
6. Am 27.02.2021 fand die Erstbefragung des Beschwerdeführers statt.
7. Am 18.05.2021 wurde der Beschwerdeführer von der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Am 28.05.2021 führte die belangten Behörde eine Zeugeneinvernahme durch.
8. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 11.06.2021 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 26.02.2021 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.) Dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Ferner wurde ausgeführt, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers besteht (Spruchpunkt VI.), einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 6 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.). Gegen den Beschwerdeführer wurde ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII.).
9. Mit am 09.07.2021 eingelangtem Schreiben erhob der Beschwerdeführer fristgerecht und vollumfänglich gegenständliche Beschwerde gegen den oben genannten Bescheid. Es wurde unter anderem ein Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gestellt.
10. Am 13.07.2021 langte die Beschwerdevorlage beim Bundesverwaltungsgericht ein.
11. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.07.2021 ( XXXX ) wurde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zum Beschwerdeführer:
1.1.1. Zu seiner Person:
Der volljährige Beschwerdeführer führt die im Spruch angeführten Personalien. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an, seine Muttersprache ist Dari, außerdem spricht er etwas Deutsch und Italienisch.
Der Beschwerdeführer reiste im Alter von 16 Jahren aus dem Iran, wo er auch geboren wurde, aus und stellte als unbegleiteter Minderjähriger im Jahr 2015 einen Asylantrag in Österreich.
Er hielt sich von 30.11.2015 bis 27.04.2018 und seit 26.02.2021 in Österreich auf. Dazwischen lebte der Beschwerdeführer in Italien.
In Österreich besuchte er Deutschkurse und war Mitglied in einem Fußballverein.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
1.1.2. Zu den Flucht- und Verfolgungsgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer brachte einen neuen entscheidungsrelevanten Sachverhalt vor, dem nicht von Vornherein der glaubhafte Kern abgesprochen werden kann.
1.1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr:
1.1.3.1. Der Beschwerdeführer wurde im Iran geboren, wo er mit seiner Familie aufwuchs, fünf Jahre lang in die Grundschule ging und als Bauhilfsarbeiter arbeitete. Sein Vater ist verstorben, seine Mutter und seine Geschwister leben im Iran. In seinem Herkunftsstaat Afghanistan hat er sich nie aufgehalten, sämtliche seiner Angehörigen befinden sich derzeit im Iran. Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan keine sozialen Anknüpfungspunkte.
1.1.3.2. Der Beschwerdeführer leidet an stressbedingten Magenbeschwerden und Schlafstörungen, er ist ansonsten gesund und arbeitsfähig. Er gehört nicht zu einer Covid-19 Risikogruppe.
1.1.3.3. Seine Familie kann ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht unterstützen. Er hat keine fundierte Schul- oder Berufsausbildung und sammelte seine bisherige Berufserfahrung im Iran und in Österreich im Wesentlichen durch Hilfsarbeiten im Kindes- und Jugendalter.
Der Beschwerdeführer verfügt weder über ein Unterstützungsnetzwerk in Afghanistan noch über Ortskenntnisse oder eine besondere Ausbildung, die seine Selbsterhaltungsfähigkeit in Afghanistan nahelegen. Bei einer Rückkehr wäre als Iran-Rückkehrer beziehungsweise als Rückkehrer aus Europa im Hinblick auf Zugang zu Wohnraum und Arbeit vor eine ausweglose Situation gestellt.
In Zusammenschau mit der aktuellen Situation in Afghanistan und der persönlichen Situation des Beschwerdeführers als alleinstehendem und arbeitsfähigem Mann, der eine Landessprache spricht, aber noch nie in Afghanistan aufhältig war und weder über eine maßgebende Schulbildung noch über eine hinreichende Berufserfahrung verfügt, kann unter Berücksichtigung der aktuellen Länderberichte, der EASO Country Guidance vom Dezember 2020 bzw November 2021, die insofern nicht von der ins Verfahren eingebrachten EASO Country Guidance vom Dezember 2020 abweicht, und der höchstgerichtlichen Rechtsprechung nicht erkannt werden, dass der Beschwerdeführer ausreichend mit den Gegebenheiten vor Ort vertraut ist oder über jene Fertigkeiten oder Unterstützung verfügt, sodass es ihm möglich sein wird, sein grundlegendes Auslangen zu sichern.
