TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/15 W272 2234927-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.10.2021
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Entscheidungsdatum

15.10.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W272 2234927-3/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Alois BRAUNSTEIN, MBA, als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Russische Föderation, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle West vom 03.08.2021, Zahl XXXX zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Erstes Asylverfahren:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste im Juli 2002 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 21.07.2002 einen ersten Asylantrag. Als Fluchtgrund gab er im Wesentlichen an, dass in seinem Heimat Krieg herrsche und er daher dort nicht leben könne. Er habe tschetschenischen Freiheitskämpfer Unterschlupf gewährt. Seine Adresse sei XXXX , Bezirk Gudermes gewesen. Ein Verwandter, welcher bei der Polizei gewesen sei, habe ihm mitgeteilt, dass er verfolgt werden würde. Mit ihm stellte sein Sohn XXXX , geboren am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz. Mitvorgelegt wurde sein Reisepass, Geburtsurkunde und Führerschein sowie Militärausweis und die Sterbeurkunde seiner Frau. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 03.09.2003 abgewiesen und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 8 AsylG als zulässig festgestellt. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung, welche er am 14.05.2007 zurückzog. Begründet damit, dass sein Familienverfahren erst dann geführt werden könne, wenn er die Beschwerde zurückziehe. Er gab weiters an, dass er mit seiner Lebensgefährtin, seinem älteren Sohn und seinen beiden in Österreich geborenen Kindern lebe. Seine Frau und seine beiden Kinder haben bereits positive Bescheide. Er beantrage den selben Schutz wie seine Lebensgefährtin und seine beiden in Österreich geborenen Kindern.

Zweites Asylverfahren – Asylzuerkennung:

2. Am 15.02.2007 stellte der Beschwerdeführer einen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz. Begründend dafür gab er im Wesentlichen an, dass seiner Lebensgefährtin, mit welcher er seit fünf Jahren ein Familienleben führe, und seinen beiden in Österreich geborenen Kindern Asyl gewährt worden sei. Mit Bescheid vom 26.07.2007 wurde dem Beschwerdeführer abgeleitet von seinen Kindern der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Asylaberkennungsverfahren:

3. Bereits am 14.01.2013 wurde gegen den Beschwerdeführer ein Asylaberkennungsverfahren wegen Reisen in den Herkunftsstaat eingeleitet. Dieses wurde am 27.05.2013 jedoch eingestellt.

4. Im Zuge einer Grenzkontrolle in XXXX am 28.08.2017 wurde der Konventionsreisepass des Beschwerdeführers überprüft und in diesem Ausreisestempel eines russischen Grenzübergangs vom 20.07.2017 festgestellt. Weiters übergab der Beschwerdeführer den Beamten einen Russischen Auslandsreisepass, ausgestellt am 28.07.2016. Er führte zudem aus, mit seiner Lebensgefährtin und den drei gemeinsamen Söhnen in Grosny gewesen zu sein. Gegen den Beschwerdeführer und seine Familie wurde in weiterer Folge erneut ein Asylaberkennungsverfahren eingeleitet.

5. Nach Einvernahme am 14.08.2018 wurde dem Beschwerdeführer mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.10.2018 der Status des Asylberechtigten aberkannt und ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation nicht zuerkannt. Ihm wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen. Die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation wurde für zulässig erklärt und eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise gewährt. Weiters wurde gegen den Beschwerdeführer ein befristetes Einreiseverbot in der Dauer von fünf Jahren erlassen. Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass sich der Beschwerdeführer im Juli 2016 einen russischen Reisepass in der Russischen Föderation ausstellen habe lassen und im Jahr 2017 mehrmals über die Route Ukraine oder Türkei-Georgien in sein Herkunftsland gereist sei. Außerdem habe sich die allgemeine politische und wirtschaftliche Situation in seiner Heimatregion seit seiner Antragstellung auf internationalen Schutz im Jahr 2002 wesentlich verbessert. Die Tatsachen, die zu der Asylgewährung vorgelegen seien, lägen aktuell nicht mehr vor. Der Beschwerdeführer sei ledig, ohne Obsorgepflichten und es bestehe zu seiner geschiedenen Ehefrau und den gemeinsamen drei minderjährigen Söhnen, sowie Kindern von anderen Ehen, die im Bundesgebiet aufhältig seien, keine Abhängigkeiten oder besonders enge Beziehungen. Insgesamt seien auch keine tiefergehenden Integrationsmerkmale in den österreichischen Arbeitsmarkt oder in die österreichische Gesellschaft sowie auch sprachlich erkennbar.

6. Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 05.10.2018 an seiner damals aufrechten Wohnadresse durch Hinterlegung zugestellt. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer kein Rechtsmittel, weswegen dieser am 02.11.2018 in Rechtskraft erwuchs.

7. Mit Schriftsatz vom 19.06.2020 stellte der Beschwerdeführer hinsichtlich des in Rechtskraft erwachsenen Bescheides vom 02.10.2018 einen Antrag auf neuerliche Zustellung sowie einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Zusammenhang mit einer Beschwerde. Begründend wird darin ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer der Bescheid vom 02.10.2018 nie zugegangen sei. Er habe erst anlässlich einer Besprechung mit seinem Rechtsvertreter am 09.06.2020 erfahren, dass ihm sein Asylstatus aberkannt worden sei, da dies im Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.06.2019 erwähnt werde. Tatsächlich sei dem Beschwerdeführer der Aberkennungsbescheid jedoch nie zugestellt worden, auch habe er keine Hinterlegungsanzeige erhalten. Da der Beschwerdeführer auch über die Einleitung des Asylaberkennungsverfahrens nicht in Kenntnis gesetzt worden sei und ihm auch kein Parteiengehör gewährt worden sei, stelle er den Antrag auf neuerliche Zustellung des Bescheides oder zumindest Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

8. Mit Bescheid vom 11.09.2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sowohl den Antrag des Beschwerdeführers auf neuerliche Zustellung des Bescheides vom 02.10.2018 als auch jenen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab, erkannte dem Antrag auf Wiedereinsetzung jedoch die aufschiebende Wirkung zu. Begründend wurde darin im Wesentlichen ausgeführt, dass der Bescheid vom 02.10.2018 ordnungsgemäß durch Hinterlegung an der damals aufrechten Wohnadresse des Beschwerdeführers zugestellt worden sei und eine neuerliche Zustellung keine Rechtswirksamkeit mehr auslösen könne.

Drittes Asylverfahren:

9. Am 13.06.2019 stellte der Beschwerdeführer einen dritten Antrag auf internationalen Schutz. Begründend gab er dazu im Zuge seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 06.05.2019 an, einen neuerlichen Antrag zu stellen, da er nicht zurückgehen könne, weil seine ganze Familie – seine Lebensgefährtin mit drei Söhnen – in Österreich sei. Ihm sei Asyl zu Unrecht entzogen worden. Zudem habe er einen erwachsenen Sohn aus einer vorherigen Beziehung, welcher drogenabhängig sei und seine anderen Kinder bedrohen würde. Er könne seine Familie nicht verlassen, weil er diese schützen müsse. Auf Nachfrage, ob ihm bei Rückkehr in den Herkunftsstaat unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe, die Todesstrafe drohe oder er sonst mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen habe, gab er wieder: „Ich weiß es nicht. Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil darüber lange nicht mehr nachgedacht habe. Ich habe immer fleißig hier gearbeitet.“ Auf Nachfrage, wann sich eine Änderung der Situation/seiner Fluchtgründe bekannt geworden sind, gab er wieder: „Keine neuen Gründe vorhanden.“

Bei der Einvernahme am 19.06.2019 vor dem BFA gab der BF wieder, dass er bei seiner frau lebte, aber sie nicht gewollt habe, dass er sich dort anmelde. Die drei Kinder leben bei der Mutter. Er war in Trofaich, dann in St. Peter für 4 Jahre und in Linz für 2 Jahre gemeldet. Seine Kinder und seine Frau seien in Leonding gemeldet gewesen. Er sei nicht finanziell abhängig. Auf Nachfrage, ob sich an seinen Fluchtgründen etwas geändert habe, verneinte er dies. Er sei vor 6 Jahren und vor 2 Jahren in Tschetschenien gewesen. An seinen Antragsgründen seit seinem letzten Verfahren von 2018 habe sich nichts geändert, er möchte bei seinen Kindern leben, da sie nicht mehr auf seine Frau hören. Er unterstütze die Frau und seine Kinder, wenn er Geld habe.

