TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/29 L514 2149177-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.09.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

29.09.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


L514 2149177-1/64E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KLOIBMÜLLER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA Irak, vertreten durch RA Mag. Thomas KLEIN, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.02.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 14.11.2018 und am 25.02.2021 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, sunnitischer Moslem und der Volksgruppe der Araber angehörig, reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am XXXX 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 30.05.2015 wurde er durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.

Im Rahmen der Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer vor, dass er am XXXX 2015 den Irak legal per Flugzeug in Richtung Türkei verlassen habe und über Griechenland, wo er von der Polizei aufgegriffen und ihm die Fingerabdrücke abgenommen worden seien, Mazedonien, Serbien und durch ein weiteres ihm unbekanntes Land nach Österreich gereist sei.

Als Grund für die Ausreise führte der Beschwerdeführer an, dass IS Terroristen Mosul besetzt hätten. Aus Angst vor dem Krieg und dem IS habe er sein Land verlassen.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er aus XXXX stamme, 12 Jahre lang die Schule besucht und im Irak als Hilfsarbeiter gearbeitet habe. Er sei unverheiratet und kinderlos. Seine Eltern, drei Brüder und vier Schwestern würden nach wie vor im Irak leben.

2.       Am 31.01.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab eingangs an, dass es im Rahmen der Erstbefragung zu Protokollierungsfehlern gekommen sei. So habe er etwa im Irak die Universität besucht, gehöre dem sunnitischen Glauben an und habe am XXXX 2014 XXXX verlassen. Er habe auch nicht selbst Kontakt mit den Schleppern aufgenommen, sondern eine Person kennengelernt, welche den Schleppern kontaktiert habe. Weiters gab er an gesund zu sein und keine Medikamente einzunehmen.

Hinsichtlich seiner persönlichen Verhältnissen führte der Beschwerdeführer aus, dass er 12 Jahre die Schule sowie anschließend die Universität besucht habe. Er habe in XXXX / XXXX im familieneigenen Haus zusammen mit seinen Angehörigen gewohnt. Gearbeitet habe er zusammen mit einem Freund in einem Geschäft für Computer. Sein Vater sei Angestellter in einer Teppichfirma gewesen und habe für die Familie gesorgt. Ihre wirtschaftliche Situation sei gut gewesen. Zuletzt habe er mit seiner Familie im Jahr 2014 Kontakt gehabt. In XXXX würden darüber hinaus auch noch 10 Onkel und Tanten des Beschwerdeführers leben.

Sein Vater habe ihn ca. vier Monate nach Einmarsch des IS angerufen und zu ihm gesagt, er solle nicht zurückkommen. Befragt nach dem Aufenthaltsort seiner Geschwister habe ihm sein Vater lediglich gesagt, dass er diesen nicht kenne.

Nach seinen Ausreisegründen befragt führte der Beschwerdeführer aus, dass der IS am XXXX 2014 den rechten Teil von XXXX eingenommen habe. In dieser Zeit seien alle Menschen von der rechten Seite der Stadt geflüchtet. Sein Vater habe sofort seine Geschwister angerufen, um diese aufzufordern, nachhause zu kommen. Er habe sie jedoch nicht erreichen können. Seine Brüder hätten zuvor noch gesagt, dass sie sich versammeln und gemeinsam nach Hause kommen würden, was jedoch nicht geschehen sei. Am XXXX 2014 um Mitternacht habe die irakische Armee XXXX verlassen, woraufhin die Menschen begonnen hätten aus der Stadt zu flüchten. An diesem Tag habe sein Vater gesagt, dass sie auch flüchten sollen. Der Beschwerdeführer solle schon vorausfahren. Der Vater sei noch dortgeblieben, um auf die Geschwister zu warten. Der Beschwerdeführer habe daraufhin seine Sachen gepackt und sei am XXXX 2014 nach XXXX geflohen. An der Grenze habe er jedoch nicht ohne Bürgschaft einreisen können, weswegen er seinen Freund Hussan angerufen habe, welcher ihm am nächsten Tag eine Bürgschaft geschickt habe. Er habe dann in der Wohnung seines Freundes gewohnt. Nach ca. acht oder neun Monaten sei sein Visum abgelaufen und habe er es nicht verlängern können, weswegen er nach Istanbul habe fliehen müssen. Auf Nachfrage, warum seine Eltern nicht nach XXXX nachgereist seien, erklärte der Beschwerdeführer, dass ihn sein Vater etwa vier Monate nach seiner Ausreise aus XXXX angerufen und erzählt habe, dass Leute des IS nach Hause gekommen seien und nach seiner Person gefragt hätten. Den Grund für die Nachfrage kenne er jedoch nicht. Er habe sich nach dem Aufenthaltsort seiner Geschwister erkundigt, sein Vater habe ihm jedoch mitgeteilt, immer noch nicht zu wissen, wo sich diese aufhalten würden. Dies sei der letzte Kontakt zu seinem Vater gewesen. Nachgefragt habe er XXXX deshalb verlassen, weil er mit dem IS nichts zu tun haben wolle. Er sei zwar Sunnit, aber kein Extremist. Sie hätten ihn gezwungen sich ihnen anzuschließen. Eine Rückkehr in den Irak bzw. nach XXXX sei ausgeschlossen, weil er keine Familie mehr habe und zu der dort verbliebenen Bevölkerung kein Vertrauen habe. Im Irak habe der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise weder mit der Polizei, den Behörden oder den Gerichten Probleme gehabt. Er habe sich auch nicht politisch engagiert.

Im Hinblick auf seine Integration in Österreich führte der Beschwerdeführer aus, dass er ledig sowie kinderlos sei und im Bundesgebiet keine Verwandten habe. Er befinde sich jedoch in einer Beziehung und kenne diese Person seit einem Jahr. Weiters habe er einen Deutschkurs auf dem Niveau A2 abgeschlossen. Er gehe in Österreich keiner Arbeit nach und lebe von der Grundversorgung. Darüber hinaus legte der Beschwerdeführer Integrationsunterlagen sowie mehrere Empfehlungsschreiben vor, welchen zu entnehmen sei, dass er einen Deutschkurs auf dem Niveau B1 besucht habe, sich ehrenamtlich engagiere und sich an der XXXX für das Wintersemester 2016/2017 inskribiert habe.

