TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/15 W129 2215825-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.10.2021
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Entscheidungsdatum

15.10.2021

Norm

AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §54
FPG §55
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
FPG §58 Abs2
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W129 2215825-1/24E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter DDr. Markus GERHOLD über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Z. 732320200/171362005, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A) I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben und eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG für auf Dauer unzulässig erklärt und XXXX , geb. XXXX , gemäß §§ 54, 55 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.




Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 01.08.2003 einen Antrag auf Asyl. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 01.06.2004 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 durch Erstreckung über seinen Vater Asyl gewährt und festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

2. Der Beschwerdeführer wurde in der Folge straffällig (vgl. dazu die Feststellungen).

3. Am 09.04.2018 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme durch die belangte Behörde. Auf die Frage, was der Beschwerdeführer nach einer Rückkehr in die Russische Föderation befürchte, gab er an, er sei mit sieben Jahren nach Österreich gekommen und wisse nicht, wie er wieder dort leben solle. Es gäbe nur Verwandte, die er nicht kenne und zu denen er auch keinen Kontakt mehr habe.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 03.10.2019 wurde dem Beschwerdeführer in Spruchpunkt I. der ihm mit Bescheid vom 02.06.2005 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass diesem die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme. In Spruchpunkt II. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt. Weiters wurde ihm in Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Darüber hinaus wurde in Spruchpunkt IV. gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde in Spruchpunkt V. festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei. In Spruchpunkt VI. wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. In Spruchpunkt VII. wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

5. Dagegen wurde fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde eingebracht. Darin führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, es für ihn bestehe sowohl in Tschetschenien als auch dem Rest der Russischen Föderation nach wie vor Gefahr vor Verfolgung, da der Beschwerdeführer und dessen gesamte Familie in Tschetschenien als Regimegegner des Regimes von Kadyrov bekannt seien. Aus dem Bericht zur Lage im Herkunftsland Tschetschenien gehe eindeutig hervor, dass die Sicherheitslage für Oppositionelle äußerst gefährlich sei. Der Beschwerdeführer habe sich daher nie in Russland oder gar in Tschetschenien aufgehalten, sondern den russischen Reisepass gekauft, ohne selbst in Russland gewesen zu sein. Dies ergebe sich auch aus den Reisestempeln im Konventionsreisepass des Beschwerdeführers. Er habe den russischen Reisepass benötigt, um für seinen Sohn bzw. dessen Geschäft Einkäufe in der Ukraine und der Türkei zu erledigen, da zu der Zeit der Konventionsreisepass als Einreisedokument nicht gereicht hätte. Der Sohn des Beschwerdeführers habe keine entsprechenden Geschäftskontakte in beiden Ländern und beherrsche auch die Sprache nicht so gut. Darüber hinaus sei festzuhalten, dass der Beschwerdeführer selbst nie strafgerichtlich verurteilt worden oder Gegenstand eines Strafverfahrens gewesen sei. Das im gegenständlichen Bescheid zitierte Strafverfahren gegen den ehemaligen Imam der Moschee des Beschwerdeführers, XXXX , und dessen Verurteilung könnten kein ausreichender Grund sein, dem Beschwerdeführer zu unterstellen, am Aufbau einer anti-westlichen Parallelgesellschaft salafistischer Prägung zu arbeiten. Der Beschwerdeführer habe selbst im Rahmen der Einvernahme klargestellt, dass in keinem Gottesdienst je dazu aufgerufen worden sei, nach Syrien zu fahren und dass er Vereine wie das XXXX dazu nutze, radikale Tendenzen zu bekämpfen und die Schönheit des Islams zu zeigen. Ungeachtet dessen sei dem Beschwerdeführer jedenfalls der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, da seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in sein Herkunftsland eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer ausgesprochen starke familiäre Beziehungen zu Österreich iSd Art. 8 EMRK. Sowohl seine Ehegattin als auch seine drei minderjährigen Kinder würden mit ihm zusammen in Graz leben. Drei weitere volljährige Kinder würden ebenfalls als Asylberechtigte in Graz leben.

