TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/27 L514 2243604-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.09.2021
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Entscheidungsdatum

27.09.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


L514 2243604-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KLOIBMÜLLER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA Türkei, vertreten durch RA Mag. Wulf SIEDER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.05.2021, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, ist seit XXXX 2020 mit Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet.

2.       Am XXXX 2020 wurde der Beschwerdeführer von Exekutivbeamten mit einer verfälschten Fahrerkarte betreten. Er zeigte sich geständig die elektronischen Daten auf seiner Fahrerkarte verfälscht zu haben, indem er die Fahrerkarte aus dem digitalen Kontrollgerät entfernte und das Sattelkraftfahrzeug in weiterer Folge ohne gesteckter Fahrerkarte lenkte.

In weiterer Folge wurde gegen den Beschwerdeführer Anklage wegen § 293 Abs. 2 StGB erhoben.

3.       Mit Schriftsatz des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) vom 30.11.2020 erfolgte eine Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme. Der Beschwerdeführer wurde von der beabsichtigten Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Kenntnis gesetzt und ihm die Möglichkeit gewährt, binnen einer Frist von 14 Tagen eine Stellungnahme einzubringen.

Am 04.12.2020 wurde dem Beschwerdeführer die Aufforderung zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt und der Reisepass des Beschwerdeführers durch die PI XXXX sichergestellt.

4.       Mit Schriftsatz vom 14.12.2020 übermittelte der Beschwerdeführer eine schriftliche Stellungnahme. Darin führte der Beschwerdeführer unter anderem aus, dass er von 2000 bis 2007 in Österreich wohnhaft gewesen sei und anschließend aus familiären Gründen über Deutschland in die Türkei gereist sei. Seit XXXX 2020 sei er wieder in Österreich ansässig. Zu dieser Zeit habe er ein Schengenvisum für Frankreich gehabt. Er sei im vergangenen Jahr als LKW-Fahrer zwischen der Türkei und Europa hin und her gefahren, weshalb er vor seiner Einreise ins österreichische Bundesgebiet keine Wohnanschrift in seinem Heimatland oder einem Mitgliedstaat gehabt habe. Über einen Aufenthaltstitel für Österreich verfüge er nicht.

5.       Am 18.01.2021 langte beim BFA eine Mitteilung des AMS Österreich ein, wonach der Beschwerdeführer keine Rechte nach dem Assoziationsabkommen EU-Türkei ableiten könne.

6.       Am 01.02.2021 stellte der Beschwerdeführer beim Magistrat XXXX einen Antrag auf eine Rot-Weiß-Rot-Karte „Fachkraft im Mangelberuf“.

7.       Am 13.03.2021 langte beim BFA ein Abschlussbericht des SPK XXXX wegen Verdachts auf Gefährliche Drohung ein.

8.       Mit 15.01.2021 wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen § 120 FPG bestraft. Am 27.04.2021 wurde das BFA über die Strafe informiert und mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer bis zu diesem Tag auf eine diesbezügliche Mahnung nicht reagiert habe.

9.       Am 04.05.2021 teilte das BG XXXX dem BFA auf Anfrage mit, dass das Strafverfahren wegen § 293 StGB unter Bestimmung einer Probezeit von 2 Jahren vorläufig eingestellt worden sei.

10.      Mit gegenständlich in Beschwerde gezogenen Bescheid des BFA vom 18.05.2021, Zl. XXXX , wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I.), gegen ihn gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt II.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Mit Verfahrensanordnung vom selben Tag wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