3.       Mit gegenständlich in Beschwerde gezogenen Bescheid des BFA vom 13.02.2017, Zl. XXXX , wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG (Spruchpunkt IV.) wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Beweiswürdigend führte das BFA aus, dass die vom Beschwerdeführer vorgetragenen Ausreisegründe keine Verfolgung seiner Person darstellen würden, da er aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage in XXXX das Land verlassen habe. Er habe zwar auch angegeben, dass ca. vier Monate nach seiner Flucht aus XXXX der IS bei ihm zuhause nach ihm gefragt habe, begründen habe er dies jedoch nicht können, zumal er dies nur von seinem Vater erfahren habe. Entscheidend für die Ausreise aus dem Irak sei nicht der Einmarsch des IS in XXXX gewesen, sondern habe er sich noch acht bis neun Monate in XXXX aufgehalten. Nach seinen Angaben zufolge habe er das Land verlassen, weil er keinen Aufenthaltstitel mehr für die Region gehabt habe. In diesem Zusammenhang wurde weiters dargetan, dass es nicht plausibel sei, weshalb er nicht in einem der unzähligen Flüchtlingslager Schutz gesucht habe, zumal er sich für einige Monate – seinen Angaben folgend – in XXXX aufgehalten habe. Es sei somit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer die Gelegenheit genutzt habe, um über das Asylrecht zu einem Aufenthaltstitel in einem von ihm gewünschten Land – in Griechenland hat der Beschwerdeführer keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt – in Europa zu kommen. Es sei nicht ersichtlich, dass er, auch wenn seine Aufenthaltsbewilligung für XXXX abgelaufen sei, in einen anderen Landesteil abgeschoben worden wäre. Den Ausführungen des Beschwerdeführers sei zu entnehmen, dass es niemals zu einer Bedrohung bzw. Verfolgung seiner Person, weder durch Privatpersonen, noch durch staatliche Mächte gekommen sei, weder in XXXX , noch in XXXX oder sonst im Irak. Darüber hinaus habe das BFA keine Umstände feststellen können, welche einer Rückkehr des Beschwerdeführers in den Irak entgegenstehen würden, zumal er doch dort über ausreichende familiäre Anknüpfungspunkte verfügen würde.

Das BFA hielt weiters fest, dass bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Hinweise gefunden werden könnten, welche den Schluss zuließen, dass durch die Rückkehrentscheidung auf unzulässige Weise im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in das Recht des Beschwerdeführers auf Schutz des Familien- und Privatlebens eingegriffen werden würde. Ein berücksichtigungswürdiges Privat- und Familienleben habe er nicht vorgebracht und habe er beinahe sein gesamtes Leben im Irak verbracht.

Mit Verfahrensanordnung vom 13.02.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtberater amtswegig zu Seite gestellt.

4.       Gegen den ordnungsgemäß zugestellten Bescheid wurde mit Schreiben der Vertretung des Beschwerdeführers vom 31.03.2017, fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben.

In der Beschwerde wurde eingangs das bisherige Vorbringend es Beschwerdeführers wiederholt und anschließend die Verletzung von Verfahrensvorschriften (mangelhaftes Ermittlungsverfahren, mangelhafte Beweiswürdigung) moniert. So wurde ausgeführt, dass das Ermittlungsverfahren insofern fehlerhaft sei, als weitere Ermittlungen angestellt hätten werden müssen. Die inhaltliche Einvernahme des Beschwerdeführers habe weiters unter Mängeln gelitten, da es zu Verständigungsproblemen mit dem Dolmetscher gekommen sei. Er habe mehrfach auf Deutsch sprechen müssen, um sich beim verfahrensführenden Referenten bemerkbar zu machen, da der Dolmetscher etliches nicht übersetzt habe. Bei der Person des Beschwerdeführers würde es sich um einen jungen Akademiker handeln. Es wäre daher zu ermitteln gewesen, wie sich das Verhältnis des IS zu Akademikern, welche sich ihnen nicht anschließen wollen, darstelle. Der Beschwerdeführer habe auch vorgebracht, aus Angst vor einer Zwangsrekrutierung durch den IS sein Land verlassen zu haben. Es sei die Aufgabe der Behörde gewesen, diesbezüglich zu ermitteln und eine mögliche Asylrelevanz des Vorbringens zu prüfen. Hinsichtlich einer Innerstaatlichen Fluchtalternative habe es das BFA unterlassen, tiefgreifende Ermittlungen hinsichtlich der Zumutbarkeit anzustellen. In der Beweiswürdigung des bekämpften Bescheids werde angeführt, dass der Beschwerdeführer ausschließlich aus Angst um sein Leben und das seiner Familie geflüchtet sei. Es sei zwar wahr, dass er aus Angst um sein Leben und jenes seiner Familie geflohen sei, er sei jedoch auch aufgrund einer begründeten Furcht vor einer Zwangsrekrutierung durch den IS geflohen. Auf dieses Vorbringen sei die Behörde überhaupt nicht eingegangen. Weiters stimme es zwar, dass ein Teil von XXXX aktuell zurückerobert worden sei, von einer sicheren Lage könne aufgrund der andauernden Kämpfe jedoch nicht gesprochen werden. Der IS werde sich nicht so einfach geschlagen geben und die Region weiterhin terrorisieren. Die Tatsache, dass einige wenige Menschen aus den Flüchtlingslagern nach XXXX zurückgekehrt seien, begründe sich mit der schlechten Situation in den Flüchtlingslagern. Gemessen an der Zahl der Menschen, welche aus XXXX geflüchtet seien, sei die Zahl der Rückkehrer schwindend gering. Darüber hinaus sei die Stadt weitgehend zerstört und könne das Wohnbedürfnis der vielen potentiellen Rückkehrer nicht befriedigt werden. Das BFA habe versucht eine IFA aufzuzeigen, habe dabei jedoch bloß relativ sichere Orte in überwiegend von Sunniten besiedelten Landesteilen angeführt. Die Zumutbarkeit sei jedoch nicht geprüft worden. Generell sei die allgemeine Sicherheitslage im Irak derart schlecht, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative jedenfalls nicht gegeben sei. Im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach XXXX würde ihm die Regierung mit großem Misstrauen begegnen, da Sunniten aus XXXX immer eine mögliche Nähe zum IS nachgesagt werde. Eventuell werde er von der Regierung oder den Milizen zwangsrekrutiert um in XXXX gegen den IS zu kämpfen. Er sei jedoch Student sowie Pazifist und würde sich weigern zu kämpfen, weswegen ihm auch aus diesem Grund mögliche Repressalien drohen würden.

