TE Bvwg Erkenntnis 2021/12/10 W124 2172797-1

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Veröffentlicht am 10.12.2021
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Entscheidungsdatum

10.12.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W124 2172797-1/30E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. FELSEISEN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Indien, vertreten durch BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX sowie am XXXX zu Recht erkannt:

A)
Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG sowie §§ 46, 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, 55 Abs. 1 bis 3 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF), ein Staatsangehöriger von Indien, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz. Am XXXX erfolgte seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Rahmen welcher er zu seiner Person anführte, dass er aus XXXX stamme, Punjabi spreche, der Volksgruppe der Punjabi angehöre und sich zum Sikhismus bekenne. Er sei legal mit einem Reisepass aus Indien ausgereist, habe diesen jedoch an einen Schlepper übergeben müssen.

Zu seinen Fluchtgründen gab er an, er gehöre der Sikh-Religion an, die von den Hindus verfolgt werde. Die Sikhs bekämen keine Rechte und würden daran gehindert werden, sich als Khalistan unabhängig zu machen. Es sei XXXX an einem Tag dazu gekommen, dass 10.000 bis 12.000 Sikhs getötet worden seien und würden deren Religionsbücher weggenommen und Tempel beschädigt werden, weshalb bereits viele Sikhs nach Kanada und Amerika geflohen seien. Überdies würden Sikhs, die einen langen Bart und einen Turban tragen würden, vom Militär und der Polizei misshandelt werden. Des Weiteren sei von der Regierung veranlasst worden, dass über die Grenzen sehr viele Drogen in den Punjab geschmuggelt werden würden, sodass die Punjabis vom Drogenkonsum berauscht würden und keinen Aufstand veranstalten könnten. Der BF habe bei einer Rückkehr Angst um sein Leben.

2.       Am XXXX erfolgte seine Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA), im Rahmen welcher er ausführte, er habe Indien, wo er bis zu seiner Ausreise in XXXX gelebt habe, vor etwa einem Jahr verlassen und sei am Tag seiner Erstbefragung nach Österreich eingereist. Er sei mit seinem Reisepass legal aus Indien ausgereist, habe diesen jedoch an einen Schlepper in der Türkei übergeben müssen.

Der BF sei gesund, ledig und habe keine Kinder. In seinem Herkunftsstaat habe er zwölf Jahre die Grundschule besucht und dann in drei Jahren ein Diplom als Elektriker abgeschlossen. Danach habe er als Betriebselektriker in einem Elektrogeschäft gearbeitet und seinem Vater bei der Bewirtschaftung der familieneigenen Grundstücke geholfen. Seine beiden Brüder hätten ein eigenes Geschäft und würden auf selbstständiger Basis Holzarbeiten bei Hausbauten durchführen. In Österreich gehe der BF derzeit keiner Beschäftigung nach und lebe von der Grundversorgung. Er schlafe bei XXXX in der XXXX , gehe manchmal spazieren und besuche einen Sikh-Tempel in XXXX . Während er in Österreich keine Verwandte oder sonstige Familienangehörige habe, würden im Herkunftsstaat nach wie vor seine Eltern und seine zwei Brüder an der Heimatadresse, zwei Onkel, vier Tanten sowie Cousins leben. Zu seinen Eltern und Geschwistern habe er etwa einmal in der Woche telefonischen Kontakt.

Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der BF an, er gehöre der Religionsgemeinschaft der Sikhs an, die laut Verfassung ein Teil des Hinduismus sei, was jedoch nicht stimme, da der Sikhismus eine eigenständige Religion darstelle. Die Sikhs würden deswegen ein eigenes Land namens Khalistan gründen wollen, jedoch wenn die Behörden oder Mitbewohner des Viertels ein Wort davon hörten, geschlagen oder gar getötet werden. Sie würden sogar dazu gezwungen werden, Kühe anzubeten, obwohl dies nicht zu ihrer Religion gehöre. Generell könne man in Indien nur dann ein problemloses Leben führen, wenn man sich den Hindus anschließe und bereit sei, als Sklave zu leben. Sobald man seine Stimme für seine religiösen oder politischen Rechte erhebe, bekomme man massive Probleme. Es könne sogar vorkommen, dass man auf der Straße erschossen würde, ohne dass jemand etwas davon erfahre.

Als vor zweieinhalb Jahren das heilige Buch der Sikhs zerissen und erniedrigt worden sei, habe der BF an Protesten gegen diese rassistischen Vorfälle und die machthabende Regierung teilgenommen. Die Teilnehmer solcher Demonstrationen würden von den Behörden beobachtet und bedroht, und die Proteste selbst nicht ernstgenommen werden. Der BF sei bei einem Protest in XXXX mit einer Gruppe an anderen Protestierenden auf das Kommissariat XXXX mitgenommen und einen Tag inhaftiert und bedroht worden, wobei es diesbezüglich keine offiziellen Meldungen gebe. Überdies sei er nach seiner Festnahme noch zweimal von der Polizei bedroht worden. Die erste Bedrohung sei ca. zwei bis drei Monate nach seiner Inhaftierung erfolgt. Dabei sei er mit einem Freund auf einem Motorrad unterwegs gewesen und hätten ihnen Polizisten in Zivil gesagt, dass man sie, wenn sie nicht aufhören würden, wie 25.000 bis 30.000 andere Burschen aus ihrer Gesellschaft verschwinden lassen würde. Die zweite Bedrohung sei etwa vier Monate nach der ersten erfolgt, wobei er zu Fuß unterwegs gewesen und von Polizisten in Zivil aus einer anderen Stadt aufgehalten worden sei. Diese hätten zu ihm gesagt, sie würden ihn ein letztes Mal warnen, damit er mit dem Protestieren aufhöre. Er könne zwar nicht erklären, warum er gewusst habe, dass es sich um Polizisten gehandelt habe, sei sich jedoch sicher. Dass diese aus einer anderen Stadt gekommen seien, wisse er deswegen, weil er sämtliche lokalen Polizisten gekannt habe.

3.       Mit Schreiben vom XXXX wurde das BFA darüber informiert, dass sich der BF beim Verein Ute Bock in XXXX obdachlos gemeldet habe.

4.       Mit im Spruch angeführten Bescheid vom XXXX zu GZ XXXX , wurde der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gegen ihn wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig sei (Spruchpunkt III). Als Frist zur freiwilligen Ausreise wurden gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, die vom BF vorgebrachten Fluchtgründe seien nicht glaubhaft und habe nicht festgestellt werden können, dass er in Indien einer begründeten Furcht vor asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt sei. Eine Rückkehr in den Herkunftsstaat sei für den BF möglich und zumutbar, zumal er über familiäre Anknüpfungspunkte verfüge sowie jung, gesund und arbeitsfähig sei. Hingegen verfüge er in Österreich weder über familiäre noch über soziale Anknüpfungspunkte und habe keine Integrationsverfestigung festgestellt werden können.

5.       Gegen diesen Bescheid erhob der BF, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, am XXXX vollinhaltlich Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) und stellte einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung. Er führte zusammengefasst aus, die belangte Behörde habe sich nicht mit dem konkreten Vorbringen und der daraus erwachsenden Verfolgungssituation des BF auseinandergesetzt. Dass der BF seine Fluchtgründe in der Einvernahme zuerst abstrakt dargelegt und erst auf Nachfrage konkretisiert habe, sei darauf zurückzuführen, dass er ein rechtsunkundiger, bei der Einvernahme unvertretener Fremder gewesen sei.