11.      Gegen diesen ordnungsgemäß zugestellten Bescheid erhob der Beschwerdeführer vertreten durch RA Mag. Wulf SIEDER mit Schriftsatz vom 15.06.2021 fristgerecht vollumfängliche Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In der Beschwerde wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in Österreich entgegen der Ansicht der belangten Behörde sehr wohl ein schützenswertes Familienleben führe. So lebe sowohl der Vater als auch der Bruder des Beschwerdeführers im Bundesgebiet und eine Tante lebe noch in Deutschland. Weitere nähere Angehörige habe der Beschwerdeführer nicht. Die Mutter sei bereits verstorben als der Beschwerdeführer noch in Österreich gelebt habe. Seine Stiefmutter bzw. die jetzige Gattin seines Vaters lebe ebenfalls in Österreich. Der Beschwerdeführer sei in der Zeit von XXXX 2000 bis XXXX 2006, in der er im Bundesgebiet aufhältig gewesen sei, bei seinem Vater und seiner Stiefmutter aufgewachsen, mit denen er auch im gemeinsamen Haushalt gelebt habe. Als türkischer Staatsbürger habe er Ende 2006 in der Türkei seinen Militärdienst antreten müssen und sei es ihm danach nicht mehr möglich gewesen, zu seiner in Österreich lebenden Familie zurückzukehren. Aus diesem Grund habe der Beschwerdeführer den Kontakt zu seinem Vater und seinem Bruder verloren. Dessen ungeachtet seien diese aber weiterhin seine nächsten Angehörigen und habe der Beschwerdeführer in der Türkei keine nahen Angehörigen mehr. Er sei weder verheiratet, noch habe er Kinder oder sonstige Angehörige in der Türkei. Aufgrund der Tatsache, dass er über Jahre in Österreich gelebt und dort auch die Schule besucht hab und Deutsch eigentlich seine Umgangssprache gewesen sei, sei er seit seiner Rückkehr in die Türkei immer als Außenseiter bzw. Fremder behandelt worden und habe alleine schon deshalb in der Türkei keine Kontakte knüpfen können. All seine Jugendfreunde würden weiterhin in Österreich leben. Zu diesen habe er auch bis heute Kontakt und würden sich diese auch um ihn kümmern seitdem er nach Österreich zurückgekehrt sei. In der Türkei habe er hingegen überhaupt keine Bezugspersonen. Die Feststellung der belangten Behörde, dass keine besonderen Kontakte bestehen würden, die den Beschwerdeführer an Österreich binden würden, würde daher nicht den Tatsachen entsprechen. Vielmehr gebe es aus Sicht des Beschwerdeführers die einzigen Anknüpfungspunkte hinsichtlich des Privat- und Familienlebens lediglich in Österreich und nicht in der Türkei. Es möge zwar stimmen, dass die familiäre Bindung des Beschwerdeführers zu seinen nächsten Angehörigen durch die mehrjährige Trennung vorübergehend zum Erliegen gekommen sei, dies ändere jedoch nichts an der Tatsache, dass nach wie vor die einzigen näheren Verwandten des Beschwerdeführers, und zwar der Vater und der Bruder, sich in Österreich aufhalten würden. Zu seinem Bruder habe der Beschwerdeführer inzwischen auch wieder Kontakt aufgenommen und er hoffe, dass ihm gleiches auch wieder zu seinem Vater und seiner Stiefmutter gelinge. Das gesamte Privat- und Familienleben spiele sich für den Beschwerdeführer einzig und allein in Österreich ab, wo er entsprechende Freunde habe und wertgeschätzt werde.