Des Weiteren wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer schon gut Deutsch sprechen würde und sich an der Universität inskribiert habe. Demnächst werde er die Deutschprüfung auf dem Niveau B1 ablegen. Aus diesen Gründen sei eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären.

5.       Mit Schreiben vom 24.03.2017, 13.02.2018, 22.05.2018, 05.07.2018, 18.07.2018 und 30.08.2018 erfolgte eine Vorlage von integrationsbegründenden Unterlagen.

6.       Am 14.11.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des Beschwerdeführers und seines Vertreters statt. Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurde dem Beschwerdeführer neuerlich Gelegenheit gegeben, die der Antragstellung zugrundeliegenden Umstände umfassend darzulegen.

Die Verhandlung wurde zur Übersetzung der in Vorlage gebrachten Korrespondenz sowie zur Einholung eines medizinischen Gutachtens aus dem Fachgebiet der Neurologie und Psychiatrie auf unbestimmte Zeit vertagt.

7.       Mit Schreiben vom 05.12.2018 und 20.12.2018 übermittelte der Beschwerdeführer eine Einstellungszusage sowie das Zeugnis der bestandenen Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau B1.

8.       Am 25.01.2019 langte beim Bundesverwaltungsgericht das in Auftrag gegebene neurologisch-psychiatrische Gutachten ein, welches dem Vertreter des Beschwerdeführers und dem BFA zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme in weiterer Folge zur Kenntnis gebracht wurde. Mit Schreiben des BFA vom 05.02.2019 machte die Behörde von dieser Möglichkeit Gebrauch.

9.       Mit Schreiben vom 20.02.2019, 25.02.2019, 10.05.2019, 14.08.2019, 11.05.2020, 06.07.2020, 07.08.2020 und 15.09.2020 übermittelte der Beschwerdeführer bzw. dessen Vertreter neuerlich integrationsbegründende Unterlagen.

10.      Am XXXX 2020 um ca. 12:30 Uhr passte der Beschwerdeführer die damals zuständige Richterin der Gerichtsabteilung L519 des Bundesverwaltungsgerichts im Bereich der Stiege vor dem Eingang der Außenstelle Linz ab, nachdem er bereits zuvor am Vormittag die Richterin im Eingang der Außenstelle des Bundesverwaltungsgerichts auf seine Beschwerdeverhandlung angesprochen hatte. Er verstellte der Richterin den Weg und forderte erneut mehrfach eine Entscheidung in seinem Verfahren, wobei er auch aufgebracht mit den Händen gestikulierte. Die Richterin teilte ihm mit, eine schriftliche Eingabe zu machen, was den Beschwerdeführer jedoch nicht davon abhielt, weiterhin den Weg zu verstellen und weiter zu reden. Erst nach mehrfacher Androhung mit dem Einschalten der Polizei war es der Richterin möglich, zu ihrem Auto zu gelangen und einzusteigen. Der Beschwerdeführer drängte sich anschließend zwischen Fahrzeug und noch offener Fahrertüre und hielt die Türe des Fahrzeugs mit der linken Hand fest, womit er die Richterin am Schließen der Türe bzw. am Wegfahren hinderte. Nach weiterem mehrmaligen Androhens des Einschaltens der Polizei gelang es der Richterin schließlich auszusteigen und den Sicherheitsdienst des Bundesverwaltungsgerichts zu Hilfe zu holen. Auch als dieser dem Beschwerdeführer mehrmals erklärte, er solle das Gelände verlassen, zeigte sich der Beschwerdeführer weiterhin sehr aufgebracht und emotional und leistete der Aufforderung keine Folge. Letztlich wurde dann die Unterstützung der Polizei angefordert. Nach der Datenaufnahme musste der Beschwerdeführer auch von der Polizei mehrmals aufgefordert werden, den Eingangsbereich zu verlassen, ehe er endlich ging.

Aufgrund des Vorfalles sah sich die damals zuständige Richterin dazu veranlasst, eine Anzeige wider den Beschwerdeführer wegen Verdachts der Nötigung und der gefährlichen Drohung einzubringen. Dies hatte weiters zur Folge, dass die ehemals zuständige Richterin eine Befangenheitsanzeige an das Präsidium erstattete, welcher auch beigetreten wurde. Mit Schreiben vom 05.02.2021 wurde der Beschwerdeführer davon in Kenntnis gesetzt, dass die Staatsanwaltschaft das gegen ihn eröffnete Ermittlungsverfahren gemäß § 190 Z 1 StPO eingestellt hat.

11.      Mit Schriftsatz vom 15.02.2021 des nunmehrigen Vertreters des Beschwerdeführers wurden weitere integrationsbegründende Unterlagen zur Vorbereitung der mündlichen Beschwerdeverhandlung in Vorlage gebracht.

12.      Am 25.02.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht neuerlich eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des Beschwerdeführers und seines Vertreters sowie zweier Polizeibeamter statt. Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurde dem Beschwerdeführer die Möglichkeit eingeräumt, seine Ausreisegründe nochmals detailliert darzulegen und zu den vorab übermittelten Länderfeststellungen eine Stellungnahme abzugeben. Der Beschwerdeführer wurde dabei im Laufe des Verfahrens immer aggressiver und begann gegen Ende der Verhandlung plötzlich mit der Dolmetscherin zu diskutieren.