Seine Familie könne deswegen noch im Herkunftsstaat leben, weil der BF derjenige gewesen sei, der sich gegen die Diskriminierung durch die Regierung zur Wehr gesetzt habe, weshalb er verhaftet und bedroht worden sei. Selbst wenn der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen sei, sei ihm jedenfalls der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

6.       Das BFA legte dem BVwG die Beschwerde unter Anschluss der Verwaltungsakten vor, wo diese am XXXX einlangte.

7.       Am XXXX fand vor dem BVwG eine öffentliche mündliche Verhandlung in Anwesenheit des BF und seiner rechtsfreundlichen Vertretung, der BBU GmbH statt. Ein Behördenvertreter nahm an der Verhandlung nicht teil. Der BF legte in der Verhandlung einen Auszug aus dem Gewerberegister vom XXXX vor, er habe am selben Tag das Gewerbe der Güterbeförderung mit Kraftfahrzeugen oder Kraftfahrzeugen mit Anhängern, deren höchst zulässiges Gesamtgewicht insgesamt 3.500 kg nicht übersteigt, angemeldet, eine Bestätigung der Zurücklegung dieses Gewerbes vom XXXX , einen weiteren Auszug aus dem Gewerberegister vom XXXX . Er habe am XXXX ein Gastgewerbe in der Betriebsart Restaurant angemeldet, eine Zuweisung von XXXX zu einer Fachärztin vom XXXX sowie Röntgenaufnahmen des Diagnosezentrums XXXX vom XXXX , vor.

Befragt zu seiner Person gab der BF im Wesentlichen an, er stamme aus dem Dorf XXXX , Bezirk XXXX , Bundesstaat Punjab und habe dort bis zu seiner Ausreise mit seiner Familie, also seinen Eltern und seinen beiden Brüdern, gelebt. Diese wohne seit zwei Jahren in dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Punjab, und habe der BF nach wie vor einmal im Monat Kontakt zu ihr. Vor seiner Ausreise, bei der er keine Probleme mit der Polizei gehabt habe, habe er sich zehn bis fünfzehn Tage bei einem Freund in Delhi aufgehalten. Der BF habe in Indien zwölf Jahre die Grundschule besucht und danach vier Jahre lang einen Kurs als Elektrikter gemacht sowie kurz in dieser Funktion in einem Geschäft gearbeitet.

In Österreich habe der BF ca. eineinhalb Jahre eine Beziehung zu einer Rumänin geführt, mit dieser sei er jedoch nicht mehr zusammen und habe er derzeit keine Lebensgefährtin. Er habe auch keine Kinder und keine Verwandten oder Familienangehörige im Bundesgebiet oder in einem anderen Mitgliedstaat der EU. Er verfüge in Österreich über einen Freundeskreis, der aus indischen und pakistanischen Staatsangehörigen bestehe. Nach dem Ende seiner Beziehung habe der BF eine Gastronomiefirma gegründet und etwa ein Jahr lang betrieben, XXXX habe er sie aber aufgrund seiner Verschuldung schließen müssen. Es sei zu einem Konkursverfahren gekommen, bei dem alles verwertet worden sei. Auch das zweite von ihm angemeldete Gewerbe, nämlich ein Kleintransportunternehmen, habe er wieder schließen müssen. Momentan wohne er bei einem Freund, bei dem er auch Essen bekomme, weshalb er keine Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch nehmen müsse. Der BF sei momentan nicht versichert.

Beim BF sei eine Abnützung der Bandscheibe diagnostiziert worden, weshalb er nicht lange sitzen könne und starke Schmerzen habe. Zur Behandlung gebe es nur zwei Möglichkeiten, nämlich Schmerzmittel oder eine Operation. Diesbezüglich wurde ihm eine Frist von zehn Tagen eingeräumt, um sämtliche ärztliche Befunde, Diagnosen, Röntgenbilder etc. nachzureichen. Er wurde überdies aufgefordert, innerhalb derselben Frist Unterlagen hinsichtlich des Konkursverfahrens und der „Stillegung“ seines Gastgewerbes vorzulegen.

8.       Mit Parteiengehör vom XXXX teilte das BVwG dem BF mit, es beabsichtige die Einholung eines Sachverständigengutachtens des nichtamtlichen Sachverständigen Dr. XXXX , MSc aus dem Fachgebiet Orthopädie/Chirurgie und könne der BF binnen vierzehn Tagen Einwände gegen den genannten Sachverständigen bekanntgeben.

9.       Der BF beantragte mit Schriftsatz vom XXXX die ihm in der Beschwerdeverhandlung gewährte Frist zur Nachreichung von Unterlagen hinsichltich des Konkursverfahrens sowie der „Stillegung“ seines Gastgewerbes um zehn bis vierzehn Tage zu verlängern. Daraufhin räumte das BVwG eine Fristerstreckung bis zum XXXX ein.

10.      Mit Schriftsatz vom XXXX legte der BF eine Bestätigung über die Eröffnung seines Konkursverfahrens in der Ediktsdatei vom XXXX sowie Auszüge aus der GISA vor. Den vorgelegten GISA Auszügen vom XXXX zufolge endete die Gewerbeberechtigung des BF für das Güterbeförderungsgewerbe am XXXX und Berechtigung für das Gastgewerbe in der Betriebsart Restaurant am XXXX .

11.      Mit Beschluss des BVwG vom XXXX wurde der Sachverständige Dr. XXXX , MSc, aus dem Fachgebiet Orthopädie/Chirurgie bestellt und ihm die Erstellung eines schriftlichen Gutachtens zu den Fragen, ob der BF an einer Krankheit leide, wenn ja, auf welche Art und Weise eine Behandlung vorzunehmen sei bzw. ob von solch einer abgesehen werden könne, ob es sich um eine lebensbedrohliche Krankheit handle und ob der BF in eine COVID-19 Risikogruppe falle, aufgetragen.

12.      Am XXXX erstattete der Sachverständige Dr. XXXX , MSc, Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie ein Orthopädisches Gutachten, demzufolge beim BF ein angeborener mobiler Gleitwirbel des 5. Lendenwirbelkörpers im Stadium Mayerding 1. bestehe. Bei Beschwerden bestehe die Behandlung aus der Kräftigung der Muskulatur der Lendenwirbelsäule durch regelmäßige Übungen. Diese könnten im Rahmen einer ambulanten Physiotherapie erlernt werden und sollten regelmäßig zu Hause durchgeführt werden. Eine Operation sei hingegen nie notwendig. Es handle sich um keine lebensbedrohliche Erkrankung und gehöre der BF deswegen zu keiner COVID-19 Risikogruppe.

13.      Am XXXX fand erneut eine mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG in Anwesenheit des BF und seiner rechtsfreundlichen Vertretung statt. Ein Behördenvertreter nahm nicht teil.

Hinsichtlich seiner Familienverhältnisse und seiner Ausbildung machte der BF dieselben Angaben wie zuvor im Verfahren, er korrigierte seine Angaben vor dem BFA jedoch dahingehend, dass seine Familie, als er ein Jahr alt war, in das Dorf XXXX , Bezirk XXXX , gezogen und er dort aufgewachsen sei.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab er an, er habe XXXX den Entschluss zur Ausreise aus Indien gefasst, da ihn die Polizei aufgrund der Teilnahme an Protesten belästigt habe. So habe ihn die Polizei, als er mit zwei weiteren Personen auf dem Weg zu einem Protest gewesen sei, aufgehalten und gedroht, dass wenn diese am Protest teilnehmen würden, es ihnen nachher sehr schlecht gehen werde. Im XXXX habe die Polizei einen Freund vom BF mitgenommen und habe dieser nicht mehr in Erfahrung bringen können, wo sie diesen hingebracht hätten. Das habe den BF in großem Maße verängstigt und ein Monat darauf zur Ausreise bewegt. Auch der zweite Freund habe Indien verlassen, jedoch habe der BF keinen Kontakt mehr zu ihm.

Außer diesen Drohungen habe der BF keine Probleme mit der Polizei gehabt. Beginnend mit Ende XXXX /Anfang XXXX sei ihnen zwei- bis dreimal gedroht worden. Die letzte Drohung sei im XXXX erfolgt. Dennoch habe der BF auf Anraten seiner Freunde weiterhin an Protesten teilgenommen, obwohl er dabei Angst vor der Polizei gehabt habe, da die Polizisten in Zivil, und nicht in Uniform unterwegs gewesen seien. Der BF selbst habe zwar außer den Drohungen keine weiteren Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt, ein Freund von ihm sei jedoch nach der letzten Drohung, also im XXXX entführt worden. Nach der Entführung habe der BF noch zehn Tage im Heimatdorf verbracht und die restliche Zeit bis zur Ausreise, also etwa zwanzig Tage, in Delhi verbracht. Da der Aufenthaltsort seines Freundes bis heute nicht bekannt sei, fürchte sich der BF vor einer Rückkehr nach Indien.