6. Am 11.03.2019 legte der Beschwerdeführer eine Richtigstellung der übermittelten Beschwerde vom 06.03.2019 vor. Er führt aus, die Behörde habe hinsichtlich seiner zweiten Verurteilung vom 29.01.2018 verkannt, dass diese nicht den Tatbestand des besonders schweren Verbrechens im Sinne eines Asylausschlussgrundes erfülle. Insbesondere habe die Behörde nicht berücksichtigt, dass § 87 StGB eine Strafandrohung von einem bis zehn Jahren vorsehen, der Strafrichter gegen den Beschwerdeführer aber nur eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verhängt habe, was am unteren Rand des Strafrahmens angesetzt sei. Dies zeige, dass die Taten des Beschwerdeführers subjektiv nicht als besonders schwerwiegend zu betrachten seien. Außerdem sei die Beurteilung, ob der Beschwerdeführer in Zukunft eine Gefahr für die Gemeinschaft Österreichs darstelle, auf das gesamte Verhalten vor und seit Begehung der strafbaren Handlungen von Belang, somit auch das Verhalten während der Haft (VwGH 10.10.1996, 95/20/0247), was die Behörde nicht getan habe. Weiters sei die Behörde ihrer Pflicht zur vollständigen Sachverhaltsermittlung nicht nachgekommen, da es das Nicht-Vorliegen einer Gefährdungslage im Falle der Rückkehr damit begründe, dass die Eltern des Beschwerdeführers 2016 und 2017 zu Verwandtenbesuchen in die Heimat gereist seien und sich 2014 Reisepässe haben ausstellen lassen. Eine temporäre Rückkehr zum Zwecke von Besuchsreisen rechtfertige nach der Judikatur jedoch nicht die Annahme einer Inanspruchnahme von Schutz im Herkunftsstaat (VwGH 03.12.2003, 2001/01/0547; 16.01.1996, 95/20/0153). Auch stehe der Aberkennung des Asylstatus das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers nach Art. 8 EMRK entgegen. Dabei hätte die Behörde zu berücksichtigen gehabt, dass die gesamte Kernfamilie des Beschwerdeführers in Österreich lebe und im Heimatstaat nur sonstige Verwandte leben würden, die er weder kenne noch mit diesen in Kontakt stehe. Der Beschwerdeführer halte sich seit 15 Jahren rechtmäßig in Österreich auf, er sei mit österreichischen Werten aufgewachsen und vertraut. Er habe die gesamte Schulausbildung in Österreich absolviert, habe einen festen Freundeskreis und gut integriert.

7. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 14.03.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

8. Am 09.07.2021 wurde am Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchgeführt, an der Beschwerdeführer sowie dessen Rechtsvertreterin teilnahmen.

9. In weiterer Folge wurden mehrere Unterlagen vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum moslemischen Glauben bekennt.

Nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet stellte der Beschwerdeführer am 01.08.2003 einen Antrag auf Asyl. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 01.06.2004 wurde dem Beschwerdeführer dem Beschwerdeführer gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 durch Erstreckung in Österreich Asyl gewährt und festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Der Begründung des Bescheides ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass die Antragsteller die Gattin und Kinder des XXXX seien, dem mit Bescheid des Bundesasylamts in Österreich Asyl gewährt worden sei, somit ein unter § 11 AsylG zu subsumierender Sachverhalt vorliege, dem keine Ergebnisse des amtswegigen Ermittlungsverfahrens entgegenstehen, sodass dieser als Feststellung zugrunde gelegt werden könne. Es würden alle rechtlichen Voraussetzungen für eine Asylerstreckung vorliegen.

1.2. Der Beschwerdeführer wäre in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer wäre im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation respektive Nordkaukasus (Tschetschenien) weder in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen noch von der Todesstrafe bedroht. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer stammt aus Tschetschenien. Der Beschwerdeführer spricht die Landessprache und verfügt über Angehörige im Herkunftsstaat. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und ist in der Lage, auch körperlich anstrengende Arbeiten zu übernehmen. Im Herkunftsstaat besteht eine ausreichende medizinische Grundversorgung, weswegen der Beschwerdeführer hinsichtlich allfälliger psychischer und physischen Leiden ausreichend behandelt werden könnte. Wie bereits ausgeführt, leben in der Russischen Föderation noch Angehörige des Beschwerdeführers. Diese Verwandten könnten den Beschwerdeführer unterstützen. Im Übrigen könnten ihn seine in Österreich aufhältigen Angehörigen anteilsmäßig finanziell unterstützen. Als russischem Staatsbürger steht ihm ein Rückgriff auf Leistungen des dortigen Sozialhilfesystems offen.

1.3. Der Beschwerdeführer weist folgende strafgerichtliche Verurteilungen auf:

Das Urteil des Landesgerichts Leoben vom 17.11.2015, 11 Hv 118/15d, lautet auszugsweise, wie folgt:

„Es haben zu nachgeführten Zeiten an nachgenannten Orten den Nachgenannten fremde bewegliche Sachen durch Einbruch mit dem Vorsatz weggenommen, XXXX teils wegzunehmen versucht,

(…) XXXX ausschließlich als Beitragstäter, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wobei XXXX und XXXX die Taten in der Absicht vornahmen, sich durch deren wiederkehrende Begehung eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, und zwar

(…)

5. XXXX und XXXX in der Nacht zum 24.06.2015 in Leoben zu einem von den abgesondert verfolgten […] begangenen Einbruchsdiebstahl zum Nachteil Berechtigter des Vereines XXXX , wobei ein Standtresor im Wert von EUR 221,00, eine Handkasse im Wert von EUR 30,00 mit einem Bargeldinhalt von EUR 526,95, eine Digitalkamera im Wert von EUR 249,98, ein Leatherman im Wert von EUR 119,88 sowie LCS-Gutscheine o, Wert von EUR 30,00 durch Aufbrechen einer Kellertür erbeutet wurden, dadurch beigetragen, dass sie Aufpasserdienste leisteten,

6. XXXX in der Nacht zum 03.07.2015 in Leoben zu einem vom abgesondert verfolgten […] begangenen Einbruchsdiebstahl zum Nachteil Berechtigter des Lokals XXXX , wobei Bargeld im Gesamtbetrag von EUR 500,00 sowie eine Lederbrieftasche im Wert von EUR 30,00 durch Aufbrechen der Tür zu Seiteneingang mit einem Brecheisen erbeutet wurden, dadurch beigetragen, dass er die unmittelbaren Täter in seinem PKW zum Tatort chauffierte und von dort abholte,

7. XXXX in der Nacht zum 22.07.2015 in Niklasdorf zu einem vom abgesondert verfolgten […] begangenen Einbruchsdiebstahl zum Nachteil Berechtigter der XXXX , wobei Bargeld im Gesamtbetrag von EUR 558,60, fünf Packungen Zigaretten der Marke Marlboro im Wert von EUR 21,00 sowie zwei Packungen Zigaretten der Marke Memphis im Wert von EUR 8,40 durch Einsteigen in das Freibadgelände und Aushebeln eines gekippten Fensters, nachfolgendes Einsteigen und Aufbrechen der Ladenkasse des Buffets erbeutet wurden, dadurch beigetragen, dass er die unmittelbaren Täter in seinem PKW zum Tatort chauffierte und von dort abholte,

8. XXXX in der Nacht zum 22.07.2015 in Probleb zu einem vom abgesondert verfolgten […] begangenen Einbruchsdiebstahl zum Nachteil Berechtigter des XXXX , wobei Bargeld im Gesamtbetrag von EUR 150,00 sowie fünf Stangen Zigaretten verschiedenster Marken im Wert von EUR 200,00 durch Aufbrechen der Terrassentür mit einem Brecheisen erbeutet wurden, dadurch beigetragen, dass er die unmittelbaren Täter in seinem PKW zum Tatort chauffierte und von dort abholte,

9. XXXX in der Nacht zum 02.07.2015 in Traboch zu einem vom abgesondert verfolgten […] begangenen Einbruchsdiebstahl zum Nachteil Berechtigter des Gasthauses XXXX , wobei ein Digitalfotoapparat der Marke Canon im Wert von EUR 100,00, ein Fotoapparat der Marke Nikon im Wert von EUR 394,00, Bargeld im Gesamtbetrag von EUR 90,00, acht Packungen Zigaretten der Marke Memphis im Wert von EUR 39,20, sechs Packungen Zigaretten der Marke Marlboro im Wert von EUR 31,80 sowie sechs Packungen Zigaretten der Marke Marlboro Light im Wert von 31,80 durch Aufzwängen eines ebenerdig gelegenen Fensters und nachfolgende Einsteigen in das Objekt erbeutet wurden, dadurch beigetragen, dass er die unmittelbaren Täter in seinem PKW zum Tatort chauffierte und von dort abholte,

10. XXXX in der Nacht zum 20.07.2015 in Oberaich zu einem vom abgesondert verfolgten […] begangenen Einbruchsdiebstahl zum Nachteil Berechtigter des Fitnesscenters XXXX , wobei Bargeld im Betrag von EUR 624,44, Nahrungsergänzungsmittel im Wert von EUR 339,00, ein „Triple Whey Amino T.“ im Wert von EUR 42,90, L-Canitive Drinks im Wert von EUR 62,40, L-Canitive Liquid im Wert von EUR 119,70, 24 Dosen mit Eiweiß im Wert von EUR 693,60 un 21 Eiweißriegel im Wert von EUR 33,60 durch Aufbrechen einer Terrassentür mit einem Brecheisen sowie Aufbrechen einer Bürotür im Inneren des Objektes erbeutet wurden, dadurch beigetragen, dass er die unmittelbaren Täter in seinem PKW zum Tatort chauffierte und von dort abholte,

11. XXXX am 05.07.2015 in Kapfenberg zu einem von den abgesondert verfolgten […] begangenen Einbruchsdiebstahl zum Nachteil Berechtigter der Firma XXXX begangenen Einbruchsdiebstahl, wobei nicht näher bekannte Fahrnisse und Bargeld in unbekanntem Wert durch Aufbrechen der Tür eines Verkaufsstandes mit einem Brecheisen erbeutet werden sollten, dadurch beigetragen, dass er die unmittelbaren Täter in seinem PKW zum Tatort chauffierte und von dort abholte,

12. XXXX in der Nacht zum 13.07.2015 in Mautern in Steiermark zu einem von den abgesondert verfolgten […] begangenen Einbruchsdiebstahl zum Nachteil Berechtigter des XXXX , wobei Bargeld im Betrag von EUR 256,00 sowie nicht näher bekannte Getränke und eine Packung Fruchtgummi durch Übersteigen eines Zaunes, nachfolgendes einsteigen durch ein offenes Fenster bzw. Öffnen eines ebenerdig gelegenen Fensters erbeutet wurden, dadurch beigetragen, dass er die unmittelbaren Täter in seinem PKW zum Tatort chauffierte und von dort abholte,

Strafbare Handlung(en):

Das Verbrechen des teils versuchten, teils vollendeten gewerbsmäßigen Diebstahles durch Einbruch als Beitragstäter nach den §§ 127, 129 Z 1, 130 vierter Fall und 15, 12 dritte Alternative StGB

(…)

Strafe:

Nach dem zweiten Strafsatz des § 130 StGB unter Bedachtnahme auf § 36 StGB

Freiheitsstrafe im Ausmaß von 18 (achtzehnt) Monaten.

Gemäß § 43 Abs 1 StGB wird (…) der Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.

(…)

Strafbemessungsgründe:

Erschwerend: Tatbegehung in Gesellschaft, mehrfache Qualifikation

Mildernd: Alter unter 21 Jahren, Unbescholtenheit, Geständnis

(…)“

Das Urteil des Landesgerichts Leoben vom XXXX , XXXX lautet auszugsweise:

„Der Angeklagte XXXX , geboren am XXXX in XXXX , Russische Föderation, russischer Staatsangehöriger, (…) ist schuldig:

XXXX hat zu nachgenannen Zeiten in Niklasdorf

I. teils in bewusstem und gewollten Zusammenwirken mit dem abgesondert Verfolgten XXXX sowie weiteren nicht näher bekannten Personen nachstehende Personen vorsätzlich am Körper verletzt, wobei sie einen Teil der Köperverletzungen (§ 83 Abs 1) mit mindestens zwei Personen in verabredeter Verbindung begingen (Fakten I.3.a) und b)) und zwar

1. am 03.09.2017

a) XXXX , indem er ihm Faustschläge ins Gesicht versetzte, während XXXX ihn in den Würgegriff nahm und festhielt (Schwellung im Gesicht)

b) XXXX durch die zu Punkt III. genannte Tat, sowie dadurch, dass er ihr, als sie dem XXXX (Faktum I. 1. a) zur Hilfe kommen wollte, ebenfalls zumindest einen Schlag ins Gesicht versetzte (Prellungen im Gesicht, im Brustbereich und in den Beinen)

2. in der Nacht vom 14.10.2017 auf den 15.10.2017 die XXXX , indem er sie am Hals erfasste, sie würgte und kraftvoll gegen eine Tür schleuderte (Hämatom am Oberarm, Schmerzen im Bereich des Nackens).