13.      Mit Schriftsatz vom 09.03.2021 wurde ein Arbeitsvertrag unter aufschiebender Bedingung sowie Dokumente in arabischer Sprache in Vorlage gebracht, bei welchen es sich um Bestätigungen und Todesanzeigen bezüglich der verstorbenen Familienangehörigen handeln solle. Der Aufforderung des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.03.2021 zur Bekanntgabe wann, wie und von wem der Beschwerdeführer diese Unterlagen erhalten habe, wurde mit Schriftsatz vom 19.03.2021 nachgekommen.

Nach Ersuchen um ehest mögliche Übersetzung der Dokumente aus dem Arabischen ins Deutsche langte am 30.03.2021 die Übersetzung der fremdsprachigen Dokumente beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Mit Schriftsatz vom 02.08.20201 gab der nunmehrige rechtsfreundliche Vertreter seine Vollmachtsübernahme bekannt. Gleichzeitig wurden integrationsbegründende Unterlagen sowie eine Stellungnahme in Vorlage gebracht. In der Stellungnahme wurde zusammengefasst ausgeführt, dass der Beschwerdeführer als sunnitischer Araber aus XXXX laut Schreiben des UNHCR im Falle seiner Rückkehr einer Kooperation mit dem IS beschuldigt werden und somit einer willkürlichen Verfolgung ausgesetzt sein würde. Des Weiteren würde es dem Beschwerdeführer mangels familiärer Anknüpfungspunkte im Irak an einem sozialen Netz fehlen. Demgegenüber beherrsche er die Deutsche Sprache auf einem sehr guten Niveau, engagierte sich ehrenamtlich und dokumentierte bereits mehrfach seine Arbeitswilligkeit und ist seit 08.07.20201 nunmehr selbstständig erwerbstätig. Sein unglückliches Verhalten, die vormals zuständige Richterin angesprochen zu haben, zumal sein Verfahren mehrere Jahre dauerte, solle in einer Gesamtabwägung nicht zu Lasten des Beschwerdeführers berücksichtigt werden.


II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Sachverhalt:

1.1.    Feststellungen zur Person:

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer heißt Ahmed KHUDHUR und wurde am XXXX in XXXX im Irak geboren.

Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger des Irak, gehört dem sunnitischen Glauben und der Volksgruppe der Araber an. Er ist im XXXX 2015 illegal in Österreich eingereist und stellte am XXXX 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Er stammt aus dem östlich gelegenen Bezirk XXXX , in der Stadt XXXX , wo er mit seinen Eltern in einem familieneigenen Haus lebte. Der Beschwerdeführer besuchte im Irak zwölf Jahre lang die Schule und absolvierte eine Universitätsausbildung, welche in Österreich mit einem Bachelorstudium der Betriebswissenschaften mit Schwerpunkt Rechnungswesen gleichzusetzen ist. Seine Muttersprache ist Arabisch, außerdem spricht er sehr gut Englisch. Der Beschwerdeführer ging im Irak bereits verschiedensten Tätigkeiten nach, bspw. arbeitete er in der Buchhaltung, in einer Tankstelle sowie in drei Restaurants. Zuletzt arbeitete er zusammen mit einem Freund als Verkäufer in einem Geschäft für Handys und Computer.

Die Familienangehörigen des Beschwerdeführers im Irak, seine Eltern, seine drei Brüder und seine vier Schwestern, sind im XXXX 2014 bei einem Angriff der Terrororganisation „Islamischer Staat“ getötet worden. In XXXX leben noch 10 Onkel und Tanten des Beschwerdeführers, zu welchen der Beschwerdeführer keinen Kontakt hat.

Der Beschwerdeführer ging in Österreich keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nach. Er lebt seit seiner Antragstellung auf internationalen Schutz von der österreichischen Grundversorgung. Am 07.05.2020 meldete der Beschwerdeführer das Gewerbe „Zusammenbau und Montage beweglicher Sachen, mit Ausnahme von Möbeln und statisch belangreichen Konstruktionen, aus fertig bezogenen Teilen mit Hilfe einfacher Schraub-, Klemm-, Kleb- und Steckverbindungen“ an, übte das Gewerbe jedoch nicht aus. Mit 05.10.2020 wurde das Gewerbe gelöscht. Am 08.07.2021 meldete der Beschwerdeführer nunmehr das Gewerbe „Hausbetreuung bestehend in der Durchführung einfacher Reinigungstätigkeiten einschließlich objektbezogener einfacher Wartungstätigkeiten“ an. In diesem Zusammenhang verfügt der Beschwerdeführer auch noch über einen Nachunternehmervertrag mit der XXXX sowie über eine Vereinbarung mit der Firma XXXX . Des Weiteren verfügt der Beschwerdeführer über eine aktuelle Einstellungszusage der Firma „ XXXX “ in XXXX . Er hat sich für einen Ausbildungsplatz als Fach-Sozialarbeiter in Altenarbeit an der Altenpflegeschule des Landes XXXX beworben, aufgrund der Vielzahl an Bewerbern und den begrenzten Ausbildungsplätzen wurde seine Bewerbung jedoch abgelehnt. Im September und XXXX 2020 hat sich der Beschwerdeführer bei vier österreichischen Firmen beworben.

Der Beschwerdeführer verfügt im österreichischen Bundesgebiet über keine familiären Anknüpfungspunkte. Er verfügt im Bundesgebiet über einen Freundes- bzw. Bekanntenkreis, dem auch österreichische Staatsbürger angehören, von diesen hat er sich jedoch zurückgezogen. Nennenswerte soziale Bindungen in Österreich hat der Beschwerdeführer somit nicht vorgebracht. Der Beschwerdeführer hat in den Monaten April 2018 (22 Stunden), XXXX 2018 (22 Stunden), XXXX 2018 (22 Stunden), Juli 2018 (22 Stunden), August 2018 (22 Stunden), September 2018 (22 Stunden) und XXXX 2018 (13,5 Stunden) für die Stadtgemeinde XXXX gemeinnützige Hilfstätigkeiten verrichtet. Darüber hinaus war er im Verein XXXX als ehrenamtlicher Lernbegleiter für Kinder tätig und hat sich auch beim Roten Kreuz ehrenamtlich engagiert. Aktuell ist er kein Mitglied in einem Verein und nicht ehrenamtlich tätig.