Der BF habe sowohl seine Zustellfirma als auch seine Gastronomiefirma schließen müssen und wohne derzeit kostenlos bei indischen Freunden, für die er koche und putze. Er habe überdies zwei österreichische Freunde gehabt, die jedoch weggezogen seien. Er sei weder Mitglied eines Vereins oder einer sonstigen Organisation, noch habe er einen Deutschkurs besucht. Dennoch verstehe und spreche er zu 50 % Deutsch. Er habe weder eine Lebensgefährtin noch Kinder.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers

Der BF ist indischer Staatsangehöriger, wurde am XXXX geboren, gehört der Volksgruppe der Punjabi sowie der Religionsgemeinschaft der Sikhs an und stammt aus dem Dorf XXXX , Bezirk XXXX , Bundesstaat Punjab. Als der BF ein Jahr alt war, zog seine Familie in das Dorf XXXX , ebenfalls im Bezirk XXXX , wo der BF bis zu seiner Ausreise wohnte. Seine Muttersprache ist Punjabi. Der BF reiste zwischen XXXX aus Indien legal mit dem Flugzeug in die Türkei, wo er seinen Reisepass an einen Schlepper abgeben musste, und gelangte im XXXX illegal nach Österreich.

Die Identität des BF kann nicht hinreichend festgestellt werden, er führt jedoch den Namen XXXX .

Der BF besuchte in seinem Herkunftsstaat zwölf Jahre die Grundschule und absolvierte danach ein vierjähriges College, bestehend aus einem zweijährigen Diplomkurs und einem zweijährigen Praktikum, das er mit einem Diplom als Elektroingenieur abschloss. In dieser Funktion arbeitete er danach ein Jahr in einem Geschäft. Nebenbei half er auch seiner Familie in der Landwirtschaft, da diese Grundstücke hatte, die sie bewirtschaftete.

Der BF ist grundsätzlich gesund und arbeitsfähig, leidet jedoch an einer Erkrankung, die bei 5-7% der Bevölkerung auftritt und meist keine Beschwerden verursacht. So besteht bei ihm ein angeborener mobiler Gleitwirbel des fünften Lendenwirbelkörpers im Stadium Mayerding 1. Die Behandlung besteht bei Beschwerden aus Kräftigung der Muskulatur der Lendenwirbelsäule durch regelmäßige Übungen, die im Rahmen einer ambulanten Physiotherapie erlernt werden können und zu Hause regelmäßig durchgeführt werden sollten. Es handelt sich weder um eine lebensbedrohliche Krankheit, noch wird jemals eine Operation notwendig sein. Der BF ist dadurch kein COVID-19 Risikopatient.

In Hinblick auf die derzeit bestehende Covid-19 – Pandemie ist festzuhalten, dass der BF XXXX Jahre alt ist und weder an einer schwerwiegenden noch an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leidet, womit er nicht unter die Risikogruppe der älteren Personen oder Personen mit (relevanten) Vorerkrankungen fällt. Er leidet insbesondere an keinen (chronischen) Atemwegserkrankungen oder anderen chronischen Krankheiten, wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, geschwächtem Immunstatus, Krebs oder Fettleibigkeit.

1.2.    Zu den Flucht- und Verfolgungsgründen im Herkunftsstaat

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF aus einem der von ihm genannten Gründe – konkret aufgrund der Verfolgung durch Polizisten wegen der Teilnahme an Protesten und seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sikhs - seinen Herkunftsstaat verlassen hat oder ihm aus diesen Gründen im Fall seiner Rückkehr eine Gefahr oder Verfolgung drohe.

Es kann zudem nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Indien in seinem Recht auf Leben gefährdet wird, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wird oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde.

1.3.    Zum Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers

Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Der BF lebt in Österreich in keiner Familiengemeinschaft oder in einer familienähnlichen Gemeinschaft. Er hat in Österreich keine Verwandten oder nahe Angehörige. In seinem Herkunftsstaat leben in seinem Heimatbezirk XXXX nach wie vor seine Eltern und seine beiden Brüder, und im Bundesstaat Punjab seine beiden Onkel, vier Tanten und Cousins. Sein Vater und seine Brüder arbeiten in der Landwirtschaft und nebenbei als Tischler, und hat er zu diesen regelmäßig Kontakt.

In Österreich lebt der BF bei zwei indischen Freunden, für die er kocht und putzt. Im Gegenzug wird er von diesen insofern finanziell unterstützt, als er bei ihnen kostenlos wohnen und essen darf. Er hat einen Freundeskreis, dem indische und pakistanische Staatsbürger, aber keine Österreicher angehören. Er führte eineinhalb Jahre eine Beziehung zu einer rumänischen Staatsangehörigen, die jedoch im XXXX beendet wurde und zu der er keinen Kontakt mehr hat, und sind auch keine sonstigen engen sozialen Bindungen im Bundesgebiet hervorgekommen. Der BF besucht ab und zu einen Sikh-Tempel, ist aber nicht Mitglied eines Vereins, eines Clubs oder einer sonstigen Organisation. Auch sonst engagiert er sich nicht ehrenamtlich und nimmt nicht auf sonstige Weise am gesellschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich teil. Er besuchte bisher weder Deutschkurse noch absolvierte er Deutschprüfungen und verfügt über keine nennenswerten Deutschkenntnisse.

Der BF versuchte bereits zweimal, sich in Österreich selbstständig zu machen, jedoch musste er beide Erwerbstätigkeiten wieder aufgeben. So meldete er am XXXX das Gewerbe der Güterbeförderung mit Kraftfahrzeugen oder Kraftfahrzeugen mit Anhängern, deren höchst zulässiges Gesamtgewicht insgesamt 3.500 kg nicht übersteigt, an, die Gewerbeberechtigung endete jedoch am XXXX wieder. Am selben Tag meldete der BF das Gastgewerbe in der Betriebsart Restaurant an und gründete eine Gastronomiefirma. Er pachtete dafür ein Lokal, stellte einen Geschäftsführer ein, da er selbst keine Berechtigung für das Gastgewerbe hatte und war als Koch angemeldet. Der BF führte den Betrieb etwa ein Jahr lang, verschuldete sich dabei jedoch und wurde am XXXX ein Konkursverfahren eröffnet. Am XXXX wurde der Konkurs mangels Kostendeckung rechtskräftig aufgehoben und endete die Gewerbeberechtigung des BF am selben Tag. Seitdem geht der BF im Bundesgebiet keiner Erwerbstätigkeit nach.

Der BF ist nicht selbsterhaltungsfähig und nicht versichert, bezieht jedoch keine Leistungen aus der Grundversorgung. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4.    Zur Situation im Herkunftsstaat

Auszüge aus dem Länderinformationsblatt Indien vom 31.05.2021 mit letzter Kurzinformation vom 31.05.2021:

1.4.1.  COVID-19

Letzte Änderung: 21.05.2021

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängte die indische Regierung am 25. März 2020 eine Ausgangssperre über das gesamte Land, die nur in Einzelfällen (Herstellung lebensnotwendiger Produkte und Dienstleistungen, Einkaufen für den persönlichen Bedarf, Arztbesuche, usw.) durchbrochen werden durfte. Trotz der Ausgangssperre sanken die Infektionszahlen nicht. Seit der ersten Aufsperrphase, die am 8. Juni 2020 begann, schießt die Zahl der Infektionen noch steiler als bisher nach oben. Größte Herausforderung während der Krise waren die Millionen von Wanderarbeitern, die praktisch über Nacht arbeitslos wurden, jedoch auf Grund derAusgangssperre nicht in ihre Dörfer zurückkehren konnten (ÖB 9.2020; vgl. HRW 13.1.2021). Viele von ihnen wurden mehrere Wochen in Lagern unter Quarantäne gestellt (also de facto eingesperrt), teilweise mit nur schlechter Versorgung (ÖB 9.2020). Menschen mit Beeinträchtigungen sind von coronabedingten Maßnahme wie Abriegelungen und sozialen Distanzierungen besonders betroffen. Der Zugangs zu medizinischer Versorgung und lebenswichtigen Gütern und der Ausübung sozialer Distanzierung, insbesondere für diejenigen, die persönliche Unterstützung für Aufgaben des täglichen Lebens erhalten (HRW 13.1.2021). Während der ersten Wochen der COVID-19 Pandemie, wurden Muslime für die Verbreitung des Coronavirus, auch von Vertretern der Regierungsparteien verantwortlich gemacht (FH 3.3.2021; vgl. HRW 13.1.2021).