Bei seiner Einvernahme am 25.06.2019 gab er vor dem BFA wieder, dass er bei seiner Familie bleiben möchte.

10. Mit Bescheid vom 28.06.2019 wurde der dritte Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 AVG wegen entschiedener Sache vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückgewiesen. Eine Rückkehrentscheidung wurde unter Verweis auf VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0082, nicht erlassen. Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 28.06.2019 zu eigenen Handen ausgefolgt, eine Beschwerde wurde nicht erhoben, weswegen dieser Bescheid am 12.07.2019 in Rechtskraft erwuchs.

11. Am 17.07.2019 wurde der Beschwerdeführer im Zuge einer Linienabschiebung auf dem Luftweg nach Moskau überstellt.

Gegenständliches (viertes) Asylverfahren:

12. Der Beschwerdeführer stellte am 08.07.2020 einen weiteren Folgeantrag auf internationalen Schutz, nachdem er laut eigenen Angaben Anfang Juni 2020 wieder in das österreichische Bundesgebiet eingereist sei. Am selben Tag wurde der Beschwerdeführer durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Zu den Gründen für die neue Antragstellung gab er zusammengefasst an, dass sich in Österreich seine gesamte Familie befinde und er sonst niemanden habe. Außerdem werde er in Tschetschenien verfolgt. Als er vor drei Jahren in Dagestan gewesen sei, haben ihm Anhänger von Kadyrow einen Schlag auf den Kopf versetzt, der zu einem Schädelbruch geführt habe. Ein Freund habe ihn ins Krankenhaus gebracht, er sei im Koma gelegen. Dieser Freund sei eine Woche später tot aufgefunden worden. Im Falle der Rückkehr befürchte er den Tod. Der Beschwerdeführer legte einen Fahndungsbrief in russischer Sprache (undatiert) samt deutscher Übersetzung vom 19.11.2018 sowie eine Ladung in russischer Sprache vom 07.06.2020 samt deutscher Übersetzung vom 19.11.2018 (!?) vor.

13. Am 05.08.2020 und am 08.09.2020 fand eine Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt, in welcher der Beschwerdeführer zu den Gründen für seine erneute Antragstellung näher befragt wurde. Er gab hierbei zusammengefasst an, dass sich seine Familie hier befinde und er könne ohne Familie nicht leben, weil er bald 60 Jahre alt werde. Er könne zudem zu Hause nicht leben, weil nach ihm gefahndet werde. Zudem werde seine Familie in Österreich von seinem drogenabhängigen, obdachlosen Sohn aus erster Beziehung bedroht. Dies habe nach seiner Abschiebung angefangen. Auch habe dieser seine Frau zusammengeschlagen und einen seiner weiteren Söhne am Bahnhof bedroht. In Russland habe er seit dem Jahr 2002 Probleme und habe diese auch schon in seinen Vorverfahren geschildert. Seine Probleme seien genauso geblieben, wie sie bisher gewesen seien. Im letzten Jahr habe er sich nur tageweise in Tschetschenien aufgehalten, gewohnt habe er aber bei seiner Schwester in Dagestan. Es sei im letzten Jahr zu keinen Vorfällen gekommen, weil er sich praktisch nicht in Tschetschenien aufgehalten habe. Über Bekannte habe er dennoch die Ladung und den Fahndungsbrief via Telefon erhalten. Das Handy habe er nicht mehr, er habe es schon seit längerem verloren, dies sei ca. vor vier Monaten gewesen, er sei damals nicht in Österreich gewesen. Das Schriftstück habe er vor 4 Monaten erhalten. Seit ihm vor drei Jahren von hinten sein Kopf eingeschlagen worden sei, habe er Gedächtnisschwierigkeiten und Kopfschmerzen. Er nehme gegen die Schmerzen XXXX und auch Beruhigungstropfen, weil er Schlafprobleme habe, sowie einen Nasenspray.