3. am 15.10.2017

a) XXXX , indem er ihm gemeinsam mit XXXX und vier bis fünf weiteren nicht näher bekannten Personen Schläge und Tritte versetzte und ihn würgte (unverschobener Nasenbeinbruch, massive Würgung und Kratzspuren am Hals; ernsthafte Kehlkopfkompression, Hämatome, Schwellungen und Abschürfungen);

b) XXXX , indem er ihr gemeinsam mit XXXX und vier bis fünf weiteren nicht näher bekannten Personen Schläge und Tritte versetzte (Prellungen der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule und des Brustkorbes, beidseitige Nierenprellung);

II. am 15.10.2017 im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit dem abgesondert verfolgten XXXX dem XXXX absichtlich eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) zugefügt, indem er auf seinen Kopf eintrat, als dieser durch Faustschläge des XXXX zu Boden gegangen war, während XXXX ihm mehrere Faustschläge ins Gesicht versetzte (Bruch des Augenhöhlenbodens und der medialen Seitenwand, hochgradiger Verdacht auf Durchtritt von Weichteilen in die rechte Oberkieferhöhle, Kieferhöhlenblutung, beidseitige Unterblutung des Augenlids);

III. unmittelbar vor der zu Punkt I 2. a) genannten Tat XXXX mit Gewalt zu einer Handlung, nämlich dem Verlassen ihres PKW genötigt, indem er sie aus dem Fahrzeug zerrte;

IV. unmittelbar nach der zu Punkt I 2. a) genannten Tat XXXX und XXXX im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit dem abgesondert verfolgten XXXX mit zumindest einer Verletzung am Körper gefährlich bedroht, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem sie ihnen gegenüber äußerten: „Wir bringen euch um. Ich habe mir eure Gesichter und das Kennzeichen gemerkt. Wir bringen euch um!“

V. nach der zu Punkt IV. genannten Tat den PKW der XXXX beschädigt, wobei er einen EUR 5000,00 nicht übersteigenden Schaden in unbekannter Höhe herbeiführte, indem er mehrmals gegen den hinteren Bereich des Fahrzeugs trat.

VI. am 03.09.2017 den XXXX mit Gewalt zu einer Unterlassung, nämlich am Verlassen der Örtlichkeit, an der er kurz zuvor durch zumindest einen Schlag gegen das Auge verletzt wurde, gehindert indem er ihn mittels Halsklammer zu Boden drückte.

XXXX hat hierdurch

die Verbrechen

zu I. 3. a) und b) der schweren Körperverletzung nach den §§ 83 Abs 1, 84 Abs 5 Z 2 StGB und

zu II. der absichtlich schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB sowie

die Vergehen

zu I. 1. a) und I. 1. b) und I. 2. der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB,

zu III. und VI. der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB,

zu IV. der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB und

V. der Sachbeschädigung nach § 125 StGB

Begangen und wird hierfür unter Bedachtnahme auf § 28 Abs 1 StGB nach § 87 Abs 1 StGB zu einer

Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren

sowie gemäß § 389 Abs 1 StPO zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt.

Gemäß § 369 Abs 1 StPO ist der Angeklagte weiters schuldig, nachgenannten Privatbeteiligten nachgenannte Schmerzengeldbeträge zu bezahlen, dies binnen 14 Tagen nach Rechtskraft bei sonstiger Exekution:

XXXX     1.500,-

XXXX     1.000,-

XXXX     500,-

Gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO wird vom Widerruf er bedingten Strafnachsicht zu 11 HV 118/15t des LG Leoben abgesehen, jedoch die Probezeit auf 5 Jahre verlängert.

Als Strafzumessungsgründe sind als erschwerend das Zusammentreffen von drei Verbrechen (…) sowie sieben Vergehen ebenso zu werten wie die Tatbegehung in der Probezeit sowie die eine einschlägige Vorstrafe und auch der Umstand, dass der Angeklagte mit dem abgesondert verfolgten XXXX und teilweise anderen Personen offenbar grundlos vollkommen unbeteiligte Personen attackierte und verletzte, und somit äußerst brutal gegen Personen, mit denen er nichts zu tun hatte und durch die es zuvor auch keinerlei Provokationen oder mit denen es auch keine Auseinandersetzung gegeben hatte, massiv und grob vorging. Milderungsgründe liegen keine vor, auch ist die Alkoholisierung des Angeklagten nicht als mildernd zu werten, da dies dann anzunehmen wäre, wenn es lediglich bei einem Vorfall geblieben ist, da der Angeklagte jedoch bei sämtlichen Vorfällen nach eigenen Angaben alkoholisiert gewesen ist, ist auch hier von einem Milderungsgrund der Alkoholisierung nicht auszugehen, da dem Angeklagten ja spätestens nach dem ersten Vorfall auch bewusst gewesen sein muss, dass er unter Alkoholeinfluss zu Aggressionshandlungen neigt.

1.4. Der Beschwerdeführer lebt bei seinen Eltern und steht aktuell nicht in einer Lebensgemeinschaft. Der Beschwerdeführer hat in Österreich einen Freundes- und Bekanntenkreis. Seit seiner Entlassung am XXXX wird er im Rahmen der Bewährungshilfe betreut und absolviert weisungsgemäß Termine in der Forensischen Nachbetreuungsambulanz, wobei er sich nach Angaben der zuständigen Psychotherapeutin verlässlich und compliant zeigt. Er hat in Österreich die Schule besucht und spricht sehr gut Deutsch. Er konnte sämtliche Fragen in der Beschwerdeverhandlung problemlos in der deutschen Sprache beantworten, auf dieser Grundlage stufte der zuständige Richter die Sprachkenntnisse des Beschwerdeführers laienhaft auf dem Niveau zumindest B2, eher C1 ein. Er beschreitet seinen Lebensunterhalt von Arbeitslosenunterstützung in Höhe von ca. EUR 870. Er hat auch in der Vergangenheit Sozialleistungen in Anspruch genommen. Bis etwa März 2017 war in einem Versteigerungshaus in Leoben tätig. Aktuell steht er in Ausbildung „Mechatronik“. Zur Politik, Geschichte und Kultur Österreichs weist er rudimentäre Kenntnisse auf.

1.5. Zum Herkunftsland des Beschwerdeführers Russische Föderation wird Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer

Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor

Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem

Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (3.9.2019a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 3.9.2019

-        BmeiA (3.9.2019): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reiseaufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 3.9.2019

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russischemethoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (3.9.2019): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-undreisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 3.9.2019

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus,

https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine ‚Provinz Kaukasus‘, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und

Rekrutierung des sog. IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des AntiTerrorismuskomitees dem sog. IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2018). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In den vergangenen Jahren hat sich die Hauptkonfliktzone von Tschetschenien in die Nachbarrepublik Dagestan verlagert, die nunmehr als gewaltreichste Republik im Nordkaukasus gilt, mit der vergleichsweise höchsten Anzahl an extremistischen Kämpfern. Die Art des Aufstands hat sich jedoch geändert: aus großen kampferprobten Gruppierungen wurden kleinere, im Verborgenen agierende Gruppen (ÖB Moskau 12.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus.

Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2018).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan im vergangenen Jahr die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz. Im gesamten Nordkaukasus sind von Jänner bis Juni 2019 mindestens 31 Menschen dem Konflikt zum Opfer gefallen. Das ist fast die Hälfte gegenüber dem ersten Halbjahr 2018, als es mindestens 63 Opfer waren. In der ersten Jahreshälfte 2019 umfasste die Zahl der Konfliktopfer 23 Tote und acht Verletzte. Zu den Opfern gehören 22 mutmaßliche Aufständische und eine Exekutivkraft.

Verwundet wurden sieben Exekutivkräfte und ein Zivilist. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 lag Kabardino-Balkarien mit der Zahl der erfassten Opfer, neun Tote und ein Verletzter, an der Spitze. Als nächstes folgt Dagestan mit mindestens neun Toten, danach Tschetschenien mit zwei getöteten Personen und vier Verletzten. In Inguschetien wurde eine Person getötet und drei verletzt; im Gebiet Stawropol wurden zwei Personen getötet. Dagestan ist führend in der Anzahl der bewaffneten Vorfälle - mindestens vier bewaffnete Zusammenstöße fanden in dieser Republik in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 statt. Im gleichen Zeitraum wurden in KabardinoBalkarien drei bewaffnete Vorfälle registriert, zwei in Tschetschenien, einer in Inguschetien und im

Gebiet Stawropol. Seit Anfang dieses Jahres gab es in Karatschai-Tscherkessien und in Nordossetien keine Konfliktopfer und bewaffneten Zwischenfälle mehr (Caucasian Knot

30.8.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueberdie-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-201813-02-2019.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019

-        DW – Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 3.9.2019

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/ aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus,

https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten prorussischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3%. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Tschetschenien zwei Personen getötet und vier verletzt (Caucasian Knot 30.8.2019). Seit Jahren ist im Nordkaukasus nicht mehr Tschetschenien Hauptkonfliktzone, sondern Dagestan (ÖB Moskau

12.2018).

Quellen:

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik,

http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus,

https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff

3.9.2019

Dagestan

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von

Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden. Nach Angaben der

Sicherheitsbehörden Dagestans Anfang 2017 kämpften etwa 1.200 Männer aus Dagestan in den Reihen der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien und im Irak. Mittlerweile werden Radikale, die sich terroristischen Organisationen im Ausland anschließen wollen, von den russischen Behörden an der Ausreise gehindert und festgenommen, was die Terrorgefahr in Dagestan erhöht (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. So werden von den Sicherheitskräften mitunter auch Imame verhaftet, die dem Salafismus anhängen sollen. Aus der Perspektive der Sicherheitsdienste sollen ihre Moscheen als Rekrutierungsstätten für IS-Anhänger dienen, für einen Teil der muslimischen Bevölkerung stellen diese Maßnahmen jedoch ungebührliche Schikanen dar. Relativ häufig kommt es zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und

Extremisten. Letztere gehörten bis vor einiger Zeit primär zum 2007 gegründeten sogenannten Kaukasus-Emirat, bekundeten jedoch vermehrt ihre Loyalität gegenüber dem sog. IS. Auch operativ ist der sog. IS im Nordkaukasus in Erscheinung getreten. Einige Angriffe auf Polizisten bzw. Polizeieinrichtungen wurden unter dem Deckmantel des IS ausgeführt; im Dezember 2015 bekannte sich der sog. IS zu einem Anschlag auf eine historische Festung in Derbent. Inwieweit der IS nach der territorialen Niederlage im Nahen Osten entsprechende Ressourcen verschieben wird, um im Nordkaukasus weitere terroristische Umtriebe zu entfalten oder die regionale Zweigstelle weiterhin zu Propagandazwecken nutzen wird, um seinen globalen Einfluss zu unterstreichen, wird von den russischen Sicherheitskräften genau verfolgt werden (ÖB Moskau 12.2018).

Im Jahr 2018 gab es mindestens 49 Opfer des bewaffneten Konflikts in Dagestan, davon wurden

36 Personen getötet und 13 verletzt. Die meisten getöteten Personen sind, wie 2017, unter den Aufständischen zu finden, nämlich 27. Von den Exekutivkräften wurden drei getötet und elf verletzt. Sechs Zivilisten wurden getötet und zwei verletzt. Im Vergleich zu 2017, als es 55 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl um 10,9%. In Dagestan gab es in der ersten Hälfte des Jahres 2019 neun getötete Personen im Zuge des bewaffneten Konflikts (Caucasian Knot 30.8.2019).

Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch . Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 19.6.2019).

Quellen:

-        ACCORD (19.6.2019): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-indagestan-zeitachse-von-angriffen/#Toc489358424, Zugriff 3.9.2019

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russischemethoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 3.9.2019

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2018). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.2.2019).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2018). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2018). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler

Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 13.3.2019). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des

Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive

Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueberdie-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-201813-02-2019.pdf, Zugriff 6.8.2019

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation,

https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 6.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 6.8.2019

-        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff

6.8.2019

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 6.8.2019

-        US DOS – United States Department of State (13.3.2019): Jahresbericht zur
Menschenrechtslage                  im                Jahr             2018              –                 Russland,

https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 6.8.2019

Tschetschenien und Dagestan

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition.

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem AdatRecht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014).

Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen

Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische

Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/ Entlassung der Richter grundsätzlich zu den föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2018).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2018, AI 22.2.2018, HRW 17.1.2019). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 13.3.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssten mitsamt ihren Familien Tschetschenien verlassen. Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben

Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2018) auch Oppositionelle,

Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht,

Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des

Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche

Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die

Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation,

https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueberdie-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-201813-02-2019.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation,

https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 7.8.2019

-        AI Amnesty International (10.6.2019): Oyub Titiev kommt auf Bewährung frei!, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/russische-foederation-oyub-titiev-kommt-aufbewaehrung-frei, Zugriff 23.9.2019

-        DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnyafact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung;

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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