Der Beschwerdeführer habe in Österreich nicht nur mehrere Jahre gelebt, sondern hier auch eine entsprechende Schul- und Berufsausbildung absolviert. Er spreche fließend Deutsch. Seine Deutschkenntnisse zur selbstständigen Sprachverwendung befänden sich jedenfalls auf B1-Niveau. Weiters habe er aufgrund seiner Schulbildung entsprechende Englischkenntnisse und beherrsche natürlich auch seine Muttersprache Türkisch. Neben seiner Berufserfahrung aufgrund seines früheren Aufenthaltes in Österreich verfüge er auch über eine abgeschlossene Berufsausbildung als Fernfahrer, was in Österreich einen Mangelberuf darstelle. Bei entsprechender Genehmigung könne er sofort in Österreich eine Stelle als Fernfahrer antreten. Da Arbeitskräfte wie der Beschwerdeführer in Österreich dringend gesucht werden würden, sei ihm sogar nahegelegt worden, sich um eine Rot-Weiß-Rot-Karte „Fachkraft im Mangelberuf“ zu bewerben. Dem sei der Beschwerdeführer beim Magistrat XXXX auch umgehend nachgekommen. Das BFA sei am 01.02.2021 darüber informiert worden, dass der Beschwerdeführer einen entsprechenden Antrag gestellt habe, jedoch sei dieser Umstand von der belangten Behörde völlig außer Acht gelassen worden. Obwohl aufgrund der Qualifikation des Beschwerdeführers mit der Erteilung einer Rot-Weiß-Rot-Karte zu rechnen sei, gehe das BFA davon aus, dass ein Eingriff in sein Privat- und Familienleben gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK geboten sei. Die Behörde habe jedoch übersehen, dass die einschlägigen fremdenpolizeilichen Bestimmungen, wie der zweiten Teil des NAG, vorsehen würden, dass derartige Fachkräfte erleichtert einreisen und sich niederlassen könnten. Es sei weder abgewartet worden, wie der Magistrat XXXX über den offenen Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung einer Rot-Weiß-Rot-Karte entscheide, noch sei die offene Frage des zulässigen Aufenthaltes entsprechend einer Rot-Weiß-Rot-Karte als Vorfrage seitens der belangten Behörde selbst geprüft worden. Wenn der Beschwerdeführer jedoch grundsätzlich die Voraussetzungen für einen Aufenthalt im Bundesgebiet aufgrund einer Rot-Weiß-Rot-Karte erfülle und auch bereits einen entsprechenden Antrag gestellt habe, werde ein Eingriff in sein Privat- und Familienleben, auch wenn dieses nicht so stark ausgeprägt sein mag, umso weniger gerechtfertigt sein. Die belangte Behörde habe hier die notwendige Interessenabwägung völlig unterlassen und sei ohne weitere Überprüfung davon ausgegangen, dass sie verpflichtet sei, in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers einzugreifen. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung sei ebenso wenig durchgeführt worden.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Sachverhalt:

1.1.    Feststellungen zur Person:

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, heißt XXXX und wurde am XXXX in XXXX in der Türkei geboren.

Der Beschwerdeführer hat von XXXX 2000 bis XXXX 2006 in Österreich gelebt. Er hat in dieser Zeit in Österreich die Schule besucht und auch gearbeitet. Der Beschwerdeführer hat sein Aufenthaltsrecht von seiner Mutter, einer österreichischen Staatsbürgerin, abgeleitet, welche jedoch im Jahr 2006 verstorben ist. Ende 2006 verließ der Beschwerdeführer auf Wunsch seines Vaters das Bundesgebiet und reiste zurück in die Türkei, wo er in weiterer Folge auch seinen Militärdienst ableistete.

Der Beschwerdeführer ist seit XXXX 2020 wieder mit Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet, verfügt jedoch in Österreich über keinen Aufenthaltstitel. Er ist im Besitz eines gültigen türkischen Reisepasses, welcher durch die PI XXXX sichergestellt wurde. Bis zum XXXX 2020 war der Beschwerdeführer auch im Besitz eines C-Schengenvisums, ausgestellt für Frankreich für ein Jahr mit mehrfachen Einreisen beschränkt auf die Dauer von 90 Tage. Aufgrund der zahlreichen auch unleserlichen Stempel aufgrund der Tätigkeit des Beschwerdeführers als LKW-Fahrer, konnte nicht festgestellt werden, ob die Gesamtaufenthaltsdauer bereits vor der Einreise nach Österreich überschritten war. Der Beschwerdeführer ist jedoch jedenfalls seit XXXX 2020 im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig. Mit XXXX 2021 wurde der Beschwerdeführer diesbezüglich rechtskräftig wegen § 120 FPG bestraft.

Der Beschwerdeführer verfügt über eine abgeschlossene Berufsausbildung als Fernfahrer und übte diesen Beruf in den letzten Jahren auch aus, weswegen er zwischen der Türkei und den Mitgliedstaaten der EU (Deutschland, Niederlande, Frankreich, Rumänien, Ungarn) hin und her gefahren ist. Derzeit geht der Beschwerdeführer keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet nach. Im Falle der Erteilung eines Aufenthaltstitels könnte der Beschwerdeführer jedoch sofort eine Arbeit als Fernfahrer aufnehmen. Zwei österreichische Speditionsfirmen äußerten gegenüber dem Beschwerdeführer bereits den Wunsch, diesen einzustellen.

Der Beschwerdeführer ging während seines ersten Aufenthaltes in Österreich – mit mehreren kurzen Unterbrechungen – von XXXX 2002 bis XXXX 2006 im Bundesgebiet einer Erwerbstätigkeit nach. Rechte aus dem Assoziationsübereinkommen hat der Beschwerdeführer mit diesen Tätigkeiten nicht erworben, insbesondere keine Rechte nach Art. 6 oder Art. 7 ARB Nr. 1/80.

Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. In Österreich leben der Vater des Beschwerdeführers mit seiner nunmehrigen Ehegattin sowie sein Bruder. Darüber hinaus lebt eine Tante des Beschwerdeführers in Deutschland. Mit seinem Vater und dessen Ehegattin hat der Beschwerdeführer aktuell keinen Kontakt. Auch mit seiner in Deutschland lebenden Tante und deren Familie hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt. Zu seinem Bruder hat der Beschwerdeführer seit seiner erneuten Einreise in Österreich inzwischen wieder Kontakt aufgenommen. Am XXXX 2021 traten die beiden via Instagram Chat nach einem jahrelangen schlechten Verhältnis sowie Kontaktabbruch erstmals wieder erneut in Kontakt, wobei es in dem Videochat innerhalb kürzester Zeit zu einem heftigen Streit, sowie in weitere Folge zu beidseitigen Beschimpfungen und Beleidigungen kam. Das Bundesverwaltungsgericht konnte nicht abschließend feststellen, ob der Beschwerdeführer seinen Bruder im Anschluss tatsächlich mit dem Umbringen bedroht hat. Es konnte jedoch festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer und sein Bruder weiterhin ein schlechtes Verhältnis zueinander haben.

Der Beschwerdeführer bezieht in Österreich keine Sozialleistungen. Er ist nicht sozialversichert. Er verfügt im Bundesgebiet über mehrere Freunde bzw. Bekannte, welche ihn seit seiner erneuten Einreise finanziell unterstützen. Bei einem dieser Freunde wohnt der Beschwerdeführer seit seiner Einreise, ohne dafür Miete oder Betriebskosten bezahlen zu müssen. Der Beschwerdeführer bewegt sich in Österreich überwiegend in türkischen Kreisen. Er ist kein Mitglied eines Vereines in Österreich und auch ansonsten nicht ehrenamtlich tätig. Der Beschwerdeführerspricht verfügt über Deutschkenntnisse zur selbstständigen Sprachverwendung auf B1-Niveau. Er spricht die deutsche Sprache auf sehr gutem Niveau. Der Beschwerdeführer ist gesund, arbeitsfähig und arbeitswillig. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in der Türkei geboren und verbrachte dort die ersten 13 Jahren seines Lebens, ehe er im Jahr 2000 nach Österreich reiste. Im Jahr 2006 reiste der Beschwerdeführer zurück in die Türkei, wo er weitere 14 Jahre lebte, ehe er erneut in das österreichische Bundesgebiet einreiste. Der Beschwerdeführer wurde in der Türkei sozialisiert und besuchte dort auch die Schule. Seine Muttersprache ist Türkisch. Der Beschwerdeführer leistete in der Türkei seinen Militärdienst ab und schloss eine Ausbildung zum Fernfahrer ab.

Der Beschwerdeführer hat nicht vorgebracht, dass ihm in der Türkei eine reale Bedrohungssituation für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit droht. Aufgrund seines Alters und Gesundheitszustandes ist er zu einer eigenständigen Bestreitung seines Lebensunterhalts in der Türkei in der Lage.

1.2.    Zur aktuellen Lage in der Türkei wird auf die vom BFA ins Verfahren eingebrachten Länderfeststellungen verwiesen (Länderinformation der Staatendokumentation Türkei aus dem COI-CMS, 17.05.2021):

COVID-19

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vgl. DS 11.3.2020). Nach den ersten vier Monaten des Jahres 2021 verzeichnete das Land 40.000 Corona-Tote bei offiziell annähernd 4,9 Mio. Infizierten. Bis Jahresende 2020 waren es rund 2,2 Mio Fälle und cirka 21.000 Tote. Das heißt innert der ersten vier Monate des Jahres 2021 haben sich beide Werte fast verdoppelt (JHU 3.5.2021). Mit Stand 5.5.2021 waren laut Angaben des Gesundheitsministeriums 14,25 Mio. Menschen, bei einer Bevölkerung von 85 Mio., mit einer ersten Dosis des Impfstoffs geimpft, während 9,82 Millionen eine zweite Dosis erhalten haben. Somit waren offiziell 25% der Einwohner zumindest einmal geimpft (Ahval 5.5.2021).

Am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca, dass nunmehr alle positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik aufgenommen werden. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020).

Beginnend mit 1.12.2020 war ein Lockdown in Kraft getreten, welcher u.a. unter der Woche eine nächtliche und an den Wochenenden eine totale Ausgangssperre vorsah. Eingeführt wurde der sogenannte HES (Hayat Eve Sigar) - Code, ein behördlich verliehener elektronischer Schlüssel, mittels welchem der momentane Status der jeweiligen Person in Hinblick auf Corona verfolgt und überprüft werden kann. Er dient z.B. als Zutrittsvoraussetzung zu Ämtern oder eben Einkaufszentren (WKO 21.1.2021).

Nachdem es durch strenge Maßnahmen gelang, die zweite Corona-Welle im Jänner etwas unter Kontrolle zu bringen, folgten ab 1.3.2021 Lockerungen, die die Regierung als "Normalisierungsprozess" bezeichnete (DW 3.4.2021). Davon abgesehen, ermächtigte die Regierung die Provinzbehörden, lokale Quarantänen und Ausgangssperren auf der Grundlage von epidemiologischen Daten zu verhängen (Garda World 1.3.2021). Doch seit den Lockerungen stiegen die Corona-Infektionen explosionsartig. Opposition und Ärzte gaben der Regierung die Schuld, wonach letztere mehrfach fahrlässig gehandelt hätte. Besonders der Türkische Ärztebund (TTB) rüttelte stets an der Glaubwürdigkeit der türkischen Regierung und ihrem Corona-Krisenmanagement (DW 3.4.2021). Der TTB verlangte Ende März 2021 angesichts der rasant steigenden Fallzahlen, u.a. die Mobilität auf stark frequentierten Straßen in den Städten ebenso einzuschränken wie Massenkontakte zwischen Menschen in geschlossenen Räumen. Zudem forderte der Ärzteverband von der Regierung mehr Transparenz hinsichtlich der COVID-19-Zahlen, des Impfprogramms sowie der Anwendung der Klassifizierungskritierien für die Provinzen (Reuters 26.3.2021).

Am 13.4.2021 wurde zunächst ein Teil-Lockdown wieder eingeführt, welcher eine verlängerte abendliche Ausgangssperre an Wochentagen, eine Rückkehr zum Online-Unterricht und ein Verbot von unnötigen Überlandfahrten beinhaltete (AP 18.4.2021). Die Bewohner mussten während der Ausgangssperre in ihren Häusern bleiben, außer zwecks Verrichtung einer wichtigen Arbeit oder aus dringenden medizinischen Gründen. Alle Veranstaltungen wie Hochzeiten und persönliche Feiern wurden bis zum 12.5.2021 ausgesetzt (Garda World 13.4.2021). Angesichts von täglichen Fallzahlen von über 60.000 bei über 300 Toten wurde überdies eine Ausgangssperre am Wochenende in Risikostädten, wie Istanbul oder Ankara, verhängt (Ahval 21.4.2021). Zuvor hatte Präsident Erdo?an auch wieder Wochenendsperren verhängt und die Schließung von Restaurants und Cafés während des heiligen muslimischen Monats Ramadan angeordnet (AP 18.4.2021).

Angesichts der steigenden Fall- und Todeszahlen wurde am 26.4.2021 ein fast dreiwöchiger verschärfter Lockdown, beginnend mit 29.4.2021, verkündet (AP 27.4.2021). Bis 17.5.2021 besteht (bestand) landesweit ein generelles Ausgangsverbot. Nebst Mindestabstand gilt an allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, Maskenpflicht. Einkäufe dürfen nur montags bis samstags von 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr in Gehnähe und zu Fuß, nicht mit dem PKW, durchgeführt werden. Gastronomische Stätten haben nur für Lieferservice geöffnet. Einzelhandel, körpernahe Berufe ebenso wie Kinos, Bäder etc, bleiben geschlossen. Versammlungen und Hochzeiten sind verboten. Schulen und Kindergärten bleiben für den Präsenzunterricht geschlossen (WKÖ 27.4.2021; vgl. Garda World 27.4.2021). Allerdings wurden Millionen von Menschen von diesem ersten landesweiten Lockddown ausgenommen. Dazu gehörten neben Mitarbeitern des Gesundheitssektors und Vollzugsbeamten auch Fabrik- und Landwirtschaftsarbeiter sowie Mitarbeiter von Lieferketten und Logistikunternehmen. Auch Touristen waren ausgenommen. Schätzungen gingen davon aus, dass bis zu 16 Mio. der 84 Mio. Einwohner während des Lockdowns trotzdem unterwegs sein würden (AP 30.4.2021).

Quellen:

?        Ahval (5.5.2021): Turkey close to achieving ‘mass immunity’ against COVID-19 – official, https://ahvalnews.com/turkey-covid-19/turkey-close-achieving-mass-immunity-against-covid-19-official, Zugriff 5.5.2021

?        Ahval (21.4.2021): Turkey registers record COVID-19 death toll of 362, over 60,000 new cases, https://ahvalnews.com/pandemic/turkey-registers-record-covid-19-death-toll-362-over-60000-new-cases, Zugriff 22.4.2021

?        AP – Associated Press (30.4.2021): Despite 3-week lockdown, many remain on the move in Turkey, https://apnews.com/article/middle-east-europe-turkey-religion-coronavirus-de48eb49ba5ade8961f87adee48cec4c, Zugriff 3.5.2021

?        AP – Associated Press (27.4.2021): Full COVID-19 lockdown adds to financial strain in Turkey, https://apnews.com/article/istanbul-recep-tayyip-erdogan-arts-and-entertainment-lifestyle-health-3151b3d113058d455ac44bca8ad71817, Zugriff 28.4.2021

?        AP – Associated Press (18.4.2021): Turkey reports record daily number of COVID-19 deaths, https://apnews.com/article/general-news-health-religion-turkey-51616e9efa1032384fa2282efc499261, Zugriff 21.4.2021

?        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.11.2020): Briefing Notes, KW 49, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw49-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 6.5.2021

?        DS – Daily Sabah (11.3.2020): Turkey remains firm, calm as first coronavirus case confirmed, https://www.dailysabah.com/turkey/turkey-remains-firm-calm-as-first-coronavirus-case-confirmed/news, Zugriff 30.12.2020

?        DW – Deutsche Welle (3.4.2021): Die dritte Corona-Welle überrollt die Türkei, https://www.dw.com/de/die-dritte-corona-welle-%C3%Bcberrollt-die-t%C3%Bcrkei/a-57087784, Zugriff 21.4.2021

?        FNS – Friedrich-Naumann-Stiftung (16.3.2020): Türkei Bulletin 5-2020, http://shop.freiheit.org/download/P2@876/248113/05-2020-T%C3%Bcrkei-Bulletin.pdf, Zugriff 30.12.2020

?        Garda World (27.4.2021): Turkey: Government exempts foreign tourists from nationwide COVID-19 lockdown April 29-May 17 /update 39, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/472106/turkey-government-exempts-foreign-tourists-from-nationwide-covid-19-lockdown-april-29-may-17-update-39, Zugriff 29.4.2021

?        Garda World (13.4.2021): Turkey: Government to tighten domestic COVID-19-related restrictions April 14-27 /update 36, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/466616/turkey-government-to-tighten-domestic-covid-19-related-restrictions-april-14-27-update-36, Zugriff 21.4.2021
Garda World (1.3.2021): Turkey: Authorities ease certain COVID-19-related domestic restrictions as of March 1 /update 33, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/449486/turkey-authorities-ease-certain-covid-19-related-domestic-restrictions-as-of-march-1-update-33, Zugriff 21.4.2021

?        JHU – Johns Hopkins University & Medicine (3.5.2021): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html, Zugriff 3.5.2021

?        Reuters (26.3.2021): Turkish medics call for tougher measures as COVID-19 surges, https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-turkey-healthcare-idUKKBN2BI2SK, Zugriff 21.4.2021

?        WKO – Wirtschaftskammer Österreich (27.4.2020): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Schutzmassnahmen_und_Geschaeftsleben, Zugriff 28.4.2021

?        WKO – Wirtschaftskammer Österreich (21.1.2020): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Schutzmassnahmen_und_Geschaeftsleben, Zugriff 25.1.2021

Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 24.8.2020; vgl. DFAT 10.9.2020).

Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei zugunsten des neuen präsidialen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert, die Institutionen verkrüppelt und es herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Die Verfassungsarchitektur ist weiterhin von einer fortschreitenden Zentralisierung der Befugnisse im Bereich des Präsidentenamtes geprägt, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten (EC 29.5.2019).

Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats (Kabinetts) übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art.8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9).

Da es keinen wirksamen Kontroll- und Ausgleichsmechanismus gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Unter diesen Bedingungen setzten sich die gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Normen, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten fort. Die politische Polarisierung verhindert einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die parlamentarische Kontrolle über die Exekutive bleibt schwach. Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020).

Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gesenkt. Die unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und PACE kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem (damals noch) geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31.3.2019 hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem Vorsprung von nur 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).

Die Gesetzgebungsverfahren sind nicht effektiv. Präsidialdekrete bleiben der parlamentarischen Beratung und Kontrolle entzogen (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020). Präsidialdekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 10.2020) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsident und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialdekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments, nichtsdestotrotz hat der Präsident bis Dezember 2019 53 Dekrete erlassen, die ein breites Spektrum sozioökonomischer Politikbereiche abdecken und eben nicht in den Geltungsbereich von Präsidialdekreten fallen (EC 6.10.2020). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialdekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialdekreten beantragen kann (EC 29.5.2019).

Der Präsident kann einen Ausnahmezustand selbständig ausrufen. Die zulässigen Gründe sind extrem weit gefasst. Im Ausnahmezustand gibt es keine Grenzen für die Reichweite von Präsidialdekreten. Gegen diese ist kein Einspruch beim Verfassungsgericht möglich (SWP 4.2021, S.9).

Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft (Stand Ende Dezember 2020), im Falle von Selahattin Demirta? trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlio?lu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021) Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, bleiben ungelöst (EC 6.10.2020).

PACE beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend Parlamentarier der Opposition sind von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum die Parlamentarier der HDP mehrheitlich betroffen sind. Auf letztere entfallen 75% der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen. In der Besorgnis, dass die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Oppositionsmandataren zur Routine wird, forderte PACE daher die türkischen Behörden auf, die gerichtlichen Schikanen gegen Parlamentarier zu beenden und von der Einleitung zahlreicher Verfahren zur unzulässigen Aufhebung ihrer Immunität abzusehen, die die Ausübung ihres politischen Mandats ernsthaft behindern (PACE 22.4.2021, S.2f.).

Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 6.10.2020). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt auch im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018). Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands verhaftet und mehr als 78.000 aufgrund Vorwürfen mit Terrorismusbezug festgenommen (EC 29.5.2019).

Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020). Mit Stand Oktober 2020 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister, hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblich Verbindungen zu terroristischen Organisationen hatten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 6.10.2020; vgl. bianet 2.10.2020). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Da keine Anklage erhoben wurde, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020).

Quellen:

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Sicherheitslage

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht. Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (AA 24.8.2020; vgl. SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016).

Die Lage im Südosten des Landes ist weiterhin sehr besorgniserregend (EC 6.10.2020). Der Konflikt zwischen der Regierung und der PKK dauert an. Bestehende Spannungen werden durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak verstärkt. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen PKK-Kämpfern und den Sicherheitskräften (EDA 28.4.2021), wenn auch auf einem geringeren Niveau als in den Vorjahren. Diese führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte führen groß angelegte Operationen und Strassencheckpoints durch, bei denen es auch zu Risiken für anwesende Zivilpersonen kommen kann. Auch bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften kann es zu Todesopfern und Verletzten kommen (EDA 28.4.2021). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 6.10.2020).

Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (?HD) kamen 2019 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 440 Personen ums Leben, davon 98 Angehörige der Sicherheitskräfte, 324 bewaffnete Militante und 18 Zivilisten (?HD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (?HD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (?HD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (?HD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe über 5.300 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis April 2021. Im Jahr 2020 wurden 366 Opfer registriert. Besonders hoch waren die Zahlen in den Monaten Mai bis September 2020. In den ersten vier Monaten des Jahres 2021 wurden 56 Tote gezählt (ICG 4.5.2021). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 6.10.2020).

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 28.4.2021). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheitsoperationen gegen die PKK ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen, sind sie mit Ausgangssperren von unterschiedlichem Umfang und Dauer konfrontiert (USDOS 30.3.2021, S.25; vgl. AA 28.4.2021). Sicherheitszonen und Ausgangssperren werden streng kontrolliert, das Betreten der Sicherheitszonen ist strikt verboten. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre, aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und A?r? (AA 28.4.2021).

Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).

Das türkische Parlament stimmte (mit Ausnahme der pro-kurdischen HDP) am 7.10.2020 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen sowohl im Irak als auch in Syrien um ein weiteres Jahr zu verlängern (BAMF 19.10.2020).

Quellen:

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?        AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 7.10.2020

?        AJ – Al Jazeera (12.12.2016): Turkey detains pro-Kurdish party officials after attack, https://www.aljazeera.com/news/2016/12/12/turkey-detains-pro-kurdish-party-officials-after-attack/, Zugriff 8.10.2020

?        Anadolu – Anadolu Agency [Türkei] (7.4.2021): Turkey blocks assets of 377 members of terrorist groups, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-blocks-assets-of-377-members-of-terrorist-groups/2200499, Zugriff 20.4.2021

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?        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (19.10.2020): Briefing Notes KW 43, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw43-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=6, Zugriff 28.10.2020

?        DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 20.10.2020

?        EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 19.10.2020

?        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (28.4.2021): Reisehinweise Türkei, Spezifische regionale Risiken, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 28.4.2021

?        ICG – International Crisis Group (4.5.2021): Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer, Zugriff 28.12.2020

?        ?HD – ?nsan Haklar? Derne?i – Human Rights Association (18.5.2020a): 2019 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2020/05/2019-SUMMARY-TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN-TURKEY.pdf, Zugriff 7.10.2020

?        ?HD – ?nsan Haklar? Derne?i – Human Rights Association (19.4.2019): 2018 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2019/05/2018-SUMMARY-TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN-TURKEY.pdf, Zugriff 20.10.2020

?        ?HD – ?nsan Haklar? Derne?i – Human Rights Association (24.5.2018): 2017 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/05/IHD_2017_balance-sheet-1.pdf, Zugriff 17.10.2020

?        ?HD – ?nsan Haklar? Derne?i – Human Rights Association (1.2.2017): IHD’s 2016 Report on Human Rights Violations in Eastern and Southeastern Anatolia Region, https://ihd.org.tr/en/ihds-2016-report-on-human-rights-violations-in-eastern-and-southeastern-anatolia/, Zugriff 19.10.2020

?        SDZ – Süddeutsche Zeitung (29.6.2016) [ANM.: Ohne ein Aktualisierungsdatum zu nennen, sind Ereignisse bis Jän. 2017 hinzugefügt]: Chronologie des Terrors in der Türkei, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-der-terror-begann-in-suruc-1.3316595, Zugriff 19.10.2020

?        USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 1.4.2021

?        USDOS – United States Department of State [USA] (24.6.2020): Country Report on Terrorism 2019 – Chapter 1 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2032441.html, Zugriff 19.10.2020

Allgemeine Menschenrechtslage

Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam zu weiteren Rückschritten, vor allem in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Verfahrensrechte, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, den Schutz von Menschenrechtsverteidigern sowie die Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 6.10.2020). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021).

Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 6.10.2020), denn

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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