14. Mit dem im Anschluss an die zweite Einvernahme mündlich verkündeten Bescheid vom 08.09.2020, wurde gegenüber dem Beschwerdeführer der faktische Abschiebeschutz aufgehoben. Begründend führte das Bundesamt aus, dass der Beschwerdeführer im gegenständlichen Asylverfahren keine neue Fluchtgründe vorgebracht habe und keiner Verfolgung in der Russischen Föderation ausgesetzt sei, weil es ihm von Juli 2019 bis Juni 2020 möglich gewesen sei, ohne Vorfälle und Probleme bei seiner Schwester in Dagestan zu leben. Zudem bestehe gegen den Beschwerdeführer eine aufrechte Rückkehrentscheidung. Mit Beschluss vom 16.09.2020 beschloss das Bundesverwaltungsgericht in dem amtswegig eingeleiteten Verfahren, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes betreffend den Beschwerdeführer rechtmäßig ist.

16. Mit Bescheid vom 11.07.2021 von der Bezirkshauptmannschaft XXXX wurde der Beschwerdeführer zur Verhütung der Weiterverbreitung von Covid-19 bis zum Ablauf des 24.07.2021 an seiner Wohnadresse abgesondert.

17. Am 29.07.2021 wurde der Beschwerdeführer erneut zum gegenständlichen Asylverfahren vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. Dabei gab er zusammengefasst an, dass sich seit der letzten Einvernahme am 08.09.2020 am Familienleben nichts verändert habe. Sein Gesundheitszustand habe sich auch nicht verändert, er habe zwar Corona gehabt, aber sei jetzt wieder gesund. Der Beschwerdeführer sei schon seit 19 Jahren im Bundesgebiet und seine Frau sei berufstätig, verdiene etwa XXXX ,- und er sei auch bereit wieder zu arbeiten. Der Beschwerdeführer gab keine weitere Stellungnahme ab, ebenso auch nicht zu den bereits am 15.07.2021 ausgefolgten aktuellen Länderberichten zur Lage in der Russischen Föderation.

18. Mit gegenständlichen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.08.2021 (zugestellt am 06.08.2021) wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 08.07.2020 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen. Im Wesentlichen wurde festgestellt, dass sich kein neuer objektiver Sachverhalt ergaben habe. Er sei alleine ins österreichische Bundesgebiet eingereist, um bei seiner damaligen Frau zu leben, mit der er auch drei gemeinsame Kinder habe. Der Beschwerdeführer habe in Österreich keine weiteren sozialen Kontakte, die ihn an Österreich binden. Der Beschwerdeführer leide an keiner schweren oder lebensbedrohenden Erkrankung. Außerdem habe der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt des Vorverfahrens besagte Kopfverletzungen vorgebracht, obwohl er von anderen Verletzungen berichtet habe. Nach den Schilderungen des Beschwerdeführers seien die erstmals vorgebrachten Kopfverletzungen bereits im Herkunftsstaat vor mehreren Jahren geschehen, was den Beschwerdeführer nicht abgehalten habe auch mehrfach von Russland kommend in Österreich einzureisen. Weiters seien auch die vermeintlichen Fahndungs- bzw. Ladungsdokumente auf Grund krassen Widerspruch in den Angaben nicht glaubwürdig. Insgesamt decke sich der gegenständlich vierte Asylantrag mit dem vorangegangenen Verfahren, zumal der Beschwerdeführer gleichbleibend angegeben habe, nicht nach Tschetschenien zurückkehren zu wollen, weil hier seine Familie aufhältig sei. Ein neuer objektiver asylrelevanter Sachverhalt liege daher nicht vor. Da gegen den Beschwerdeführer eine vorherige, mit einem Einreiseverbot verbundene Rückkehrentscheidung noch aufrecht sei, sei eine neuerliche Rückkehrentscheidung nicht zu erlassen gewesen.

19. Der Beschwerdeführer brachte durch seinen Rechtsberater als gewillkürten Vertreter mit Schriftsatz vom 12.08.2021 gegen den Bescheid rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde ein. Darin kritisierte er im Wesentlichen, dass sich der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt seit Rechtskraft des letzten Asylverfahrens maßgeblich geändert habe und sei dem Vorbringen des Beschwerdeführers auch die Glaubwürdigkeit nicht abzusprechen. Der Beschwerdeführer habe einen Fahndungsbrief vorgelegt und könne deshalb nicht, wie von der belangten Behörde, von einem identischen Sachverhalt bzw. einer unveränderten Rechtslage ausgegangen werden. Außerdem leide der Beschwerdeführer an einem Schädel-Hirntrauma und benötige Medikamente. Sein Vorbringen untermauerte der Beschwerdeführer mit weiteren Länderinformationen zur Menschenrechtslage in Tschetschenien und zum Thema Rückkehr. Weiters wird die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung beantrag.