Nach Angaben des indischen Gesundheitsministeriums vom 11. Oktober 2020 wurden seit Beginn der Pandemie mehr als sieben Millionen Infektionen mit COVID registriert. Die täglichen offiziellen Fallzahlen stiegen zwar zuletzt weniger schnell als noch im September, die Neuinfektionen nehmen in absoluten Zahlen jedoch schneller zu als in jedem anderen Land der Welt.

Medien berichten in einigen Teilen des Landes von einem Mangel an medizinischem Sauerstoff in Krankenhäusern (BAMF 12.10.2020).

Die Lage in Indien, dass mit Bezug auf das Infektionsgeschehen (neben den USA und Brasilien) zu den am schwersten von der COVID-19-Pandemie betroffenen Ländern weltweit zählt, hat sich sich gegenüber dem Sommer 2020 mit damals fast 100.000 Neuinfektionen pro Tag inzwischen etwas entspannt. Es erkranken offiziellen Angaben zufolge nach wie vor etwa 40.000 Menschen täglich am Virus. In den Ballungszentren kann die medizinische Versorgung weitestgehend aufrecht erhalten werden (GTAI 3.12.2020). Indiens Wirtschaft wurde durch die COVID19-Pandemie stark beeinträchtigt (DFAT 10.12.2020; vgl. GTAI 3.12.2020). Das Land rutschte im zweiten Quartal des Geschäftsjahres 2020-21 erstmals in eine wirtschaftliche Rezession (PRC 18.3.2021). Es wird allgemein erwartet, dass das Land ab 2021 zu einem nachhaltigen Wachstum zurückkehren wird (DFAT 10.12.2020; vgl. GTAI 3.12.2020). Nach dem zweimonatigen harten Lockdown im Frühjahr 2020 hat die indische Regierung das öffentliche Leben im Rahmen ihrer Unlock-Strategie schrittweise wieder hochgefahren. Die Bundesstaaten und Unionsterritorien haben dabei weitreichendere Entscheidungsbefugnisse, welche Lockerungen sie umsetzen und welche nicht. Mit den bestehenden Einschränkungen sollen vor allem Superspreader-Events wie religiöse Großveranstaltungen und Hochzeiten eingedämmt werden. Massentests, Kontaktnachverfolgung, Isolierung von Infizierten und die Abschottung von Gebieten mit hohen Fallzahlen (Containment Zones) sollen helfen, das Virus zurückzudrängen (GTAI 3.12.2020; vgl. WKO 13.1.2021). Es kann daher vereinzelt und regional sowie zeitlich begrenzt zu erneuten Lockdowns kommen. Eine Skizzierung in „Red Zone“, „Orange Zone“ und „Green Zone“ wird von der Regierung des Bundesstaates/Unionsterritoriums in Absprache mit dem Gesundheitsministerium und der nationalen Regierung entschieden (WKO 13.1.2021).

Gegen regierungskritische Äußerungen, auch im Zusammenhang mit Maßnahmen der Regierung im Umgang mit der COVID-19 Pandemie wurden mittels aus der Kolonialzeit stammenden Gesetzen zur Staatsverhetzung und dem im Jahr 2000 erlassenen IT-Gesetz vorgegangen (FH 3.3.2021). Medienvertreter sehen sich Drohungen, Verhaftungen, Strafverfahren oder körperlichen Angriffen durch Mobs oder der Polizei wegen der Berichterstattung über die Pandemie ausgesetzt (HRW 13.1.2021). Mehrere von der Regierung zur Eindämmung einer Verbreitung der Pandemie getroffenen Maßnahmen wurden von Menschenrechtsanwälten als invasiv angesehen (FH 3.3.2021).

Im ersten Quartal 2021 wird Indien mit einem Anstieg der Fallzahlen vor einer zweiten COVID-19 Welle erfasst (TOI 21.3.2021; vgl. TFE 20.3.2021) und verzeichnete im Zeitraum ab April/Mai 2021 die höchsten Zahlen an täglichen Todesfällen wegen des Coronavirus seit Beginn der Pandemie (BAMF 3.5.2021). Kritik äußert sich aus dem Umstand heraus, dass Indien, ob seiner Pharmaindustrie, als „Apotheke der Welt“ durch die Lieferung von Covid-19-Impfstoffen an viele Länder der Welt genießt (FE 20.3.2021; vgl. TOI 21.3.2021), gleichzeitig jedoch bei der Durchimpfung der eigenen Bevölkerung landesweit lediglich einen Wert von rund zwei Prozent erreicht (HO 28.4.2021).

Auch der Umstand, dass im Zuge der Regionalwahlen in einigen Bundesstaaten große Kundgebungen mit zum Teil Zehntausender Besucher abgehalten wurden, wie auch die Durchführung des hinuistischen Festes Kumbh-Mela in Haridwar im nördlichen Bundesstaat Uttarakhand, an dem im Zeitraum von Jänner 2021 bis zum 27. April knapp 25 Millionen Hindus vor Ort teilgenommen haben, attestieren der indischen regierung eine „praktizierte Sorglosigkeit“. Die Aussage der BJP bei einer Wahlveranstaltung im Bundestaat Assam in der verkündet wurde, „Wahlveranstaltungen und religiöse Zusammenkünfte tragen nicht zur Verbreitung von Covid-19 bei“, wird kritisiert (BAMF 3.5.2021; vgl. HO 28.4.2021).

Seit Mai 2021 sind alle Erwachsenen impfberechtigt, davor nur über 45-Jährige. In mehreren Bundesstaaten des Landes ist der Impfstoff ausgegangen, Hilfsgüter aus mehreren Ländern wie Beatmungsgeräte, Anlagen zur Sauerstofferzeugung, Medikamente und Impfstoff werden Indien von der internationalen Staatengemeionschaft zur Verfügung gestellt. Medienberichten zufolge will Indien die eigene Impfstoffproduktion bis Juni 2021 erhöhen, von der staalichen indischen Eisenbahngesellschaft gab bekannt, 4.000 Waggons mit einer Kapazität von 64.000 Betten als provisorische Stationen für Corona-Patienten bereitzustellen (BAMF 3.5.2021).

Alle Experten davon aus, dass kurzfristig die Fallzahlen wie auch die Zahlen der Toten weiter ansteigen werden, da das staatliche Gesundheitssystem in vielen Landesteilen schon jetzt an seine Grenzen gestoßen ist. Eine mittelfristige Prognose ist noch unklar. Eine Hoffnung stellt, bedingt durch den bereits erfolgten sehr breiten Ansteckung der Bevölkerung das Erreichen einer Herdenimmunität dar (HO 25.4.2021).

1.4.2.  Politische Lage

Letzte Änderung: 21.05.2021

Indien ist mit über 1,3 Milliarden Menschen und einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt (CIA 27.4.2021; vgl. AA 23.9.2020). Indien hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer regionalen Hegemonialmacht in Südostasien entwickelt. Nachdem sich das Land während des Kalten Krieges vor allem innerhalb der Blockfreienbewegung profilierte, verfolgt es heute eine eindeutig pro-westliche Politik (BICC 1.2021).