Der Beschwerdeführer hat an mehreren Deutschkursen teilgenommen und verfügt über ein ÖSD Zertifikat A2 sowie ein Zeugnis zur bestandenen Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau B1. Darüber hinaus hat er an der XXXX mehrere Kurse „Deutsch als Fremdsprache“ positiv absolviert. Er spricht die deutsche Sprache auf gutem Niveau.

Der Beschwerdeführer leidet an einer Anpassungsstörung mit einer leichtgradigen depressiven Reaktion, diese stellt jedoch keine schwere oder lebensbedrohliche Erkrankung dar. Für den Fall einer medikamentösen Therapie kommen alle gängigen Antidepressiva unter Beachtung der Nebenwirkungen in Frage. Der Leidensdruck des Beschwerdeführers ist als gering einzuschätzen. Bisher erfolgte lediglich ein einmaliger Kontakt bei einem Facharzt, weiterführende Kontakte wurden vom Beschwerdeführer bisher abgelehnt. Der Beschwerdeführer steht in keiner ärztlichen Behandlung und nimmt auch keine Medikamente. Er ist arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Am XXXX 2020 um ca. 12:30 Uhr passte der Beschwerdeführer die damals zuständige Richterin der Gerichtsabteilung L519 des Bundesverwaltungsgerichts im Bereich der Stiege vor dem Eingang der Außenstelle Linz ab, nachdem er bereits zuvor am Vormittag die Richterin im Eingang der Außenstelle des Bundesverwaltungsgerichts auf seine Beschwerdeverhandlung angesprochen hatte. Er verstellte der Richterin den Weg und forderte erneut mehrfach eine Entscheidung in seinem Verfahren, wobei er auch aufgebracht mit den Händen gestikulierte. Die Richterin forderte ihn auf, eine schriftliche Eingabe zu machen, was den Beschwerdeführer jedoch nicht davon abhielt, weiterhin den Weg zu verstellen und weiter zu reden. Erst nach mehrfacher Androhung mit dem Einschalten der Polizei war es der Richterin möglich zu ihrem Auto zu gelangen und einzusteigen. Der Beschwerdeführer drängte sich anschließend zwischen Fahrzeug und noch offener Fahrertüre und hielt die Türe des Fahrzeugs mit der linken Hand fest, womit er die Richterin am Schließen der Türe bzw. am Wegfahren hinderte. Nach weiterem mehrmaligen Androhens des Einschaltens der Polizei gelang es der Richterin schließlich auszusteigen und den Sicherheitsdienst des Bundesverwaltungsgerichts zu Hilfe zu holen. Auch als dieser dem Beschwerdeführer mehrmals erklärte, er solle das Gelände verlassen, zeigte sich der Beschwerdeführer weiterhin sehr aufgebracht und emotional und leistete der Aufforderung keine Folge. Letztlich wurde dann die Unterstützung der Polizei angefordert. Nach der Datenaufnahme musste der Beschwerdeführer auch von der Polizei mehrmals aufgefordert werden, den Eingangsbereich zu verlassen, ehe er endlich ging. Aufgrund des Vorfalles sah sich die damals zuständige Richterin dazu veranlasst, eine Anzeige wider den Beschwerdeführer wegen Verdachts der Nötigung und der gefährlichen Drohung einzubringen. Das gegen ihn eröffnete Ermittlungsverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft gemäß § 190 Z 1 StPO eingestellt.

1.2.    Feststellungen zu den Gründen für das Verlassen des Heimatstaates und zur Lage des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Irak einer aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Das Vorbringen im Irak einer Verfolgung durch staatliche Behörden, Milizen oder der Terrororganisation „Islamischer Staat“ ausgesetzt zu sein, war nicht glaubhaft.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder terroristische Anschläge im Irak.

Weiters kann nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung der EMRK bedeuten würde oder für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit mit sich bringen würde.

Es kann insbesondere nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in den Irak in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden.

Der Beschwerdeführer besitzt einen irakischen Personalausweis. Die Stadt XXXX ist über den Flughafen XXXX und anschließend die XXXX bzw. über die Ausweichroute Richtung XXXX oder über den Flughafen Bagdad und anschließend die XXXX erreichbar.

1.3.    Zur aktuellen Lage im Irak:

Zur Lage im Irak wird auf das vom Bundesverwaltungsgericht mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 25.02.2021 in das Verfahren eingebrachte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020), den Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, den Bericht COVID-19 Mobility Restrictions and Public Health Measures vom November 2020 und den Bericht von EASO zum Irak (Security Situation – Country of Origin Information Report) vom XXXX 2020 verwiesen, in denen eine Vielzahl von Berichten diverser allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt werden. Insoweit die Berichtslage konkret im gegenständlichen Verfahren relevant ist, wird diese im Anschluss auszugsweise wiedergegeben.

Ergänzend wird auf die relevanten Abschnitte aus den "UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen" von Mai 2019 und das Kartenmaterial iMMAP, Humanitarian Access Response: Explosive Hazards Risk Level on Roads in Ninewa Governorate 1-28 February 2021 und iMMAP, Humanitarian Access Response: Explosive Hazards Risk Level on Roads in Erbil Governorate 1-28 February 2021 verwiesen. Diese Berichte wurden dem Beschwerdeführer bzw seinem Vertreter mit Schreiben vom 20.07.2021 ergänzend übermittelt und wurde die Gelegenheit gegeben, dazu eine Stellungnahme zu erstatten. Mit Schriftsatz vom 02.08.2021 trat der Beschwerdeführer diesen Berichten nicht entgegen, sondern erstattete ein allgemeines Vorbringen (insbesondere) zur Sicherheitslage im Irak.

Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Islamischer Staat (IS)

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

Im Winter 2020 vermeldete das amerikanische Verteidigungsministerium (USDOD), der ISIL sammle sich weiter und es sei zu erwarten, dass er im Norden und Westen des Irak versuchen würde, seine territoriale Herrschaft wiederherzustellen. Das USDOD hielt den ISIL nach wie vor nicht für fähig, dort die Kontrolle über die lokale Bevölkerung zu gewinnen.

Der ISIL ist in keinem großen Maßstab zu seiner früheren Vorgehensweise zurückgekehrt, nämlich in Städten Anschläge auf Menschenmengen zu verüben. Er hat auch keine territoriale Kontrolle zurückerobert; vielmehr ist der ISIL nach Auffassung von Knights und Almeida in allen früher gehaltenen Gebieten dazu übergegangen, wieder seine frühere Taktik des Aufstands anzuwenden. Zu einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten ihr Engagement in Irak zurückfahren, hat das Land mit Schlägen und Gegenschlägen seitens vom Iran unterstützter irakischer Milizen zu tun. Diese Entwicklungen haben die Unterstützung der Koalition für die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) beeinträchtigt, wodurch die ISF nun über weniger Kapazitäten zur Eindämmung des ISIL verfügen. Unter Ausnutzung dieser Situation kommt der ISIL beschleunigt wieder zu Kräften.20 Was die Kapazität der ISF weiter belastet, ist die Tatsache, dass diese Kräfte in gewissem Umfang in größeren Städten im Einsatz sind, um Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Corona-Virus durchzusetzen und sich vorwiegend um die Kontrolle öffentlicher Proteste zu kümmern.

(Quelle: EASO Iraq, Security situation, Country of Origin Information Report, October 2020)

Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Straßensicherheit

Nach Angaben von Analysten hatte der ISIL weiterhin Autobahnen im Visier, auf denen Zivilpersonen fuhren und Öl, Gas und Waren in die westlichen, östlichen und nördlichen Provinzen transportiert wurden. Auf diese Weise wollte der ISIL vermeiden, dass andere, wie die ISF, in diese Gebiete vordringen und dort Einblicke erhalten. Zivilpersonen aus Daquq im Osten der Provinz Kirkuk berichteten 2019 dem Center for Civilians in Conflict (CIVIC), einer NRO, ISIL-Kämpfer würden sich nachts in ihre Dörfer schleichen, um sie zu erpressen. Bewaffnete Männer würden die Straßen in die Dörfer blockieren und die Einwohner bedrohen, falls sie ihren Wünschen nicht nachkämen.

ICG berichtete 2020 von PMU-Einheiten, die falsche Kontrollposten betreiben und von LKW-Fahrern, die diese passieren, illegale Gebühren erheben.

Wenn ein Kontrollposten für die Nacht schließt, kann es nach Hafsa Halawa vorkommen, dass lokale Bewohner innerhalb oder außerhalb der benachbarten Stadt festsitzen.

Medien berichteten von Demonstranten, die Ende 2019 und Anfang 2020 Straßen und Fernstraßen in Bagdad und verschiedenen Orten in Südirak wie Najaf, Thi Qar, Diwaniyah, Nasiriyah, al-Wasit und Basra blockiert hatten. Zum ersten Mal seit mehreren Jahren wurde ein LKW-Konvoi, der militärische Versorgungsgüter transportierte, im Süden von Irak auf der Autobahn von Diwaniyah nach Qadissiyah von bewaffneten Männern angegriffen.

Ninewa:

Mossul ist ein wichtiger regionaler Verkehrsknotenpunkt: Es verfügt über direkte Straßenverbindungen nach Bagdad, Kirkuk, Erbil und Dahuk, über Tal Afar und die Grenzstadt Rabia im Norden nach Syrien und in die Türkei sowie über Sindschar im Westen nach Syrien.

Nach Angaben der Deutschen Welle bemannten die schiitischen Milizen in Ninawa im August 2019 noch immer Kontrollpunkte in Städten; die gleiche Quelle sprach von Problemen an vielen Orten. Im Sommer 2019 blockierte die 30. PMU-Brigade eine Fernstraße östlich von Mossul und kam es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit der irakischen Armee, die versuchte, die Kontrollpunkte zu übernehmen.

Nach Angaben von iMMAP sind bezüglich des Gefahrenausmaßes durch explosionsgefährliche Stoffe auf den Straßen in der Provinz Ninawa von Februar bis Ende Juni 2020 verschiedene Abschnitte der Hauptstraßen von Mossul nach Sindschar, Tal Afar (und zur syrischen Grenze), nach Dahuk, nach Erbil, in den Bezirk Makhmur und in die Provinz Sahlah al-Din als Straßen mit hohem Risiko in der Provinz zu bezeichnen. Die Straße von Mossul nach Sindschar sticht hier hervor, weil dort in diesem Zeitraum mehr als auf anderen Hauptstraßen immer wieder Hochrisiko-Abschnitte zu verzeichnen waren.

Erbil:

Für das Jahr 2019 dokumentierte iMMAP-IHF das Ausmaß der Gefahr durch explosionsgefährliche Stoffe auf Straßen der Provinz Erbil und befand, dass bestimmte Abschnitte der Hauptstraße von der Provinz Ninawa über die Provinz Erbil in die Provinz Sulaimaniayya als „Straße mit hohem Risiko“ eingestuft waren, während Straßen rund um Machmur als „Straßen mit geringerem Risiko“ galten.

Im Juli 2019 sperrte die 30. PMU-Brigade (Liwa al-Shabak) zwei Tage lang die Verbindungsstraße zwischen Mossul und Erbil.

Nach dem Anschlag vom Juli 2019 in Erbil auf einen türkischen Diplomaten und zwei irakische Zivilisten wurden in dem Gebiet Kontrollpunkte errichtet und Straßen geschlossen, darunter auch die Straße zwischen Erbil und Sulaimaniyya, Erbil und Kirkuk sowie Erbil und Machmur.