20. Am 01.09.2021 erfolgte die Übermittlung einer Heiratsurkunde mit beglaubigter Übersetzung aufgrund der Aufforderung des BVwG.

21. Am 04.10.2021 erfolgte eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG.

22. Am 04.10.2021 erfolgte eine Übermittlung der bereits übermittelten Heiratsurkunde und der Übersetzung.

23. Mit Schreiben vom 07.10.2021 bestätigte der gerichtlich zertifizierte Sachverständige, dass der die Ladung und das Fahndungsschreiben, welches der BF bei der Erstbefragung vorlegte, im Zeitraum 17.06.2020 und 07.07.2020 übersetzt und daher das Übersetzungsdatum 19.11.2018 versehentlich erfolgte.

24. Mit Schreiben vom 05.10.2021 erfolgte eine Stellungnahme der Bezirkshauptmannschaft XXXX als zuständige Organisationseinheit des Kinder- und Jugendwohlfahrtsträgers zur familiären Situation der Familie XXXX .

25. Mit Schreiben vom 12.10.2021 erfolgte die Vorlage von folgenden Dokuemten:

?        Stellungnahme der Sozialpädagog*innen

?        Terminbestätigung Kepler Universität Klinikum

?        Auszug Finanzamt

?        Abrechnungsbelege März 2020, Mai 2020 bis Oktober 2020, Dezember 2020, Jänner 2021, März 2021 bis August 2021

?        Dientsvertrag

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , wurde am XXXX geboren, ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation sowie Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Seine Identität steht fest. Er spricht Tschetschenisch sowie Russisch auf muttersprachlichen Niveau und hat geringe Deutschkenntnisse.

1.2. Im Heimatland wohnen nach wie vor zahlreiche Verwandte des Beschwerdeführers, insbesondere eine Tochter und drei Schwestern. Bei einer Schwester in Dagestan lebte der Beschwerdeführer von Juli 2019 bis Juni 2020.

1.3. Der Beschwerdeführer reiste spätestens im Juli 2002 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 21.07.2002 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 03.09.2003 abgewiesen. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung, welche er zurückzog und am 15.02.2007 einen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz stellte. Mit Bescheid vom 26.07.2007 wurde dem Beschwerdeführer abgeleitet von seinen Kindern der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Mit Bescheid vom 02.10.2018 wurde dem Beschwerdeführer der zuerkannte Status des Asylberechtigten aufgrund freiwilliger Unterschutzstellung unter den Schutz des Heimatlandes aberkannt und auch nicht der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, sowie kein Aufenthaltstitelt aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Weiters wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation für zulässig erklärt. Außerdem wurde gegen den Beschwerdeführer ein befristetes Einreiseverbot in der Dauer von fünf Jahren erlassen. Der Bescheid erwuchs mit 02.11.2018 in Rechtskraft. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stellte fest, dass die Tatsachen, die zur Asylgewährung vorlagen, nicht mehr vorliegen und der Beschwerdeführer keine Probleme mit den Behörden in seiner Heimat hat, weil er sich zuletzt im Juli 2016 einen Reisepass in der Heimat ausstellen ließ sowie im Jahr 2017 mehrmals über die Route Ukraine oder die Route Türkei-Georgien nach Tschetschenien, Russische Föderation reiste. Es liegt auch kein schützenswertes Familienleben in Österreich vor, weil der Beschwerdeführer ledig ist, für die drei minderjährigen Söhne seine Ex-Frau und Mutter die alleinige Obsorge hat und sich kein besonderes Naheverhältnis zu seinen minderjährigen Söhnen als auch weiteren volljährigen Kindern von anderen Ehen aufzeigte. Das Einreiseverbot wurde erlassen, da der BF nicht in der Lage war den Besitz von Mitteln zur Deckung seines Unterhaltes nachzuweisen.

Mit Schriftsatz vom 19.06.2020 stellt der Beschwerdeführer hinsichtlich des in Rechtskraft erwachsenen Bescheides vom 02.10.2018 einen Antrag auf neuerliche Zustellung sowie einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Zusammenhang mit einer Beschwerde. Mit Bescheid vom 11.09.2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf neuerliche Zustellung des Bescheides als auch jenen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab und erkannte dem Antrag auf Wiedereinsetzung die aufschiebende Wirkung zu.

Am 13.06.2019 stellte der Beschwerdeführer wiederum einen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen im Wesentlichen, dass er nicht zurückkehren könne, weil seine ganze Familie – seine Lebensgefährtin mit drei Söhnen – in Österreich sei. Ihm sei Asyl zu Unrecht entzogen worden. Zudem habe er einen erwachsenen Sohn aus einer vorherigen Beziehung, welcher drogenabhängig sei und seine anderen Kinder bedrohen würde.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies mit Bescheid vom 28.06.2019 den dritten Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache zurück. Eine Beschwerde wurde nicht erhoben und dieser Bescheid erwuchs am 12.07.2019 in Rechtskraft.

Am 17.07.2019 wurde der Beschwerdeführer im Zuge einer Linienabschiebung auf dem Luftweg nach Moskau überstellt.

Der Beschwerdeführer reiste wiederum illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 08.07.2020 einen neuerlichen Antrag (Folgeantrag) auf internationalen Schutz. Mit mündlich verkündeten Bescheid vom 08.09.2020, wurde gegenüber dem Beschwerdeführer der faktische Abschiebeschutz aufgehoben. Mit Beschluss vom 16.09.2020 beschloss das Bundesverwaltungsgericht in dem amtswegig eingeleiteten Verfahren, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes betreffend den Beschwerdeführer rechtmäßig ist.

Mit gegenständlichen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.08.2021 (zugestellt am 06.08.2021) wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 08.07.2020 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache zurückgewiesen und festgestellt, dass sich kein neuer objektiver Sachverhalt ergaben hat.

Gegen den Beschwerdeführer besteht eine aufrechte Rückkehrentscheidung sowie ein Einreiseverbot (Bescheid vom 02.10.2018, Zl. 770167602/180707745).

1.4. Im aktuellen Asylverfahren zu seinem vierten Antrag auf internationalen Schutz brachte – der belangten Behörde folgend - der Beschwerdeführer keine neuen Fluchtgründe vor und die individuelle Situation für den Beschwerdeführer hat sich hinsichtlich seinen Herkunftsstaat Russische Föderation nicht in einem Umfang verändert, dass von einer wesentlichen Änderung des Sachverhaltes auszugehen ist. Der Beschwerdeführer bezieht sich ausschließlich auf Fluchtgründe, die bereits zum Zeitpunkt des Abschlusses der Vorverfahren Bestand hatten bzw. die er bereits in diesem Vorverfahren vorbrachte oder vorbringen hätte können. Zudem weißt die Behauptung, dass er im Jahr 2017 von Kadyrow Anhängern einen Schlag auf den Kopf erhalten habe, welcher zum Schädelbruch und Koma führte und weiterhin belegt durch Fahndungs- und Ladungsbriefe eine Gefahr einer Verfolgung, Bedrohung, Verhaftung oder Tötung bestehe, keinen glaubhaften Kern dar.

1.5. Ebenso besteht keine maßgebliche Änderung der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat seit rechtskräftigen Abschluss der Vorverfahren. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation droht dem Beschwerdeführer keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention noch besteht für ihn als Zivilperson eine ersthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes.

1.6. Auch im Hinblick auf die weltweite Corona-Pandemie besteht für den Herkunftsstaat Russische Föderation derzeit keine derartige Entwicklung, die im Hinblick auf eine Gefährdung nach Art. 3 EMRK eine entscheidungsrelevante Lageveränderung erkennen lässt.

Die Corona-Pandemie ist als Pandemie auf der ganzen Welt vorhanden und der Beschwerdeführer hat in der Russischen Föderation kein größeres Risiko an Covid-19 zu erkranken als in Österreich. Außerdem ist der Beschwerdeführer ohne schweren Krankheitsverlauf bereits im Juli 2021 an Covid-19 erkrankt und somit ist das Risiko erneut daran schwer zu erkranken oder gar den Tod zu erleiden geringer sowie auch nicht höher als in Österreich. Die Russische Föderation verfügt auch über einen Impfstoff und eine intakte medizinische Versorgung.

1.7. Der Beschwerdeführer leidet an keinen schweren physischen oder psychischen lebensbedrohlichen und im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen, die einer Rückführung in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden. Er ist bis auf Schlafprobleme und Kopfschmerzen, wogegen er bei Bedarf Medikamente einnimmt, gesund. Der Beschwerdeführer hat einen OP-Termin für den 13.12.2021.

1.8. Der Beschwerdeführer hat mit einer russischen Staatsangehörigen drei in Österreich geborene Söhne im Alter von 16, 15 und 12 Jahren. Sowohl die Kindsmutter seiner Kinder als auch seine drei minderjährigen Söhne sind in Österreich dauerhaft aufenthaltsberechtigt. Der Beschwerdeführer wohnt seit Mitte August 2020 mit zwei seiner minderjährigen Söhne sowie deren Mutter im gleichem Haushalt. Davor lebte der Beschwerdeführer lediglich von November 2005 bis April 2006 mit seiner Lebensgefährtin im gemeinsamen Haushalt. Finanzielle Unterstützungsleistungen erbrachte der Beschwerdeführer hinsichtlich seiner Söhne nicht. Bis zu seiner Abschiebung im Juli 2019 hielt der Beschwerdeführer durch Besuche Kontakt zu seinen Söhnen und seiner Lebensgefährtin. Die Obsorge für die drei minderjährigen Söhne liegt unverändert bei der Kindsmutter. Darüber hinaus leben noch zwei weitere volljährige Töchter des Beschwerdeführers aus früheren Ehen in Österreich. Es besteht weder ein Kontakt noch ein Abhängigkeitsverhältnis noch eine enge Beziehung zu ihnen. Zwei volljährige Söhne des Beschwerdeführers sind seit März und Dezember 2020 nicht mehr im Bundesgebiet gemeldet und verzogen. An seinem Privat- und Familienleben hat sich ebenfalls keine maßgebliche Sachverhaltsveränderung dargetan. Der Ex-Frau und den minderjährigen Söhnen ist es zumutbar ihren Vater in der Russischen Föderation zu besuchen. Der Kontakt mit seinen minderjährigen Söhnen ist verbessert, jedoch nicht sehr intensiv.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich nicht selbsterhaltungsfähig sowie sprachlich und sozial nicht besonders integriert.

Der Beschwerdeführer ist nicht verheiratet.

1.9. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.10. Zwischen rechtskräftigen Abschluss des Vorverfahrens und der Zurückweisung des gegenständlichen Folgeantrages wegen entschiedener Sache ist insgesamt keine wesentliche Änderung der Sach- oder Rechtslage im Herkunftsstaat oder des persönlichen Umstandes des Beschwerdeführers oder des Privat- und Familienlebens eingetreten.

Das erkennende Gericht konnte sich bei seiner Entscheidung abschließend und vollständig auf die bereits durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgenommene Entscheidung stützen und teilt die im angefochtenen Bescheid vorgenommenen Feststellungen.

1.11. Zur aktuellen Situation in der Russischen Föderation, insbesondere Tschetschenien, werden folgende Feststellungen basierend auf die eingeführten Länderinformationen im angefochtenen Bescheid getroffen (Länderinformation der Staatendokumentation zur Russischen Föderation aus dem COI-CMS vom 10.06.2021):

Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 1.2021c; vgl. CIA 5.2.2021). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017). Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 1.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 3.3.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden (GIZ 1.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 1.2021a; vgl. FH 3.3.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 3.3.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 1.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).

Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 1.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 1.2021a).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016, FH 3.3.2021). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die nächste Duma-Wahl steht im Herbst 2021 an (Standard.at 1.1.2021).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 1.2021a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 1.2021a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürgersollten Jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Neben den bis Juli 2021 verlängerten wirtschaftlichen Sanktionen wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes (Presse.com 10.12.2020) haben sich die EU-Außenminister wegen der Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf neue Russland-Sanktionen geeinigt. Die Strafmaßnahmen umfassen Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gegen Verantwortliche für die Inhaftierung Nawalnys (Cicero 22.2.2021).

Quellen:

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?        EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

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?        Presse.com (10.12.2020): EU verlängerte Wirtschaftssanktionen gegen Russland, https://www.diepresse.com/5909916/eu-verlangerte-wirtschaftssanktionen-gegen-russland, Zugriff 24.2.2021

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?        Standard.at (1.1.2021): Was 2021 außenpolitisch auf uns zukommt, https://www.derstandard.at/story/2000122723655/was-2021-aussenpolitisch-auf-uns-zukommt, Zugriff 5.3.2021

?        Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020

?        Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020

Tschetschenien

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – die Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat ein Teil von ihnenTschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, beim anderen Teil handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2020).

In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, FH 3.3.2021). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Ramsan Kadyrow wurde bei den Wahlen vom 18. September 2016 laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 6.2020). In Tschetschenien regiert Kadyrow unangefochten autoritär. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 3.3.2021; vgl. AA 2.2.2021). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 3.3.2021).

Während der mittlerweile über zehn Jahre andauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramsan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute 'föderale Machtvertikale' dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum 'inneren Ausland' Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 23.2.2021

?        FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 5.3.2021

?        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435?reduced=true, Zugriff 11.3.2020

?        ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf, Zugriff 17.2.2021

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 7.4.2021a; vgl. GIZ 1.2021d, EDA 7.4.2021). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 7.4.2021a; vgl. EDA 7.4.2021). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 7.4.2021).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern (SWP 4.2017). Seitdem war der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken sollte (SWP 4.2017; vgl. Deutschlandfunk 29.9.2020). Der Einsatz in Syrien ist der größte und längste Auslandseinsatz des russischen Militärs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zunächst sollten nur die Luftstreitkräfte die syrische Armee unterstützen. Bodentruppen wurden erst später und in geringerem Maße mobilisiert - in Form von Spezialeinheiten und schließlich am Ende des Feldzugs als Militärpolizei. Es gab auch Berichte über den Einsatz privater paramilitärischer Strukturen (DW 29.9.2020). Hier ist vor allem die 'Gruppe Wagner' zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen privaten russischen Sicherheitsdienstleister, der nicht nur in Syrien, sondern auch in der Ukraine und in Afrika im Einsatz ist. Mithilfe solcher privaten Sicherheitsdienstleister lässt sich die Zahl von Verlusten des regulären russischen Militärs gering halten (BPB 8.2.2021), und der teure Einsatz sorgt dadurch in der russischen Bevölkerung kaum für Unmut (DW 29.9.2020).

In den letzten Jahren rückte eine weitere Tätergruppe in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpften, wurde auf einige Tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). Erst im Oktober 2020 wurden bei Spezialoperationen zentralasiatische Dschihadisten in Südrussland getötet und weitere in Moskau und St. Petersburg festgenommen (SN 15.10.2020).

Quellen:

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?        BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (8.2.2021): Analyse: Söldner im Dienst autoritärer Staaten: Russland und China im Vergleich, https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/327198/soeldner-im-dienst-autoritaerer-staaten, Zugriff 8.4.2021

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 7.4.2021

?        Deutschlandfunk (29.9.2020): An Russland kommt im Nahen Osten niemand mehr vorbei, https://www.deutschlandfunk.de/fuenf-jahre-russischer-militaereinsatz-in-syrien-an.724.de.html?dram:article_id=484951, Zugriff 8.4.2021

?        DW - Deutsche Welle (29.9.2020): Russland im Syrien-Krieg: Gekommen, um zu bleiben, https://www.dw.com/de/russland-im-syrien-krieg-gekommen-um-zu-bleiben/a-55096554, Zugriff 8.4.2021

?        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (7.4.2021): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html#par_textimage, Zugriff 7.4.2021

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 7.4.2021

?        SN - Salzburger Nachrichten (15.10.2020): Terrorzelle in Russland ausgeschaltet, https://www.sn.at/politik/weltpolitik/terrorzelle-in-russland-ausgeschaltet-94250941, Zugriff 8.4.2021

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 7.4.2021

Nordkaukasus

Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 4.2017).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgen nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sogenannten IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. 2018 wurde laut dem Inlandsgeheimdienst FSB die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen mehr als halbiert. Auch 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Jedoch stellt ein Sicherheitsrisiko für Russland die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020).

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 6.2020). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.1.2020).

[Anmerkung Staatendokumentation:] Bitte vergleichen Sie hierzu auch alle Kapitel zur Allgemeinen Menschenrechtslage (einschließlich der Kapitel zu Tschetschenien, Dagestan und Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein).

Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine ver

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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