Indien ist eine parlamentarische Demokratie und verfügt über ein Mehrparteiensystem und ein Zweikammerparlament (USDOS 30.3.2021). Darüber hinaus gibt es Parlamente auf Ebene der Bundesstaaten (AA 23.9.2020). Im Einklang mit der Verfassung haben die 28 Bundesstaaten und acht Unionsterritorien ein hohes Maß an Autonomie und tragen die Hauptverantwortung für Recht und Ordnung (USDOS 30.3.2021).

Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von einem Wahlausschuss gewählt, während der Premierminister der Regierungschef ist (USDOS 30.3.2021). Der Präsident nimmt weitgehend repräsentative Aufgaben wahr. Die politische Macht liegt hingegen beim Premierminister und seiner Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist. Präsident ist seit 25. Juli 2017 Ram Nath Kovind, der der Kaste der Dalits (Unberührbaren) entstammt (GIZ 1.2021a).

Der Grundsatz der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist nach britischem Muster durchgesetzt (AA 23.9.2020). Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist verfassungsmäßig garantiert, der Instanzenzug ist dreistufig (AA 23.9.2020). Das oberste Gericht (Supreme Court) in New Delhi steht an der Spitze der Judikative und wird gefolgt von den High Courts auf Länderebene (GIZ 1.2021a).

Die Verfassung garantiert Rede- und Meinungsfreiheit (USDOS 30.3.2021). Unabhängigen Medien drücken eine große Bandbreite von Meinungen und Ansichten ohne Einschränkungen aus (USDOS 30.3.2021; vgl. FH 3.3.2021). Allerdings haben die Angriffe auf die Pressefreiheit unter der Regierung Modi zugenommen (FH 3.3.2021).

Im April/Mai 2019 wählten etwa 900 Mio. Wahlberechtigte ein neues Unterhaus. Im System des einfachen Mehrheitswahlrechts konnte die Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung des amtierenden Premierministers Narendra Modi ihr Wahlergebnis von 2014 nochmals verbessern (AA 23.9.2020).

Als deutlicher Sieger mit 352 von 542 Sitzen stellt das Parteienbündnis „National Democratic Alliance (NDA)“, mit der BJP als stärkster Partei (303 Sitze) erneut die Regierung. Der BJP-Spitzenkandidat und amtierende Premierminister Narendra Modi wurde im Amt bestätigt. Die United Progressive Alliance rund um die Congress Party (52 Sitze) erhielt insgesamt 92 Sitze (ÖB 9.2020; vgl. AA 19.7.2019). Die Wahlen verliefen, abgesehen von vereinzelten gewalttätigen Zusammenstößen v. a. im Bundesstaat Westbengal, korrekt und frei. Im Wahlbezirk Vellore (East) im Bundesstaat Tamil Nadu wurden die Wahlen wegen des dringenden Verdachts des Stimmenkaufs ausgesetzt und werden zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt (AA 19.7.2019). Mit der BJP-Regierung unter Narendra Modi haben die hindu-nationalistischen Töne deutlich zugenommen. Die zahlreichen hindunationalen Organisationen, allen voran das Freiwilligenkorps RSS [Rashtriya Swayamsevak Sangh], fühlen sich nun gestärkt und versuchen verstärkt, die Innenpolitik aktiv in ihrem Sinn zu bestimmen (GIZ 1.2021a). Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts treibt die regierende BJP ihre hindunationalistische Agenda weiter voran. Die Reform wurde notwendig, um die Defizite des Bürgerregisters des Bundesstaats Assam zu beheben und den Weg für ein landesweites Staatsbürgerregister zu ebnen. Kritiker werfen der Regierung vor, dass die Vorhaben vor allem Muslime und Musliminnen diskriminieren, einer großen Zahl von Personen den Anspruch auf die Staatsbürgerschaft entziehen könnten und Grundwerte der Verfassung untergraben (SWP 2.1.2020; vgl. TG 26.2.2020). Kritiker der Regierung machten die aufwiegelnde Rhetorik und die Minderheitenpolitik der regierenden Hindunationalisten, den Innenminister und die Bharatiya Janata Party (BJP) für die Gewalt verantwortlich, bei welcher Ende Februar 2020 mehr als 30 Personen getötet wurden. Hunderte wurden verletzt (FAZ 26.2.2020; vgl. DW 27.2.2020).

Bei der Wahl zum Regionalparlament der Hauptstadtregion New Delhi musste die Partei des Regierungschefs Narendra Modi gegenüber der regierenden Antikorruptionspartei Aam Aadmi (AAP) eine schwere Niederlage einstecken. Diese gewann die Regionalwahl erneut mit 62 von 70 Wahlbezirken. Die AAP unter Führung von Arvind Kejriwal, punktete bei den Wählern mit Themen wie Subventionen für Wasser und Strom, Verbesserung der Infrastruktur für medizinische Dienstleistungen sowie die Sicherheit von Frauen, während die BJP für das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz warb (KBS 12.2.2020). Modis Partei hat in den vergangenen zwei Jahren bereits bei verschiedenen Regionalwahlen in den Bundesstaaten Maharashtra und Jharkhand heftige Rückschläge hinnehmen müssen (quanatra.de 14.2.2020; vgl. KBS 12.2.2020).

Bei Regionalwahlen in vier indischen Bundesstaaten und einem Unionsterritorium hat die konservative Regierungspartei BJP von Premierminister Modi offenbar keine Zugewinne erzielt. In Westbengalen liegt die BJP deutlich hinter der Regionalpartei All India Trinamool Congress (TMC) von Chefministerin Mamata Banerjee. Auch in Assam, Tamil Nadu, Kerala und Puducherry fanden Wahlen statt. Nur in Assam konnte die BJP an der Macht festhalten, aber auch dort erzielte sie – wie in den anderen Bundesstaaten – keine Zugewinne. Der Wahlkampf fand inmitten der Corona-Pandemie zum Teil mit riesigen Wahlkundgebungen statt. Viele Experten sehen darin die Ursache für den dramatischen Anstieg der Infektionszahlen im Land. Modi hatte sich im Wahlkampf besonders in Westbengalen engagiert, das an der Grenze zu Bangladesch liegt und eine starke muslimische Minderheit hat. Die BJP versprach, hunderttausende Muslime auszuweisen, die vor Jahrzehnten aus Bangladesch nach Indien geflohen sind (DS 3.5.2021).

Trotz der Annäherung an die USA und der zunehmenden Spannungen mit China betont Indien weiterhin seine strategische Autonomie. Diese beinhaltet auch den Anspruch auf eine eigenständige Rolle im Kontext der geopolitischen Spannungen zwischen China und den USA im Indo-Pazifik. So haben Indien und China in den letzten Jahren auch immer wieder kooperiert, zum Beispiel in der Shanghaier Orga-nisation für Zusammenarbeit. Innerhalb der Quad hat sich Indien für ein inklusives Verständnis des Indo-Pazifiks ausgesprochen, das im Unterschied zu den Vorstellungen der USA bislang immer die Einbeziehung Chinas beinhaltete (SWP 7.2020). Ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat ist weiterhin ein strategisches Ziel Indiens (GIZ 1.2021a).

1.4.3.  Sicherheitslage

Letzte Änderung: 28.05.2021

Indien hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer regionalen Hegemonialmacht in Südostasien entwickelt. Nachdem sich das Land während des Kalten Krieges vor allem innerhalb der Blockfreienbewegung profilierte, verfolgt es heute eine eindeutig pro-westliche Politik. Das Land ist ein wichtiger Handelspartner der EU und der Vereinigten Staaten (BICC 1.2021).

Es gibt in Indien eine Vielzahl von Spannungen und Konflikten, Gewalt ist an der Tagesordnung (GIZ 1.2021a). Aufstände gibt es auch in den nordöstlichen Bundesstaaten Assam, Manipur, Nagaland sowie in Teilen Tripuras. In der Vergangenheit konnte eine Zunahme von Terroranschlägen in Indien, besonders in den großen Stadtzentren, verzeichnet werden. Mit Ausnahme der verheerenden Anschläge auf ein Hotel in Mumbai im November 2008, wird Indien bis heute zwar von vermehrten, jedoch kleineren Anschlägen heimgesucht (BICC 1.2021). Aber auch in den restlichen Landesteilen gab es in den letzten Jahren Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund. Im März 2017 platzierte eine Zelle des „Islamischen Staates“ (IS) in der Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh eine Bombe in einem Passagierzug. Die Terrorzelle soll laut Polizeiangaben auch einen Anschlag auf eine Kundgebung von Premierminister Modi geplant haben (bpb 12.12.2017). Das Land unterstützt die US-amerikanischen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Intern wurde eine drakonische neue Anti-Terror-Gesetzgebung verabschiedet, die Prevention of Terrorism Ordinance (POTO), von der Menschenrechtsgruppen fürchten, dass sie auch gegen legitime politische Gegner missbraucht werden könnte (BICC 1.2021).

Konfliktregionen sind Jammu und Kashmir (ÖB 9.2020; vgl. BICC 1.2021) und der von separatistischen Gruppen bedrohte Nordosten Indiens (ÖB 9.2020; vgl. BICC 1.2021, AA 23.9.2020). Der Punjab blieb im vergangenen Jahren von Terroranschlägen und Unruhen verschont (im Punjab wurden 2020 insgesamt 18 Vorfälle im Zusammenhang mit Terrorismus registriert (SATP 3.5.2021a). Neben den islamistischen Terroristen tragen die Naxaliten zur Destabilisierung des Landes bei. Von Chattisgarh aus kämpfen sie in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andrah Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen. Im Nordosten des Landes führen zahlreiche Separatistengruppen (United Liberation Front Assom, National Liberation Front Tripura, National Socialist Council Nagaland, Manipur People’s Liberation Front etc.) einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.9.2020). Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 9.2020).

Gewalttätige Operationen maoistischer Gruppierungen in den ostzentralen Bergregionen Indiens dauern an (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.7.2020, FH 3.3.2021). Rebellen heben illegale Steuern ein, beschlagnahmen Lebensmittel und Unterkünfte und beteiligen sich an Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Kindern und Erwachsenen. Zehntausende Zivilisten wurden durch die Gewalt vertrieben und leben in von der Regierung geführten Lagern. Unabhängig davon greifen in den sieben nordöstlichen Bundesstaaten Indiens mehr als 40 aufständische Gruppierungen, welche entweder eine größere Autonomie oder die vollständige Unabhängigkeit ihrer ethnischen oder Stammesgruppen anstreben, weiterhin Sicherheitskräfte an. Auch kommt es weiterhin zu Gewalttaten unter den Gruppierungen, welche sich in Bombenanschlägen, Morden, Entführungen, Vergewaltigungen von Zivilisten und in der Bildung von umfangreichen Erpressungsnetzwerken ausdrücken (FH 3.3.2021).

Das SouthAsia Terrorism Portal verzeichnet in einerAufstellung für das Jahr 2017 insgesamt 812 Todesopfer durch terroristische Gewalt. Im Jahr 2018 wurden 940 Personen durch terroristische Gewalt getötet und im Jahr 2019 kamen 621 Menschen durch Terrorakte. 2020 belief sich die Opferzahl terroristischer Gewalt landesweit auf insgesamt 591 Tote. 2021 wurden bis zum 3. Mai insgesamt 164 Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 3.5.2021b).

Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen (z. B. Maoistisch-umstürzlerische) Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind in der Regel Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 23.9.2020).

Bauernproteste, die sich gegen die von der indischen Regierung verabschiedeten Gesetze zur Liberalisierung des Agrarsektors richten, dauern seit Monaten an. Widerstand hat sich vor allem bei Sikhs im Punjab – dem Brotkorb Indiens - formiert. Inzwischen protestieren aber auch Bauern in anderen Teilen des Landes. Als im Januar 2021 die Proteste in New Delhi gewalttätig wurden, antwortete die Regierung mit harten Maßnahmen. Da bei den Protesten viele Sikhs beteiligt sind und u.a. eine Sikh-Flagge im Roten Fort in Delhi gehisst wurde, unterstellt die indische Regierung eine Beteiligung der Khalistan-Bewegung an den Protesten (BAMF 22.3.2021).

Indien und Pakistan

Indien und Pakistan teilen sprachliche, kulturelle, geografische und wirtschaftliche Verbindungen, doch sind die Beziehungen der beiden Staaten aufgrund einer Reihe historischer und politischer Ereignisse in ihrer Komplexität verstrickt und werden durch die gewaltsame Teilung BritischIndiens im Jahr 1947, dem Jammu & Kashmir-Konflikt und die zahlreichen militärischen Konflikte zwischen den beiden Nationen bestimmt (EFSAS o.D.).

Pakistan erkennt weder den Beitritt Jammu und Kaschmirs zur indischen Union im Jahre 1947 noch die seit dem ersten Krieg im gleichen Jahr bestehende de-facto-Aufteilung der Region auf beide Staaten an. Indien hingegen vertritt den Standpunkt, dass die Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs in seiner Gesamtheit zu Indien nicht zur Disposition steht (Piazolo 2008). Die äußerst angespannte Lage zwischen Indien und Pakistan hat sich in der Vergangenheit immer wieder in Grenzgefechten entladen, welche oft zu einem größeren Krieg zu eskalieren drohten. Seit 1947 gab es bereits drei Kriege aufgrund des umstrittenen Kaschmir-Gebiets (BICC 1.2021; vgl. BBC 23.1.2018, DFAT 10.12.2020). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen indischen und pakistanischen Streitkräften entlang der sogenannten „Line of Control (LoC)“ haben sich in letzter Zeit verschärft und Opfer auf militärischer wie auch auf ziviler Seite gefordert. Seit Anfang 2020 wurden im von Indien verwalteten Kaschmir 14 Personen durch Artilleriebeschuss durch pakistanische Streitkräfte über die Grenz- und Kontrolllinie hinweg getötet und fünf Personen verletzt (FIDH 23.6.2020; vgl. KO 25.6.2020).

Indien wirft Pakistan dabei unter anderem vor, in Indien aktive terroristische Organisationen zu unterstützen. Pakistan hingegen fordert eine Volksabstimmung über die Zukunft der Region, da der Verlust des größtenteils muslimisch geprägten Gebiets als Bedrohung der islamischen Identität Pakistans wahrgenommen wird (BICC 1.2021). Es kommt immer wieder zu Schusswechseln zwischen Truppenteilen Indiens und Pakistans an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir (BICC 1.2021). So drang die indische Luftwaffe am 26.2.2019 als Vergeltung für einen am 14. Februar 2019 verübten Selbstmordanschlag erstmals seit dem Krieg im Jahr 1971 in den pakistanischen Luftraum ein, um ein Trainingslager der islamistischen Gruppierung Jaish-e-Mohammad in der Region Balakot, Provinz Khyber Pakhtunkhwa, zu bombardieren (SZ 26.2.2019; vgl. FAZ 26.2.2019, WP 26.2.2019).

Modi nutzte den Konflikt mit Pakistan zur politischen Mobilisierung im Wahlkampf 2019. Dadurch wurde die pakistanfeindliche Stimmung in Indien so stark angeheizt, dass eine erneute Annäherung Indiens an Pakistan immer schwieriger wird. Seit der Veränderung des Status von Jammu und Kaschmir haben die Verletzungen des Waffenstillstands am Grenzverlauf zwischen Indien und Pakistan („Line of Control“) deutlich zugenommen (bpb 29.4.2021).

In einer Vereinbarung zwischen Indien und Pakistan mit dem Ziel „einen gegenseitig vorteilhaften und nachhaltigen Frieden zu erreichen“, heißt es, dass nach längeren Verhandlungen die zuletzt bestehende Vereinbarung von 2003 über eine Waffenruhe „in Wort und Geist“ ab dem 25. Februar 2021 umsetzen ist (Gov. o. I. 25.2.2021; vgl. SZ 26.2.2021).

Indien und China

Indien und China teilt eine 4.056 km lange Grenze (DFAT 10.12.2020). Der chinesisch-indische Grenzverlauf im Himalaya ist weiterhin umstritten (FAZ 27.2.2020). Nach wie vor gibt es zwischen Indien und China eine Reihe ungelöster territorialer Streitigkeiten, die 1962 zu einem kurzen Krieg zwischen den beiden Nachbarstaaten und zu mehreren Unruhen führten, darunter 2013, 2017 und 2020. Zusammenstöße zwischen Grenzpatrouillen an der 1996 vereinbarten „Line of Actual Control“ (LAC), der De-facto-Grenze zwischen der von Indien verwalteten Region des Ladakh Union Territory und der von China verwalteten Region Aksai Chin sind häufig (DFAT

10.12.2020; vgl. FIDH 23.6.2020) und forderten am 15.6.2020 mindestens 20 Tote auf indischer Seite und eine unbekannte Anzahl von Opfern auf chinesischer Seite (FIDH 23.6.2020; vgl. BBC 3.7.2020, BAMF 8.6.2020). Dies waren die ersten Todesopfer an der LAC seit 1975. Von beiden Seiten wurden eine Reihe von Gesprächen auf politischer, diplomatischer und militärischer Ebene geführt. Die Situation bleibt jedoch festgefahren (DFAT 10.12.2020). Viele indische Experten sehen in der Entscheidung der Modi-Regierung vom August 2019, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir aufzulösen, einen Auslöser für die gegenwärtige Krise (SWP 7.2020; vgl. Wagner C. 2020). Die chinesischen Gebietsübertretungen können somit als Reaktion auf die indische Politik in Kaschmir in der letzten Zeit gesehen werden (SWP 7.2020). Weitere Eskalationen drohen auch durch Gebietsverletzungen an anderen Stellen der mehr Grenze (FAZ 27.2.2020; vgl. SWP 7.2020). Sowohl Indien als auch China haben Ambitionen, ihren Einflussbereich in Asien auszuweiten (BICC 1.2021).

Zwar hat der amerikanisch-chinesische Handelskrieg die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Indien und China gestärkt und neue Möglichkeiten für indische Unternehmen auf dem chinesischen Markt geschaffen, dennoch fühlt sich Indien von Peking geopolitisch herausgefordert, da China innerhalb seiner „Neuen Seidenstraße“ Allianzen mit Indiens Nachbarländern Pakistan, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka geschmiedet hat. Besonders der Wirtschaftskorridor mit dem Erzfeind Pakistan ist den Indern ein Dorn im Auge (FAZ 27.2.2020).

Indien und Bangladesch

Die Beziehungen zu Bangladesch sind von besonderer Natur, teilen die beiden Staaten doch eine über 4.000 km lange Grenze. Indien kontrolliert die Oberläufe der wichtigsten Flüsse Bangladeschs und war historisch maßgeblich an der Entstehung Bangladeschs während seines Unabhängigkeitskrieges beteiligt. Schwierige Fragen wie Transit, Grenzverlauf, ungeregelter Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert (GIZ 1.2021a). In Nordost-Indien leben etwa 100.000 illegal eingewanderte Personen aus Bangladesch. Diese Einwanderer werden als ein erhöhtes Konfliktpotential wahrgenommen (BICC 1.2021). Auch bestehen kleinere Konflikte zwischen den beiden Ländern (BICC 1.2021).

Indien und Nepal

Die Beziehungen zwischen Indiens zu Nepal haben sich im Laufe des vergangenen Jahres [2020] verschlechtert (HRW 13.1.2021), nachdem das nepalesische Parlament im Juni 2020 eine Aufnahme dreier umstrittener Grenzgebiete in das nepalesische geographische Kartenwerk abgesegnet hat. Die kratographische Erfassung der umstrittenen Gebiete ist eine Reaktion auf den Bau einer Straße durch eines der umstrittenen Gebiete durch Indien, von welchem in einer im November 2019 überarbeitete Karte als zu Indien gehörig ausgewiesen wurde (HRW 13.1.2021). Nepal ist für Indien von besonderer sicherheitspolitischer Bedeutung (GIZ 1.2021a). Indien unterstützt die nepalesische Regierung mit Waffen und Gerät in ihrem Kampf gegen die maoistischen Guerilla (BICC 1.2021).

Indien und Sri Lanka

Die beiden Staaten pflegen ein eher ambivalentes Verhältnis (GIZ 1.2021a). Indien belieferte in der Vergangenheit Waffen die LTTE („Tamil Tigers“) in Sri Lanka (BICC 1.2021). Die tamilische Bevölkerungsgruppe in Indien umfasst ca. 65 Millionen Menschen, woraus sich ein gewisser Einfluss auf die indische Außenpolitik ergibt (GIZ 1.2021a). Indiensetzt sich für einen Prozess der Versöhnung der ehemaligen Gegnerschaften des Bürgerkrieges in Sri Lanka ein (HRW

13.1.2021).

1.4.4.  Punjab

Letzte Änderung: 31.05.2021

Der Terrorismus im Punjab ist Ende der 1990er Jahre nahezu zum Erliegen gekommen. Die meisten hochkarätigen Mitglieder der verschiedenen militanten Gruppen haben den Punjab verlassen und operieren von anderen Unionsstaaten oder Pakistan aus. Finanzielle Unterstützung erhalten sie auch von Sikh-Exilgruppierungen im westlichen Ausland (ÖB 9.2020).

Der illegale Waffen- und Drogenhandel von Pakistan in den indischen Punjab hat sich in letzter Zeit verdreifacht. Es gibt Anzeichen von konzertierten Versuchen militanter Sikh-Gruppierungen im Ausland gemeinsam mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI, die aufständische Bewegung in Punjab wiederzubeleben. Indischen Geheimdienstinformationen zufolge werden Kämpfer der Babbar Khalsa International (BKI), einer militanten Sikh-Organisation in Pakistan von islamischen Terrorgruppen wie Lashkar-e-Toiba (LeT) trainiert, BKI hat angeblich ein gemeinsames Büro mit der LeT im pakistanischen West-Punjab errichtet. Die Sicherheitsbehörden im Punjab konnten bislang die aufkeimende Wiederbelebung der aufständischen Sikh-Bewegung erfolgreich neutralisieren (ÖB 9.2020). Im Punjab (und anderen Konfliktzonen) haben die Behörden besondere Befugnisse, ohne Haftbefehl Personen zu suchen und zu inhaftieren (USDOS 30.3.2021; vgl. BBC 20.10.2015). Die Menschenrechtslage im Punjab stellt sich nicht anders dar als im übrigen Indien (ÖB 9.2020).

Neben den angeführten Formen der Gewalt, stellen Ehrenmorde vor allem in Punjab (sowie Uttar Pradesh und Haryana) weiterhin ein Problem dar (USDOS 30.3.2021).

Laut Angaben des indischen Innenministeriums zu den Zahlen der Volkszählung im Jahr 2011 leben von den 21 Mio. Sikhs 16 Mio. im Punjab (MoHA o.D.). Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass Sikhs alleine auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit von der Polizei willkürlich verhaftet oder misshandelt würden. Auch stellen die Sikhs 60 Prozent der Bevölkerung des Punjabs, einen erheblichen Teil der Beamten, Richter, Soldaten und Sicherheitskräfte. Auch hochrangige Positionen stehen ihnen offen (ÖB 9.2020).

Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 25 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt in Punjab. Im Jahr 2018 wurden drei Personen durch Terrorakte getötet, 2019 waren es zwei Todesopfer und im Jahr 2020 wurden durch terroristische Gewalt drei Todesopfer registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen]. Bis zum 3.5.2021 wurden für Beobachtungszeitraum 2020 keine Opfer von verübten Terrorakten aufgezeichnet (SATP 3.5.2021).

In Indien ist die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit rechtlich garantiert und praktisch von den Behörden auch respektiert. In manchen Grenzgebieten sind allerdings Sonderaufenthaltsgenehmigungen notwendig. Sikhs aus dem Punjab haben die Möglichkeit sich in anderen Landesteilen niederzulassen, Sikh-Gemeinden gibt es im ganzen Land verstreut. Sikhs können ihre Religion in allen Landesteilen ohne Einschränkung ausüben (ÖB 9.2020).

Im Zuge der Bauernproteste gegen die 2020 beschlossene Liberalisierung des Agrarsektors ist ein neues, gegen die religiöse Minderheit der Sikhs gerichtetes politisches Narrativ von der hindunationalistischen BJP instrumentalisiert worden, nachdem sich Widerstand gegen die Marktrefom auch bei den Sikhs aus dem Punjab formiert hatte. Politiker der Bharatiya Janata Party (BJP) unterstellten den protestierenden Sikhs vereinzelt, für ein unabhängiges Khalistan zu kämpfen und weckten damit in der Bevölkerung Erinnerungen an die Bewegung aus den 1980er und 1990er Jahren (BAMF 12.4.2021).

Aktive Mitglieder von verbotenen militanten Sikh-Gruppierungen, wie Babbar Khalsa International, müssen mit polizeilicher Verfolgung rechnen (ÖB 9.2020).

1.4.5.  Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 31.05.2021

In Indien sind viele Grundrechte und -freiheiten verfassungsmäßig verbrieft und die verfassungsmäßig garantierte unabhängige Justiz bleibt vielmals wichtiger Rechtegarant. Die häufig überlange Verfahrensdauer aufgrund überlasteter und unterbesetzter Gerichte sowie verbreitete Korruption, vor allem im Strafverfahren, schränken die Rechtssicherheit aber deutlich ein (AA 23.9.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Die Regeldauer eines Strafverfahrens (von der Anklage bis zum Urteil) beträgt mehrere Jahre; in einigen Fällen dauern Verfahren bis zu zehn Jahre (USDOS 30.3.2021; vgl. AA 23.9.2020). Auch der Zeugenschutz ist mangelhaft, was dazu führt, dass Zeugen aufgrund von Bestechung und/oder Bedrohung, vor Gericht häufig nicht frei aussagen (AA 23.9.2020). Eine systematisch diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis lässt sich nicht feststellen, allerdings sind vor allem die unteren Instanzen nicht frei von Korruption. Vorurteile z.B. gegenüber Angehörigen niederer Kasten oder Indigenen dürften zudem eine nicht unerhebliche Rolle spielen (AA 23.9.2020; vgl. FH 3.3.2021).

Das Gerichtswesen ist von der Exekutive getrennt (FH 3.3.2021). Das Justizsystem gliedert sich in den Supreme Court, das Oberste Gericht mit Sitz in Delhi; das als Verfassungsgericht die Streitigkeiten zwischen Zentralstaat und Unionsstaaten regelt. Es ist auch Appellationsinstanz für bestimmte Kategorien von Urteilen wie etwa bei Todesurteilen. Der High Court bzw. das Obergericht besteht in jedem Unionsstaat. Es ist Kollegialgericht als Appellationsinstanz sowohl in Zivil- wie auch in Strafsachen und führt auch die Dienst- und Personalaufsicht über die Untergerichte des Staates aus, um so die Justiz von den Einflüssen der Exekutive abzuschirmen. Subordinate Civil and Criminal Courts sind untergeordnete Gerichtsinstanzen in den Distrikten der jeweiligen Unionsstaaten und nach Zivil- und Strafrecht aufgeteilt. Fälle werden durch Einzelrichter entschieden. Richter am District und Sessions Court entscheiden in Personalunion sowohl über zivilrechtliche als auch strafrechtliche Fälle (als District Judge über Zivilrechtsfälle, als Sessions Judge über Straffälle). Unterhalb des District Judge gibt es noch den Subordinate Judge, unter diesem den Munsif für Zivilsachen. Unter dem Sessions Judge fungiert der 1st Class Judicial Magistrate und, unter diesem der 2nd Class Judicial Magistrate, jeweils für minder schwere Strafsachen (ÖB 9.2020).

Insbesondere auf unteren Ebenen der Justiz ist Korruption verbreitet und die meisten Bürger haben große Schwierigkeiten, ihr Recht bei Gericht durchzusetzen. Das System ist rückständig und stark unterbesetzt, was zu langer Untersuchungshaft für eine große Zahl von Verdächtigen führt. Vielen von ihnen bleiben so länger im Gefängnis, als es der eigentliche Strafrahmen wäre. Eine Reihe von Sicherheitsgesetzen erlaubt die Inhaftierung ohne Anklage oder aufgrund von vage definierten Vergehen (FH 3.3.2021). Die Dauer der Untersuchungshaft ist entsprechend zumeist exzessiv lang. Außer bei mit Todesstrafe bedrohten Delikten, soll der Haftrichter nach Ablauf der Hälfte der drohenden Höchststrafe eine Haftprüfung und eine Freilassung auf Kaution anordnen. Allerdings nimmt der Betroffene mit einem solchen Antrag in Kauf, dass der Fall über lange Zeit gar nicht weiterverfolgt wird. Mittlerweile sind ca. 70 Prozent aller Gefangenen Untersuchungshäftlinge, viele wegen geringfügiger Taten, denen die Mittel für eine Kautionsstellung fehlen (AA 23.9.2020).

In der Verfassung verankerte rechtsstaatliche Garantien (z.B. das Recht auf ein faires Verfahren) werden durch eine Reihe von Sicherheitsgesetzen eingeschränkt. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u.a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt (AA 23.9.2020).

Die Inhaftierung eines Verdächtigen durch die Polizei ohne Haftbefehl darf nach den allgemeinen

Gesetzen nur 24 Stunden dauern. EineAnklageerhebung soll bei Delikten mit bis zu zehn Jahren Strafandrohung innerhalb von 60, in Fällen mit höherer Strafandrohung innerhalb von 90 Tagen erfolgen. Diese Fristen werden regelmäßig überschritten. Festnahmen erfolgen jedoch häufig aus Gründen der präventiven Gefahrenabwehr sowie im Rahmen der Sondergesetze zur inneren Sicherheit, z.B. aufgrund des Gesetzes über nationale Sicherheit („National Security Act“, 1956) oder des lokalen Gesetzes über öffentliche Sicherheit („Jammu and Kashmir Public Safety Act“, 1978). Festgenommene Personen können auf Grundlage dieser Gesetze bis zu einem bzw. zwei Jahren (in Fällen des Public Safety Act) ohne Anklage in Präventivhaft gehalten werden. Auch zur Zeugenvernehmung können gemäß Strafprozessordnung Personen über mehrere Tage festgehalten werden, sofern eine Fluchtgefahr besteht. Fälle von Sippenhaft sind nicht bekannt (AA 23.9.2020).

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass unerlaubte Ermittlungsmethoden angewendet werden, insbesondere um ein Geständnis zu erlangen. Das gilt insbesondere bei Fällen mit terroristischem oder politischem Hintergrund oder solchen mit besonderem öffentlichem Interesse. Es ist nicht unüblich, dass Häftlinge misshandelt werden, in einigen Fällen sogar mit Todesfolge. Folter durch Polizeibeamte, Armee und paramilitärische Einheiten bleibt häufig ungeahndet, weil die Opfer ihre Rechte nicht kennen oder eingeschüchtert werden (AA 23.9.2020).

Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung, ausgenommen bei Anwendung des „Unlawful Activities Prevention Act (UAPA)“, und sie haben das Recht, ihren Anwalt frei zu wählen. Das Strafgesetz sieht öffentliche Verhandlungen vor, außer in Verfahren, in denen die Aussagen Staatsgeheimnisse oder die Staatssicherheit betreffen können. Es gibt kostenfreie Rechtsberatung für bedürftige Angeklagte, aber in der Praxis ist der Zugang zu kompetenter Beratung oft begrenzt. Gerichte sind verpflichtet Urteile öffentlich zu verkünden und es gibt effektive Wege der Berufung auf beinahe allen Ebenen der Justiz. Angeklagte haben das Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht schuldig zu bekennen (USDOS 30.3.2021).

Gerichtliche Ladunge

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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