Im Rahmen der COVID-19-Maßnahmen schränkte die KRI am 22. Februar 2020 die interne und grenzüberschreitende Bewegungsfreiheit ein, verhängte eine Ausgangssperre für den Zeitraum 13. März bis 23. April 2020 und schloss alle Flughäfen. Am 25. Juli 2020 wurden die Reisebeschränkungen für die Provinz Erbil aufgehoben; Menschen aus dem Norden und Süden Iraks durften wieder „aus wichtigen geschäftlichen Gründen“ oder falls sie dort ihren Wohnsitz haben, in die Provinz Erbil reisen, während die KRI allgemein auch Beschränkungen der internen Reisefreiheit aufhoben

(Quelle: EASO Iraq, Security situation, Country of Origin Information Report, October 2020)

Bagdad:

Der Overseas Security Advisory Council (OSAC) stellte fest, dass es überall in Bagdad-Stadt „improvisierte Kontrollpunkte“ neben den „zahlreichen Sicherheitskontrollpunkten der Regierung“ gibt. Der OSAC stellte ferner fest, dass Maßnahmen zur Beschränkung des Zugangs zur Internationalen Zone im Dezember 2018 gelockert wurden. Im Oktober 2019 wurde jedoch im Zusammenhang mit den über die Stadt hereinbrechenden Protesten der Zugang zur Internationalen Zone stärker eingeschränkt. In Berichten heißt es, dass „sich je nach besserer oder schlechterer Sicherheitslage der Zugang zur Internationalen Zone rasch ändern kann, … was sich unmittelbar auf diplomatische Vertretungen, den privaten Sektor und Wohngebäude auswirkt“. Der Iraq Humanitarian Fund und iMMAP veröffentlichten eine Karte zum Ausmaß des Risikos durch explosionsgefährliche Stoffe auf Straßen in der Provinz Bagdad zwischen dem 1. und dem 30. April 2020. Dieser Karte zufolge waren die Straßen mit hohem Risiko in Tarmiyah, Abu Ghuraib und Mahmoudiya zu finden. Straßen mit geringerem Risiko waren in den genannten Gebieten angegeben, aber auch in Mada’in und in vereinzelten Stadtteilen von Bagdad-Stadt.

Salah al-Din

Tuz ist ein „nördlicher Verkehrsknotenpunkt“ an der Fernstraße Bagdad-Kirkuk. 2019 und 2020 wurden weiterhin Anschläge durch aufständische Gruppen einschließlich ISIL auf Straßen in der Provinz Salah al-Din gemeldet. Kontrollpunkte in der Provinz waren in diesem Zeitraum Berichten zufolge ebenfalls Anschlagsziele in der Provinz. Nach Ansicht von iMMAP gab es zwischen Januar und Dezember 2019 in Salah al-Din lange Abschnitte von Straßen mit hohem bzw. geringerem Risiko. Laut Angaben von iMMAP vom Juni 2020 wurden Risiken durch explosionsgefährliche Stoffe auf Straßen in der Provinz Salah al-Din für die Fernstraße zwischen den Städten Bagdad und Baidschi sowie für die Straße zwischen den Städten Tikrit und Tuz Khurmatu gemeldet.


Sicherheitslage Bagdad

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada’in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel

umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. Und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Im zweiten Quartal 2020 wurden in Bagdad 71 Vorfälle mit 19 Toten erfasst und an folgenden Orten lokalisiert: Al Wahdah, Al Yusufiyah, Ar Rashidiyah, At Tarmiyah, Az Zaydan, Baghdad, Baghdad - Adhamiya, Baghdad - Al Rashid, Baghdad - Kadhimiya, Baghdad - Karadah, Baghdad - Karkh, Baghdad - Mansour, Baghdad - Rusafa, Baghdad - Sadr City, Baghdad International Airport, Madain, Nahrawan, Taji, Zawbaa (ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation: Irak, 2. Quartal 2020: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) 28.10.2020).

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

Sicherheitslage in der Kurdischen Region im Irak (KRI)

In Erbil bzw. Sulaymaniyah und unmittelbarer Umgebung erscheint die Sicherheitssituation vergleichsweise besser als in anderen Teilen des Irak. Allerdings kommt es immer wieder zu militärischen Zusammenstößen, in die auch kurdische Streitkräfte (Peshmerga) verwickelt sind, weshalb sich die Lage jederzeit ändern kann. Insbesondere Einrichtungen der kurdischen Regionalregierung und politischer Parteien sowie militärische und polizeiliche Einrichtungen können immer wieder Ziele terroristischer Attacken sein (BMEIA 19.2.2020).

Im Juli 2019 führte der IS seine seit langem erste Attacke auf kurdischem Boden durch. Im Gouvernement Sulaymaniyah attackierte er einen Checkpoint an der Grenze zu Diyala, der von Asayish [Anm.: Inlandsgeheimdienst der Kurdischen Region im Irak (KRI)] bemannt war. Bei diesem Angriff wurden fünf Tote und elf Verletzte registriert (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurde in Sulaymaniyah ein Vorfall mit einer IED verzeichnet, wobei es keine Opfer gab (Joel Wing 9.9.2019). Im November 2019 wurde ein weiterer Angriff im Gouvernement Sulaymaniyah verzeichnet. Der Vorfall ereignete sich im südlichen Sulaymaniyah, an der Grenze zu Diyala. Asayesh-Einheiten, die einen Mörserbeschuss untersuchten, wurden von Heckenschützen beschossen. Drei Personen, darunter ein Kommandant, starben, acht Personen, fünf Asayesh und drei Zivilisten wurden verletzt (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Ekurd 30.11.2019).