1.1.3.4. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan drastisch verschlechtert. Es kam zu verstärkten Kampfhandlungen zwischen den Taliban und Regierungstruppen in ganz Afghanistan. Aktuell kontrollieren die Taliban das gesamte Land und es kommt zu schwerwiegenden Übergriffen von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen reichen.
Durch die angespannte allgemeine Sicherheitslage und Versorgungslage seit der Machtübernahme der Taliban und die individuelle Situation des Beschwerdeführers erscheint eine Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat Afghanistan derzeit nicht zumutbar und die Rückführung in den Herkunftsstaat würde mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht dem Beschwerdeführer nicht zur Verfügung.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:
? Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan mit Stand vom 16.09.2021, Version 5 (LIB)
? UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018
? EASO Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020 bzw November 2021
1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan mit Stand vom 16.09.2021, Version 5 (LIB):
COVID-19
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote. In Afghanistan gibt es mit Stand 18.10.2021, 155 763 bestätigte Fälle von Corona Erkrankungen und 7 243 bestätigte Todesfälle (WHO).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021). (LIB, Kapitel 3).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]
Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).
Vorfälle am Flughafen Kabul
Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).
Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 1.9.2021; vgl. BBC 30.8.2021). Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021).
Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021).
Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefägnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021): Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021). (…)
Ethnische Gruppen
Letzte Änderung: 16.09.2021
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 37,5 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 23.8.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016 ; vgl. CIA 23.8.2021). Schätzungen zufolge sind die größten Bevölkerungsgruppen: 32 bis 42% Paschtunen, ca. 27% Tadschiken, 9 bis 20% Hazara, ca. 9% Usbeken, 2% Turkmenen und 2% Belutschen (AA 16.7.2021).
Neben den alten Blöcken der Islamisten und linksgerichteten politischen Organisationen [Anm.: welche oftmals vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan entstanden] mobilisieren politische Parteien in Afghanistan vornehmlich entlang ethnischer Linien, wobei letztere Tendenz durch den Krieg noch weiter zugenommen hat (AAN 24.3.2021; vgl. Karrell 26.1.2017). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.3.2021).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf die verschiedenen ethnischen Gruppen sind noch keine validen Informationen bekannt]
HAZARA
Letzte Änderung: 15.09.2021
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazarajat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).
Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).
Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.5.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazarajat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.5.2021).
Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft [1996-2001] besonders verfolgt waren, hat sich [bis zur erneuten Machtübernahme durch die Taliban im August 2021] grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2021; vgl. FH 4.3.2020). Sie wurden jedoch weiterhin am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, fanden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 30.3.2021).
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018).
Während des gesamten Jahres 2020 und auch 2021 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Am 6.3.2021 griffen Bewaffnete eine Zeremonie in Kabul an, an der hauptsächlich schiitische Hazara teilnahmen, und töteten 32 Personen. Am 24.10.2021 tötete ein Selbstmordattentäter in einem Bildungszentrum in einem Hazara-Viertel von Kabul 40 Personen und verwundete 72 weitere. Der ISKP bekannte sich dazu. Viele der Opfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt (USDOS 30.3.2021). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen (USDOS 12.5.2021) wie im Mai 2021, als eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi explodierte, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 9.5.2021; vgl. RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.3.2018).
In Randgebieten des Hazarajat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).
Im Juli 2021 berichtete AI (Amnesty International) über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni (AI 19.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021). AI nimmt an, dass diese Tötungen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Todesopfer durch die Taliban darstellen, da die Gruppe in vielen Gebieten, die sie kürzlich erobert hat, die Mobilfunkverbindung gekappt hat und kontrolliert, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen verbreitet werden (AI 19.8.2021).“
Rückkehr
Letzte Änderung: 16.09.2021
IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten (MENAFN 15.2.2021). Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan (USAID 12.1.2021; vgl. NH 26.1.2021). Im Jahr 2021 wurden bis August 759.046 undokumentierte Rückkehrer verzeichnet (USAID 27.8.2021).
Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020, Reach 10.2017). Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (VIDC 1.2021; vgl. IOM KBL 30.4.2020, MMC 1.2019, Reach 10.2017), da es ohne familiäre Netzwerke sehr schwer sein kann, sich selbst zu erhalten. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.6.2019, IOM KBL 30.4.2020). Einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.4.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019). Aufgrund der Sicherheitslage ist es Rückkehrern nicht immer möglich, in ihre Heimatorte zurückzukehren (VIDC 1.2021).
Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte (STDOK 4.2018; vgl. VIDC 1.2021). Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren (VIDC 1.2021; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018).
"Erfolglosen" Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des "Versagens" an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa (VIDC 1.2021; vgl. SFH 26.3.2021, Seefar 7.2018), was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird (VIDC 1.2021). Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen (AA 16.7.2021; vgl. SFH 26.3.2021). Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 16.7.2021) und auch IOM Kabul sind keine solchen Vorkommnisse bekannt (IOM KBL 30.4.2020). Andere Quellen geben jedoch an, dass es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrer gekommen sein soll (STDOK 10.2020; vgl. SFH 26.3.2021, Seefar 7.2018), wobei dies auch im Zusammenhang mit einem fehlenden Netzwerk vor Ort gesehen wird (Seefar 7.2018). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich (STDOK 13.6.2019; vgl. SFH 26.3.2021, VIDC 1.2021) und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (STDOK 13.6.2019).
Viele afghanische Rückkehrer werden de facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren (UNOCHA 12.2018). Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbst gebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (UNOCHA 12.2018).
IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. Zu Tätigkeiten vor Ort im Rahmen anderer Projekte (RADA, etc.) kann derzeit noch keine Rückmeldung gegeben werden (IOM AUT 8.9.2021; vgl. IOM 19.8.2021).
[Es sind zum aktuellen Zeitpunkt mit September 2021 noch keine validen Informationen über dem Umgang der Taliban mit Rückkehrern bekannt]
1.2.2. Zur allgemeinen Situation betreffend COVID-19
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet.
Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.
Mit Stichtag vom 29.11.2021 werden von der World Health Organization (WHO) in Afghanistan 157.144 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 7.307 diesbezüglicher Todesfälle bestätigt wurden. Eine von der „Johns Hopkins University“ veröffentliche Statistik verzeichnet am selben Tag in Afghanistan 157.218 bestätigte Fälle sowie 7.308 damit in Zusammenhang stehender Todesfälle.
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in die Gerichtsakte aus dem Erstverfahren und dem Verfahren des Folgeantrages.
Der Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsakts des Bundesamtes und der vorliegenden Gerichtsakte des Bundesverwaltungsgerichtes.
2.1. Zu den zum Beschwerdeführer getroffenen Feststellungen:
2.1.1. Zu seiner Person:
Die Feststellung zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor dem Bundesamt, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht im Erstverfahren und im Folgeantragsverfahren. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren. Der Beschwerdeführer verfügt weder über eine Taskira noch über einen Reisepass. Das Geburtsdatum des Beschwerdeführers wurde im Verfahren sowohl mit XXXX sowie mit XXXX geführt. Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 18.05.2021 (AS 125) gab er an, die italienischen Behörden hätten versehentlich den XXXX angenommen.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner Muttersprache und seinem Leben in Österreich gründen sich auf seine diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben im Erstverfahren und den Feststellungen im rechtskräftigen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.02.2018. Es besteht keine Veranlassung, an diesen im Wesentlichen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln (AS 21 ff., AS 33 ff., 127 ff., XXXX ; S.6) die sich auch mit den Angaben in der Einvernahme vor der belangten Behörde zum Folgeantrag decken.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit basiert auf der Einsichtnahme in das Strafregister.
2.1.2. Zu den Flucht- und Verfolgungsgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer brachte im Verfahren zum Folgeantrag vor der belangten Behörde erstmals vor, dass er nunmehr zum christlichen Glauben konvertiert sei.
Im Erstverfahren machte er keinerlei Angaben zu einer Konversion:
Zum Grund seiner Flucht führte der Beschwerdeführer im ersten Verfahren im Rahmen der Erstbefragung aus, als Afghane im Iran keine Rechte gehabt zu haben. Bei der Einvernahme vor der belangten Behörde gab er an, er sei der schiitisch-moslemischen Glaubensrichtung zugehörig; er sei im Iran geboren worden und aus dem Iran sei er aus Angst vor einer Abschiebung nach Afghanistan geflohen. Weitere Fluchtgründe habe er nicht. In Afghanistan sei er niemals konkret verfolgt oder bedroht worden. Nach seinen Befürchtungen im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan bzw. in die dortige Hauptstadt Kabul gefragt, verwies der Beschwerdeführer auf eine Verfolgung von Hazara und Schiiten in Afghanistan.
Mit Bescheid vom 11.01.2018 wurde der erste Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Auch in der gegen den genannten Bescheid eingebrachten Beschwerde vom 01.02.2018 brachte der Beschwerdeführer keine Konversion zum Christentum vor. Begründend wurde in der genannten Beschwerde im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer sei im Iran geboren und dort aufgewachsen. Seine Familie habe Afghanistan verlassen, da sie Hazara seien und als solche bedroht und erniedrigt worden seien. Bei einer Rückkehr sei der Beschwerdeführer in Gefahr, da Angehörige dieser Volksgruppe in Afghanistan bedroht und durch die Taliban abgelehnt würden.
Mit rechtskräftigem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.02.2018 ( XXXX ) wurde – ohne vorherige Durchführung einer mündlichen Verhandlung – die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Der Beschwerdeführer machte somit auch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht den Fluchtgrund der Konversion nicht geltend.
Erst bei seiner Asylfolgeantragstellung am 26.02.2021 brachte der Beschwerdeführer erstmalig vor, er sei zum Christentum konvertiert:
Er gab an, er habe in Italien einen Asylantrag gestellt und sei jetzt Christ geworden. In Afghanistan werde er verfolgt, weil er Christ geworden sei (AS 37).
Bei der am nächsten Tag durchgeführten Erstbefragung zu seinem Folgeantrag befragt gab er an, die alten Asylgründe würden nicht mehr gelten, er habe jetzt neue Asylgründe, da er Christ geworden sei. Er möchte sich taufen lassen und befasse sich mit dem Christentum. In Italien sei er drei Monate lang in die Kirche gegangen und hätte begonnen die Bibel zu lesen. Er fühle sich zur katholischen Kirche hingezogen. In Afghanistan würde er, weil er nun Christ geworden sei, getötet werden. Auch seine Familie würde ihm mit dem Tod drohen und ihn nicht mehr als Sohn ansehen. In Italien hätte ihn ein afrikanischer Freund missioniert und er habe von Jesus Christus geträumt (AS 24).
Diese Aussage wurde durch Beweismittel gestützt: Mit Schreiben vom 09.05.2021 bestätigte XXXX die Teilnahme des Beschwerdeführers an einer Katechesegruppe zur Taufvorbereitung in der katholischen Kirche. Der Beschwerdeführer habe den christlichen Glauben angenommen und von Jesus geträumt. Seine Konversion sei aufrichtig und authentisch (AS 119).
Am 18.05.2021 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Zu seinem Folgeantrag befragt gab er an, in Italien habe ihn ein Freund vor ca. drei Monaten missioniert und in die Kirche mitgenommen. Die Kirchenbesuche hätten dem Beschwerdeführer gefallen und gutgetan und er habe dann recherchiert und sich für das Christentum entschieden. Er habe die Kirche in Turin dann regelmäßig ca. einmal pro Woche besucht. Afghanische Landsleute hätten in Italien von der Konversion des Beschwerdeführers erfahren und auch seine Familie hätte davon erfahren. Bei einem Telefonat mit seiner Mutter habe diese den Beschwerdeführer aus der Familie ausgeschlossen und würde ihn nicht mehr als ihren Sohn ansehen. Auch seine Brüder seien gegen ihn. Seit er in Österreich sei, habe er weiterhin regelmäßig die Kirche besucht und Kontakt zur Kirche aufgenommen. Er habe momentan regelmäßig Online- Unterricht über das Christentum und nehme jeden Sonntag an der Messe teil. In Italien habe er von Jesus geträumt (AS 125 ff.). Der Beschwerdeführer habe im Kreise seiner Familie außerdem nicht selbstbestimmt leben und sich weder tätowieren lassen noch einen Ohrring tragen können (AS 128).
Am 28.05.2021 vernahm die belangte Behörde zudem XXXX als Zeugen zum Verfahren über den Folgeantrag des Beschwerdeführers. XXXX gab an, den Beschwerdeführer im März 2021 im Zuge der Taufvorbereitung kennengelernt zu haben, ihn bei Messen und Zoom-Konferenzen gesehen zu haben und zweimal persönlich getroffen zu haben. Er habe ihm von seinem Traum von Jesus erzählt und dass er überzeugter Christ sei. Der Zeuge sehe den Beschwerdeführer in ca. einem Jahr bereit für die Taufe (AS 165 ff.).
Im vorliegenden Fall legte der Beschwerdeführer diverse Beweismittel vor, welche in Kombination mit der Aussage des einvernommenen Zeugen die behauptete Konversion des Beschwerdeführers zum Christentum jedenfalls als nicht ausgeschlossen erscheinen lassen. Der glaubhafte Kern kann diesem Vorbringen daher nach Ansicht des erkennenden Gerichts jedenfalls nicht von vornherein abgesprochen werden. Bestätigt wird dies auch durch die umfangreiche Ermittlungstätigkeit der belangten Behörde, welche in der Einvernahme des Beschwerdeführers zahlreiche inhaltliche Fragen zu seinem Glaubenswechsel sowie Wissensfragen über das Christentum stellte.
Im angefochtenen Bescheid traf die belangte Behörde umfangreiche Überlegungen in der betreffenden ca. sechs Seiten langen Beweiswürdigung (vgl. Seiten 119 bis 124 des angefochtenen Bescheides) zur vorgebrachten Konversion des Beschwerdeführers, was darauf schließen lässt, dass auch die belangte Behörde einen glaubhaften Kern der Konversion nicht von vornherein als ausgeschlossen erachtete (siehe dazu auch die Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung unter II.3.1.2.).
2.1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr:
2.1.3.1. Die Feststellungen zum Aufwachsen des Beschwerdeführers sowie zu seiner familiären Situation im Iran, seiner Berufserfahrung und zur Situation im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan gründen sich auf seine diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben im Erstverfahren und auf die Feststellungen im rechtskräftigen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.02.2018 ( XXXX ). Es besteht keine Veranlassung, an diesen im Wesentlichen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln (AS 21 ff., AS 33 ff., 127 ff., XXXX S.6), die sich auch mit den Angaben in der Einvernahme vor der belangten Behörde im Zuge des Verfahrens über den Asylfolgeantrag decken.
2.1.3.2. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde: Der Beschwerdeführer gab über das Verfahren hinweg in den Einvernahmen an, durch Stress ausgelöste Magenschmerzen zu haben (vgl. unter anderem AS 125).
2.1.3.3. Die Feststellung, dass dem Beschwerdeführer eine Rückkehr nach Afghanistan derzeit nicht zumutbar erscheint und die Rückführung in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde, folgt aus den unter Punkt II.1.2. festgestellten, notorischen Ereignissen seit 06.08.2021, die auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.09.2021 basieren:
Vor diesem Hintergrund – insbesondere auch der Einnahme sämtlicher wichtiger Städte durch die Taliban und der derzeit aufgrund des Umbruchs nicht beurteilbaren Sicherheits- und Versorgungslage – ist nicht auszuschließen, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr der Gefahr ausgesetzt ist, im Zuge von Übergriffen der Taliban oder anderer Gruppierungen getötet, verletzt oder misshandelt zu werden. Überdies erscheint eine Rückkehr des Beschwerdeführers auch in Hinblick auf die unvorhersehbaren weiteren Entwicklungen nicht möglich. Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Machtübernahme der Taliban und die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt. COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei. Aus den Länderinformationen ergibt sich, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (vgl. dazu genauer oben unter II.1.2.).
Vor diesem Hintergrund – insbesondere auch der Machtübernahme durch die Taliban und der derzeit aufgrund des Umbruchs nicht zu beurteilbaren Sicherheits- und Versorgungslage – würde eine Rückkehr für den Beschwerdeführer zum aktuellen Zeitpunkt eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen.
Es besteht in Afghanistan aufgrund der aktuellen Situation die Gefahr, dass der Beschwerdeführer einer realen Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK ausgesetzt sein würde. Aufgrund der aktuellen Situation und der nicht abschätzbaren weiteren Entwicklungen durch die Machtübernahme der Taliban und der herrschenden Corona-Pandemie, die dadurch verursachte angespannte Arbeitsmarktsituation und den steigenden Nahrungsmittelpreisen ist die Lebensgrundlage und Gesundheitsversorgung des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr nach Afghanistan, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht ausreichend gesichert (vgl. II.1.2.).
Aufgrund dieser Erwägungen kann auch nicht mehr von einer bestehenden innerstaatlichen Fluchtalternative in den oft als Neuansiedelungsgebiet ins Auge gefassten Städten ausgegangen werden (siehe dazu UNHCR Position zu Afghanistan vom August 2021). Denn laut den Richtlinien des UNHCR müssen die schlechten Lebensbedingungen sowie die prekäre Menschenrechtslage von intern vertriebenen afghanischen Staatsangehörigen bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative berücksichtigt werden, wobei angesichts des Zusammenbruchs des traditionellen sozialen Gefüges der Gesellschaft auf Grund jahrzehntelang währender Kriege, massiver Flüchtlingsströme und interner Vertreibung hierfür jeweils eine Einzelfallprüfung notwendig ist (zur Indizwirkung von UNHCR-Richtlinien vgl. u.a. VwGH 10.12.2014, Ra 2014/18/0103). Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht dem Beschwerdeführer daher nicht zur Verfügung.
Eine Rückkehr ist ihm daher nicht möglich.
2.2. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Im Besonderen wurde auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan mit Stand vom 16.09.2021, Version 5 zurückgegriffen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln.
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist gemäß dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan mit Stand vom 16.09.2021 unbekannt.
Im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan mit Stand vom 16.09.2021 wird darauf hingewiesen, dass die aktuelle Lage von einer nicht absehbaren Dynamik und plötzlichen und abrupten Veränderungen gekennzeichnet ist, womit manche Informationen sehr rasch veralten können.
Die unstrittigen Feststellungen zur aktuellen COVID-19 Pandemie ergeben sich aus den unbedenklichen tagesaktuellen Berichten und Informationen (s. jeweils mit einer Vielzahl weiterer Hinweise u.a.):
• https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus.html
• https://www.ages.at/themen/krankheitserreger/coronavirus/
• https://coronavirus.jhu.edu
• https://covid19.who.int/
(Zugriff jeweils am 29.11.2021).
In der Beschwerde sind keine Länderberichte enthalten, die den Feststellungen des erkennenden Gerichtes zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers entgegenstünden oder eine andere Beurteilung erfordern würden. Die seitens des Bundesverwaltungsgerichtes in das Verfahren eingeführten Länderberichte blieben auch unbestritten.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
Die vorliegende Beschwerde ist rechtzeitig und zulässig. Sie wendet sich gegen alle Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides.
3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Zurückweisung gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache
3.1.1. Rechtliche Grundlagen und Judikatur:
Gemäß § 68 Abs. 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 AVG die Abänderung eines der Beschwerde nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen, wenn die Behörde nicht Anlass zu einer Verfügung gemäß § 68 Abs. 2 bis 4 AVG findet.
Aus § 68 Abs 1 AVG ist das im Verwaltungsverfahren geltende Prinzip abzuleiten, dass über ein und dieselbe Verwaltungssache nur einmal rechtskräftig zu entscheiden ist (ne bis in idem). Mit der Rechtskraft ist die Wirkung verbunden, dass die mit dem Bescheid unanfechtbar und unwiderruflich erledigte Sache nicht neuerlich entschieden werden kann (Wiederholungsverbot). Einer nochmaligen Entscheidung steht das Prozesshindernis der res iudicata entgegen (vgl VwGH vom 9. Oktober 1998, 96/19/3364 uva).
Bei der Prüfung von res iudicata ist von der rechtskräftigen Vorentscheidung auszugehen, ohne die sachliche Richtigkeit dieser nochmal zu überprüfen. Identität der Sache liegt vor, wenn sich gegenüber der früheren Entscheidung weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert hat und sich das neue Parteibegehren im Wesentlichen mit dem früheren deckt (VwGH vom 22.02.2021, Ra 2020/18/0537, VwGH 28.4.2017, Ra 2017/03/0027).
Nach der Rechtsprechung zu dieser Bestimmung liegen verschiedene