Im Gouvernement Erbil wurde im Jänner 2020 ein sicherheitsrelevanter Vorfall ohne Opfer verzeichnet. Als Vergeltung für die Tötung des iranischen Generalmajors Qassem Soleimani und des stellvertretenden Leiters der Volksmobilisierungskräfte (PMF)-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis durch die USA feuerte der Iran Raketen auf die US-Militärbasis nahe dem Internationalen Flughafen Erbil ab (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Al Monitor 8.1.2020). Im Februar 2020 wurden drei Vorfälle mit sieben Verletzten im südlichen Distrikt Makhmour verzeichnet. Dabei handelte es sich um einen Raketenangriff pro-iranischer PMF auf einen US-Militärstützpunkt (Joel Wing 5.3.2020), um die Detonation zweier IEDs in einem Dorf mit sechs Verletzten (Joel Wing 5.3.2020; vgl. BasNews 26.2.2020) und um einen Angriff des IS auf ein IDP Lager, mit einem verletzten Zivilisten (Joel Wing 5.3.2020; vgl. BasNews 2.2.2020).

Seit dem Abbruch des Friedensprozesses zwischen der Türkei und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Jahr 2015 kommt es regelmäßig zu türkischen Militäroperationen und Bombardements gegen Stellungen von PKK-Kämpfern in Qandil und in den irakischen Grenzgebieten (Kurdistan24 8.11.2019). Im Kreuzfeuer solcher Angriffe werden immer wieder kurdische Dörfer evakuiert, da manchmal auch Zivilisten und deren Eigentum von den Kämpfen bedroht und bei türkischen Luftangriffen getroffen wurden (ACLED 4.9.2019; vgl. Kurdistan24 8.11.2019).

Am 27.5.2019 initiierte die türkische Armee die „Operation Claw“ gegen Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Nordirak. Die erste Phase richtete sich gegen Stellungen in der Hakurk/Khakurk-Region im Gouvernement Erbil (Anadolu Agency 13.7.2019; vgl. Rudaw 13.7.2019). Die zweite Phase begann am 12.7.2019 und zielt auf die Zerstörung von Höhlen und anderen Zufluchtsorten der PKK (Anadolu Agency 13.7.2019). Die türkischen Luftangriffe konzentrierten sich auf die Region Amadiya im Gouvernement Dohuk, von wo aus die PKK häufig operiert (ACLED 17.7.2019). Ende August 2019 begann die dritte Phase, die sich wiederum gegen die PKK im Gouvernement Dohuk richtete. Betroffen waren vor allem grenznahe Orte, Regionen und Subdistrikte wie Zab, Sinat-Haftanin, Batifa und Avashin (Kurdistan24 8.11.2019).

Sicherheitslage Nord- und Zentralirak

Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten (Joel Wing 3.2.2020), so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen (Joel Wing 2.12.2019).

In den sogenannten „umstrittenen Gebieten“, die sowohl von der Zentralregierung als auch von der kurdischen Regionalregierung (KRG) beansprucht werden, und wo es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Die Sicherheitsaufgaben in den „umstrittenen Gebieten“ werden zwischen der Bundespolizei und den Volksmobilisierungskräften (al-Hashd ash-Sha‘bi/PMF) geteilt (Rudaw 31.5.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Bei den zwischen Bagdad und Erbil „umstrittenen Gebieten“ handelt es sich um einen breiten territorialen Gürtel der zwischen dem „arabischen“ und „kurdischen“ Irak liegt und sich von der iranischen Grenze im mittleren Osten bis zur syrischen Grenze im Nordwesten erstreckt (Crisis Group 14.12.2018). Die „umstrittenen Gebiete“ umfassen Gebiete in den Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala. Dies sind die Distrikte Sinjar (Shingal), Tal Afar, Tilkaef, Sheikhan, Hamdaniya und Makhmour, sowie die Subdistrikte Qahtaniya and Bashiqa in Ninewa, der Distrikt Tuz Khurmatu in Salah ad-Din, das gesamte Gouvernement Kirkuk und die Distrikte Khanaqin und Kifri, sowie der Subdistrikt Mandali in Diyala (USIP 2011). Die Bevölkerung der „umstrittenen Gebiete“ ist sehr heterogen und umfasst auch eine Vielzahl unterschiedlicher ethnischer und religiöser Minderheiten, wie Turkmenen, Jesiden, Schabak, Chaldäer, Assyrer und andere. Kurdische Peshmerga eroberten Teile dieser umstrittenen Gebiete vom IS zurück und verteidigten sie, bzw. stießen in das durch den Zerfall der irakischen Armee entstandene Vakuum vor. Als Reaktion auf das kurdische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017, das auch die „umstrittenen Gebiete“ umfasste, haben die irakischen Streitkräfte diese wieder der kurdischen Kontrolle entzogen (Crisis Group 14.12.2018).

Gouvernement Ninewa

Der Islamische Staat (IS) hat seine Präsenz in Ninewa durch Kräfte aus Syrien verstärkt und führte seine Operationen hauptsächlich im Süden und Westen des Gouvernements aus (Joel Wing 3.5.2019). Er verfügt aber auch in Mossul über Zellen (Joel Wing 5.6.2019). Es wird außerdem vermutet, dass der IS vorhat in den Badush Bergen, westlich von Mossul, Stützpunkte einzurichten (ISW 19.4.2019).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Ninewa 40 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 33 Toten und 25 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es zwölf Vorfälle mit 35 Toten und 15 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Ninewa ereigneten sich im Süden des Gouvernements (Joel Wing 3.2.2020).

Im Juni 2014 wurde Mossul vom ISIL eingenommen und besetzt. Im Zuge der Angriffe des ISIL auf Sindschar, Zumar und die Ninawa-Ebene im August 2014 wurde innerhalb weniger Wochen fast eine Million Menschen vertrieben. Der Fall von Mossul im Juni 2014 und der Rückzug der kurdischen Streitkräfte aus weiten Teilen der Provinz im August 2014 führten dazu, dass der ISIL zahlreiche Minderheiten des Irak ins Visier nahm: Turkmenen, Christen, Jesiden, Schabak, Kaka‘i und andere Bevölkerungsgruppen wurden Opfer von Folter, öffentlichen Hinrichtungen, Kreuzigungen, Entführungen und sexueller Versklavung.

Der Kampf um Mossul dauerte mehr als

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten