Entscheidungsdatum
22.10.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W272 2192098-1/24E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, vom 14.03.2018, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.10.2021, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheid zu lauten hat:
„Der Ihnen mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 08.07.2013, Zahl XXXX , zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten wird Ihnen gemäß § 9 Abs. 2 Z 3 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, von Amts wegen aberkannt.“
II. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. bis IV. wird als unbegründet abgewiesen.
III. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt V wird stattgegeben und gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 9 FPG wird festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung von XXXX in den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zulässig ist.
IV. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt VI. wird mit der Maßgabe stattgeben, dass er zu lauten hat:
„Gemäß § 55 Abs. 1 – 3 FPG wird die Frist der freiwilligen Ausreise mit 14 Tagen nach Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt“.
V. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte VIII. und IX. wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 04.07.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in der Folge AsylG). Im Zuge der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, er sei von den Taliban gezwungen worden Bomben zu legen, so habe er aber nicht mehr weiterleben können. Er stehe auf der Liste der Taliban, weil er seine Arbeit ohne ihre Zustimmung aufgegeben habe.
2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 08.07.2013, XXXX , wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen und dem BF gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Es wurde ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 08.07.2014 erteilt.
Hinsichtlich seines vorgebrachten Fluchtgrundes wurde ausgeführt, dass diesem keinerlei Glaubwürdigkeit beschieden werde. Die Behörde gehe im konkreten Einzelfall derzeit jedoch von einer realen Gefahr einer Bedrohung aus, da der BF zum Entscheidungszeitpunkt eine unbegleitete, unmündige und schwer kranke Person sei, wobei es in Afghanistan keinen Onkologen gebe und seine Behandlung im Herkunftsstaat nicht gesichert sei.
3. In einem Aktenvermerk des Bundesasylamtes vom 11.07.2013, wurde festgehalten, dass der BF nunmehr klar verneinte tatsächlich Bomben gelegt zu haben. In erster Linie habe er in Afghanistan Schwierigkeiten mit den Taliban gehabt, da sein Vater ein Kommandant der Mujahedin gewesen sei, weswegen ihn auch die Dorfbewohner und die Taliban immer wieder bedroht und geschlagen hätten.
4. Zuletzt wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im der Folge BFA) die befristete Aufenthaltsberechtigung des BF gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 08.07.2016 verlängert.
5. Am 21.06.2016 stellte der BF einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung.
6. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX , XXXX , vom 22.06.2015, rechtskräftig 26.06.2015, wurde der BF gemäß §§ 15, 142 Abs. 1, 143 2. Fall StGB und § 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall und Abs. 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt, wovon ihm 16 Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden.
7. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX , XXXX , vom 17.06.2015, rechtskräftig 06.07.2015, wurde der BF gemäß § 28a Abs. 1 SMG zur einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt, wovon ihm acht Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden.
8. Am 25.04.2017 fand eine niederschriftliche Einvernahme des BF zum Aberkennungsverfahren vor dem BFA statt. Befragt nach seinem Gesundheitszustand gab der BF an, er habe Krebs, befinde sich derzeit auch in Behandlung und gehe jeden Monat zur Kontrolle ins Krankenhaus. Manchmal müsse er Medikamente nehmen. Derzeit habe er Probleme mit der Nase, er habe eine Blutung gehabt und nehme deswegen Vaselin Gall Nr 9 TB à 30 ml. Er spreche Deutsch und befinde sich gerade in einem A2 Kurs. Er sei ledig und habe keine Kinder. Es gebe aber ein Mädchen, dass er manchmal besuche und heiraten wolle. Befragt wie sie heißt und wo sie wohnt, gab er BF an, er könne es nicht sagen, es sei privat. Er besuche seit einem Jahr einen AMS Kurs und bekomme dafür monatlich EUR 600,00. Daneben bekomme er auch noch Unterstützung durch die Caritas. Monatlich habe er EUR 800,00 zur Verfügung. Im Herkunftsstaat und im Iran, wo er sich drei Jahre aufgehalten habe, habe er als Schweißer gearbeitet und möchte er auch hier als Schweißer arbeiten. Einen Job habe er in Österreich nicht gehabt, nur ehrenamtliche Tätigkeiten verrichtet. Wo seine Eltern sind, wisse er nicht und habe er seit er in Österreich sei, nur einmal telefonischen Kontakt mit seinem kleinen Bruder in Afghanistan gehabt. Wo sich dieser zurzeit aufhalte, wisse er nicht. Er stamme aus der Provinz Baghlan, Bezirk XXXX , Dorf XXXX und habe sich immer nur dort aufgehalten. In Afghanistan sei er nicht zur Schule gegangen, es gebe dort keine Ausbildung. Dari könne er sprechen und ein wenig lesen. Er sei der Volksgruppe Said und dem schiitischen Islam zugehörig. Seine Verwandten hätten keinen Kontakt zu ihm und seiner Familie gewollt, da sein Vater Kommandant, ranghoher Offizier beim Militär gewesen sei. Befragt zu seinem Alltag in Österreich, gab der BF an, er gehe morgens in den Deutschkurs und übersetze manchmal für andere Afghanen, die nicht gut Deutsch können.
9. Mit Verfahrensordnung vom 25.04.2017 wurde dem BF der Verlust seines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet gemäß § 13 Abs. 2 AsylG mitgeteilt.
10. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX , XXXX , vom 08.06.2017, rechtskräftig 08.06.2017, wurde der BF gemäß § 287 Abs. 1 (§§ 84 Abs. 2; 269 Abs. 1 3. Fall; 15 Abs. 1) StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Gleichzeitig wurde die mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 10.09.2015, XXXX gewährte bedingte Entlassung widerrufen und vom Widerruf der mit Urteilen des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 17.06.2015 und vom 22.06.2015 gewährten bedingten Strafnachsichten abgesehen und die Probezeit jeweils auf fünf Monate verlängert.
11. Mit Befund des Polizeiärztlichen Dienstes vom 03.11.2017 wurde ausgeführt, dass der BF seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus dort nicht mehr in Behandlung gewesen sei. Alle Befunde der Untersuchungen in der Sanitätsstelle der Justizanstalt XXXX seien unauffällig gewesen. Aus chefärztlicher Sicht sei eine Abschiebung in den Herkunftsstaat daher möglich.
12. Mit Bescheid vom 14.03.2018 erkannte das BFA dem BF den mit Bescheid vom 08.07.2013, Zahl XXXX , zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 iVm § 9 Abs. 2 AsylG von Amts wegen ab (Spruchpunkt I.). Sein Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vom 21.06.2016 wurde abgewiesen und die mit Bescheid des BFA vom 10.09.2014 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI.) und der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 und 4 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII.) und festgestellt, dass er sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG ab dem 26.06.2015 verloren habe (Spruchpunkt IX.).
Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass der BF mittlerweile volljährig und gesund sei und an keiner lebensbedrohlichen Krankheit leide. Zudem bestünde durchaus eine Behandlungsmöglichkeit einer Krebserkrankung in Kabul. Der BF sei während seines Aufenthalts im Bundesgebiet seit Juli 2012 mehrmals straffällig geworden und war ihm daher gemäß § 9 Abs. 1 iVm Abs. 2 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen. Die Voraussetzungen für die Erteilung des Status des subsidiär Schutzberechtigten würden im gegenständlichen Fall nicht mehr vorliegen und der Antrag des BF auf Verlängerung seiner Aufenthaltsberechtigung abzuweisen. Es liegt weder ein schützenswertes Familien- oder Privatleben vor und sei der BF im Bundesgebiet mehrmals straffällig geworden. Somit könne nicht festgestellt werden, dass dem subjektiven Interesse des BF am Verbleib im Inland Vorzug zu geben sei. Zum Einreiseverbot führte das BFA aus, dass § 53 Abs. 3 Z 1 und 4 FPG auf den BF zutreffen würden. Der BF habe Wiederholungstaten nach dem SMG und Strafrechtstatbestände selbst innerhalb offener Probezeit gesetzt. Aufgrund der Schwere des Fehlverhaltens sei unter Bedachtnahme auf sein Gesamtverhalten, d.h. im Hinblick darauf, wie der BF sein Leben in Österreich insgesamt gestalte, davon auszugehen, dass die im Gesetz umschriebene Annahme, dass der BF eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, gerechtfertigt sei. Mit dem 26.06.2015, dem Tag der Rechtskraft der ersten strafgerichtlichen Verurteilung, habe der BF gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG sein Aufenthaltsrecht ex lege verloren.
13. Gegen den gegenständlichen Bescheid erhob der BF fristgerecht vollumfänglich Beschwerde und beantragte ihr die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Inhaltlich wurde ausgeführt, dass, eine aktuelle nachvollziehbare und von einem Facharzt durchgeführte Untersuchung zur Frage der gesundheitlichen Situation des BF vor dem Hintergrund der Krebserkrankung nicht vorliege und deshalb die Einholung eines fachärztlichen Gutachtens beantragt werde. In der Beschwerde wurde auch die Einholung eines fachärztlichen Gutachtens zum psychischen Gesundheitszustand des BF beantragt, da sein Erinnerungsvermögen offenbar stark beeinträchtigt sei und wegen seines Suchtgiftkonsums die Vermutung einer geistigen Beeinträchtigung naheliege. Die belangte Behörde habe im angefochtenen Bescheid nicht darlegen können, inwiefern sich die Lage in Afghanistan für den BF zum positiven geändert hätte, insbesondere dieser als vulnerabel einzustufen sei. In Hinblick auf die humanitäre Lage würden herkunftslandspezifische Berichte zeigen, dass sich die Lage nicht wesentlich gebessert habe, im Gegenteil habe sich die Situation noch verschlimmert. Zusammengefasst sei festzuhalten, dass der BF im Falle einer Rückkehr Gefahr liefe, Opfer eines Anschlages oder bewaffneter Auseinandersetzungen zu werden und dahingehend die Verwirklichung eines realen Risikos im Sinne des Art. 3 EMRK als wahrscheinlich angenommen werden könne. Entgegen den Feststellungen der belangten Behörde, würden im gegenständlichen Fall zudem Umstände vorliegen, die eine Ansiedelung in Kabul als innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar erscheinen lassen. Im angefochtenen Bescheid finde sich weder in der Beweiswürdigung noch in der rechtlichen Beurteilung eine Befassung mit Fragen betreffend die Voraussetzungen einer Aberkennung nach § 9 Abs. 2 AsylG. Es sei nicht einmal hinreichend konkretisiert worden, nach welchem Untertatbestand die Aberkennung erfolgt sei. Auch sehe das Gesetz keine „Eventualaberkennung“ vor, sondern besage eindeutig, dass eine Aberkennung nach Abs. 2 leg cit nur dann erfolgen könne, wenn nicht bereits eine Aberkennung gemäß Abs. 1 leg cit vorzunehmen sei. In concretu hätte das BFA eine Entscheidung treffen müssen, nach welchem Tatbestand und unter Zugrundelegung welches Sachverhaltes eine Aberkennung des subsidiären Schutzes erfolgt sei. Der BF würde durch eine Rückkehrentscheidung auch in seinen Rechten nach Art. 8 EMRK verletzt werden. Im Fall des BF wäre zu erkennen gewesen, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und ihm eine Karte für Geduldete gemäß § 46a FPG auszustellen gewesen. Die Behörde habe bei der Bemessung des Einreiseverbotes zudem keine Abwägung vorgenommen und pauschal die Höchstdauer erlassen. Eine individualisierte Gefährlichkeitsprognose sei ebenfalls nicht erstellt worden.
14. Mit Beschluss vom 17.04.2018, XXXX , wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
15. Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX , XXXX , vom 06.06.2018, rechtskräftig 16.10.2018, wurde der BF gemäß § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.
16. Mit Schriftsatz des BF vom 17.09.2018 wurde auf das EuGH Urteil in der Rechtssache C-369/17 vom 13.09.2018 verwiesen, wo erkannt wurde, dass das ausschließliche Abstellen auf den nationalen Strafrahmen bei der Beurteilung, ob eine schwere Straftat im Sinne der Richtlinie 2011/95 vorliege, nicht ausreichend und daher nicht unionsrechtskonform sei. Es habe vielmehr eine Einzelfall-Prüfung stattzufinden, ob die betroffene Person eine Straftat begangen habe, die so schwer sei, dass sie zur Zurückweisung seines Antrages auf interanatonalen Schutz führen müsse.
17. Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX , XXXX , vom 11.01.2021, rechtskräftig 23.02.2021, wurde der BF gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 1. und 2. Fall und Abs. 2 SMG zu einer Geldstrafe in der Höhe von 90 Tagessätzen à EUR 4,00, für den Uneinbringlichkeitsfall zu einer Ersatzfreiheitsstrafe in der Höhe von 45 Tagen, verurteilt.
18. Mit Schreiben vom 16.09.2021 teilte der leitende Anstaltsarzt der JA XXXX mit, dass der BF im Zeitraum 09.10.2019 bis 09.01.2020 sieben allgemein- und fachärztlich medizinische Kontakte gehabt habe, im Zuge derer auch ein Lungenröntgen durchgeführt worden sei, bei dem eine diskrete Pleurakuppenschwiele rechts, allerdings sonst ein unauffälliger Befund erhoben worden sei.
19. Am 12.10.2021 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt. Im Rahmen der Verhandlung legte der BF vor:
? Lohnzettel vom 14.04. – 29.04.2021, Dezember 2020, November 2020, September 2020 und August 2020
? 4 Fotos (A und B sollen den Vater darstellen, C und D einen Militärausweis)
20. Mit Dokumentenvorlage vom 15.10.2021 legte der BF vier Fotos von Medikamenten vor, nämlich ArthoComb 75mg/20mg und Risperdal 2mg.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person des BF:
Der volljährige BF ist afghanischer Staatsangehöriger und führt das Geburtsdatum XXXX . Er gehört der Volksgruppe der Sajed, einer Untergruppierung der Hazara, an und bekennt sich zum schiitischen Islam. Er wurde in der Provinz Baghlan, im Dorf XXXX geboren und lebte dort elf Jahre lang. Er verbrachte danach drei Jahre im Iran. Der BF hat keine Verwandten oder sonstige Anknüpfungspunkte in Afghanistan und weiß nicht, wo sich seine Eltern und sein jüngerer Bruder aufhalten.
Der BF besuchte in Afghanistan keine Schule und arbeitete als Schweißer. Seine Muttersprache ist Dari.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 08.07.2013 wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine Aufenthaltsberechtigung erteilt, die zuletzt mit Bescheid des BFA vom 10.09.2014 bis zum 08.07.2016 verlängert wurde. Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde dem BF wegen seiner damaligen Minderjährigkeit und der Krebserkrankung und den nicht gesicherten Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsstaat erteilt.
Mit Bescheid des BFA vom 14.03.2018 wurde dem BF der ihm zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG aberkannt, sein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung abgewiesen, eine Rückkehrentscheidung erlassen, kein Aufenthaltstitel erteilt, festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist und sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 26.06.2015 verloren hat, ein auf zehn Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung aberkannt und keine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
Der BF leidet an keinen lebensbedrohenden oder schwerwiegenden Erkrankungen. 2012 wurde bei ihm eine Krebserkrankung, diffuses großzelliges B-Zell Lymphom, festgestellt und befand er sich deswegen in medizinischer Behandlung. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus am 25.09.2012 im guten Allgemeinzustand, war der BF nicht mehr wegen seiner Krebserkrankung in Behandlung. Im Zuge von medizinischen Untersuchungen in der JA XXXX und der JA XXXX wurde keine Krebserkrankung beim BF festgestellt. Vom BF wurden diesbezüglich auch keine Befunde vorgelegt. Der BF brachte vor, die Medikamente ArthroComb 75mg/20mg und Risperdal 2mg einzunehmen, entsprechende Rezepte legte er nicht vor.
Er ist arbeitsfähig.
Der BF ist in einer afghanischen Familie aufgewachsen und kennt daher die afghanischen Gepflogenheiten.
Der BF wurde in Österreich fünfmal strafgerichtlich verurteilt:
Die erste Verurteilung erfolgte am 22.06.2015 durch das Landesgericht für Strafsachen XXXX , XXXX . Der BF hat am 31.05.2014 (A) mit Gewalt gegen eine Person und durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben unter Verwendung einer Waffe einem anderen eine fremde bewegliche Sache, nämlich Bargeld und Marihuana, mit dem Vorsatz, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, abzunötigen versucht, indem er sich vor dem Opfer aufstellte, eine ca. 3,8 cm lange Klinge eines Stanleymesser zückte, diese dem Opfer an die linke Halsseite hielt und äußerte „Give me Joint!“, wodurch dieser zwei ca. 1 cm lange Schnittwunden am Hals erlitt und die und die Klinge vor dem Gesicht des Opfers hin und her bewegte, und als dieser die Flucht ergriff, hinter ihm herlief; (B) I. gemeinsam mit einem abgesondert Verfolgten am 26.02.2014 im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter anderen gewerbsmäßig vorschriftswidrig Suchtgift überlassen, nämlich 3 Portionssäckchen Marihuana zu insgesamt 3,8 Gramm brutto zu einem Kaufpreis von EUR 50,00 und II. alleine anderen gewerbsmäßig vorschriftswidrig Suchtgift überlassen, nämlich Marihuana zwischen Anfang November 2014 und 20.02.2015 insgesamt 300 Gramm um einen Grammpreis von EUR 5,00 und an nicht mehr feststellbare Abnehmer eine nicht mehr feststellbare Menge Marihuana. Er hat hierdurch das Verbrechen des versuchten schweren Raubes nach den §§ 15, 142 Abs. 1, 143 2. Fall StGB und das Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall und Abs. 3 SMG begangen und wurde zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt, wovon 16 Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden. Als mildernd wurde der bisher ordentliche Lebenswandel, das Alter unter 21 Jahren, die Alkoholisierung und das teilweise Geständnis gewertet, als erschwerend das Zusammentreffen von zwei Vergehen mit einem Verbrechen.
Die zweite Verurteilung erfolgte am 17.0.2015 durch das Landesgericht für Strafsachen XXXX , XXXX . Der BF hat am 20.02.2015 in XXXX im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter vorschriftswidrig Suchtgift in der Grenzmenge übersteigenden Menge, nämlich 1.637,6 Gramm Cannabiskraut eingeführt, indem XXXX nur das Fahrzeug lenkte, in dessen Mulde im Reserverad das Suchtgift paketiert in zwei Plastiksäckchen versteckt war und XXXX und der BF im Begleitfahrzeug mitfuhren. Er hat hierdurch das Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 SMG begangen und wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten, wovon acht Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden. Als mildernd wurden die bisherige Unbescholtenheit und das Alter unter 21 Jahren gewertet. Erschwerend war kein Umstand.
Die dritte Verurteilung erfolgte am 08.06.2017 durch das Landesgericht für Strafsachen XXXX , XXXX . Der BF hat sich am 24.03.2017 in XXXX , wenn auch nur fahrlässig, durch den Genuss von Alkohol in einen die Zurechnungsunfähigkeit ausschließenden Rausch versetzt und im Rausch (A) zwei Beamte mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich seiner Fixierung, zu hindern versucht, indem er gezielte Fußtritte gegen den Körper eines der Beamten setzte und den Waffengurt an sich riss, sowie (B) durch die unter A angeführte strafbare Handlung einen Beamten während der Vollziehung seiner Aufgaben und wegen der Erfüllung seiner Pflichten, am Körper verletzt, wodurch dieser eine Schürfwunde am Finger erlitt, somit Handlungen begangen, die ihm außerhalb dieses Zustandes zu (A) als das Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 3. Fall StGB und zu (B) das Vergehen der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 2 StGB zugerechnet würden. Er hat hierdurch das Vergehen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung nach § 287 Abs. 1 StGB begangen und wurde zu einer unbedingten achtmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Als mildernd wurden das reumütige Geständnis und dass es teilweise beim Versucht geblieben ist gewertet. Erschwerend waren die einschlägige Vorstrafe und die Begehung innerhalb mehrerer offener Probezeiten.
Die vierte Verurteilung erfolgte am 06.06.2018 durch das Bezirksgericht XXXX , XXXX . Der BF hat am 22.07.2017 in XXXX im bewussten und gewollten Zusammenwirken auf XXXX eingeschlagen, wodurch Genannter eine Kopfprellung, eine Rissquetschwunde am Scheitelbein und an der Wange, eine Prellung mit Bluterguss des linken Daumenballens, einen Bluterguss mit Hautabschürfungen am rechten Brustmuskel sowie einen Bluterguss am Rücken im Bereich der 5. bis 8. Rippe erlitt. Der BF hat hierdurch das Vergehen der Körperverletzung nach dem § 83 Abs. 1 StGB begangen und wurde zu einer unbedingten Freiheitstrafe von drei Monaten verurteilt. Als mildernd wurde kein Umstand gewertet, erschwerend waren die drei einschlägigen Vorstrafen und der rasche Rückfall.
Die fünfte Verurteilung erfolgte am 11.01.2021 durch das Bezirksgericht XXXX , XXXX . Der BF hat am 03.11.2018 in XXXX den bestehenden Vorschriften zuwider Suchtgift, nämlich 4,1 Gramm brutto Cannabiskraut erworben und besessen, wobei er die Straftat ausschließlich zum persönlichen Gebrauch beging. Der BF hat hierdurch das Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 1. und 2. Fall und Abs. 2 SMG begangen und wurde zu einer Geldstrafe in der Höhe von 90 Tagessätzen zu je EUR 4,00 und für den Fall der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe in der Höhe von 45 Tagen verurteilt. Mildernd war das Geständnis, erschwerend die zwei einschlägigen Vorstrafen. Nach §§ 35 Abs. 1 iVm 37 SMG konnte nicht vorgegangen werden, weil der BF zweimal den Termin zur Gesundenuntersuchung der Magistratsabteilung 40 als Gesundheitsbehörde unentschuldigt nicht wahrgenommen hat.
Der BF befand sich während seines Aufenthalts in Österreich von 21.02.2015 bis 20.10.2015, von 04.10.2017 bis 03.10.2018 und zuletzt von 09.10.2019 bis 09.01.2020 in Haft, insgesamt also 23 Monate.
Der BF hat in Österreich als Bauhilfsarbeiter und als Küchenhilfe gearbeitet, bezog aber auch Leistungen vom AMS und der Grundversorgung. Derzeit geht er keiner Erwerbstätigkeit oder einer ehrenamtlichen Tätigkeit nach. Er ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er besuchte einen Deutschkurs A1 und spricht Deutsch. Mitglied eines Vereins ist er nicht und hat er auch keine intensiven sozialen Kontakte zu anderen Österreichern oder Verwandte in Österreich. Der BF ist ledig und hat keine Sorgepflichten.
1.2. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat:
Die Umstände für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes liegen nicht mehr vor. Wie oben festgestellt, ist der BF gesund, leidet an keinerlei lebensbedrohenden Krankheiten und seit 25.09.2012 nicht mehr wegen seiner Krebserkrankung in Behandlung. Der BF ist mittlerweile auch volljährig.
Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des BF und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, hat sich die Lage seit Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht wesentlich und nachhaltig verbessert.
Dem Beschwerdeführer ist eine Rückkehr nach Afghanistan nicht möglich. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan drastisch verändert. Es kam zu verstärkten Kampfhandlungen zwischen den Taliban und Regierungstruppen in ganz Afghanistan, welche derzeit beendet sind und einzelne Kämpfe stattfinden. Derzeit erfolgen vermehrt Anschläge durch unbekannte Gruppierungen.
Aktuell kontrollieren die Taliban das gesamte Land und es kommt zu schwerwiegenden Übergriffen von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen sowie Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen und grobe Menschenrechtsverletzungen umfassen.
Dem Beschwerdeführer würde daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan oder einer Neuansiedelung in größeren Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif aufgrund der derzeit herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und Versorgungslage und der Machtübernahme der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr drohen, durch Übergriffe von den Taliban gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.
Weiters droht dem BF aufgrund der derzeitigen wirtschaftlichen Lage in maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass er in eine aussichtslose bzw. existenzbedrohende Notlage gerät und nicht in der Lage ist sich ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befrieden zu können. Dem BF würde bei seiner Rückkehr in eine dieser Städte ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Etwaige Rückkehrhilfen oder Unterstützung im Land reichen derzeit nicht aus, bzw. kann nicht festgestellt werden, dass dem BF im Land durch andere familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte Hilfe gewährt wird. Der Umfang der derzeitigen Hilfsprogramme ist nicht bekannt bzw. teilweise eingestellt.
Es ist dem BF nicht möglich in seiner Provinz Baghlan oder in den Städten wie Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Coronapandemie in Afghanistan, mit Stand 22.10.2021 (Tag der Entscheidung), kein Rückkehrhindernis darstellt.
Der BF leidet an keinen lebensbedrohenden Erkrankungen. Da bei ihm insbesondere keine aktive Krebserkrankung vorliegt, gehört er auch keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht deswegen keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan an Corona erkranken würde oder dass eine Erkrankung einen schwerwiegenden oder tödlichen Verlauf bzw. den Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus nach sich ziehen würde
Aufgrund der derzeitigen unklaren wirtschaftlichen Lage kann nicht festgestellt werden, dass der BF in der Lage ist sich medizinisch versorgen zu lassen bzw. eine Gesundheitseinrichtung aufzusuchen.
1.4. Die allgemeine Lage in Afghanistan stellt sich im Übrigen wie folgt dar:
Länderinformation der Staatendokumentation zur Russischen Föderation aus dem COI-CMS (Country of Origin Information-Content Management System) vom 16.09.2021-Version 5:
Covid-19
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-Pandemie, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.
Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.
Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichterstellung (9.2021) wiedergeben. Es ist zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.
Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.
Machtübernahme der Taliban im August 2021
Im Zuge der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 mussten die hier vorliegenden Länderinformationen komplett überarbeitet werden. Im Vergleich zur letzten veröffentlichten Version vom Juni 2021 wurden mehrere Kapitel entfernt und ein Großteil der verbliebenen Kapitel adaptiert. Kapitel oder Themengebiete über die noch keine validen Informationen zur Verfügung stehen (z.B.: "Sicherheitsbehörden" unter der neuen Talibanregierung) wurden mit einem entsprechenden Vermerk versehen.
Es sei auch darauf hingewiesen, dass die aktuelle Lage von einer nicht absehbaren Dynamik und plötzlichen und abrupten Veränderungen gekennzeichnet ist, womit manche Informationen sehr rasch veralten können. Die Staatendokumentation des BFA wird darauf, wie gehabt, mit einem Update der Länderinformationen im COI-CMS oder einer Kurzinformation (KI) reagieren.
Weitere Produkte der Staatendokumentation zu Afghanistan
? STDOK - Staatendokumentation des BFA [Rasuly-Paleczek Gabriele - Österreich] (10.2020): Die aktuelle sozioökonomische Lage in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038971/AFGH_THEM_Die+aktuelle+sozio%C3%B6konomische+Lage+in+Afghanistan+%28Rasuly-Paleczek%29_2020-09.pdf
? STDOK - Staatendokumentation des BFA [Heugl, Katharina- Österreich] (21.7.2020): Informationen zu sozioökonomischen und sicherheitsrelevanten Faktoren in der Provinz Balkh auf Basis von Interviews im Rahmen der FFM Mazar-e Sharif 2019, https://www.ecoi.net/en/document/2034796.html
? STDOK - Staatendokumentation des BFA [Tschabuschnig, Florian- Österreich] (14.7.2020): Afghanistan: IOM-Reintegrationsprojekt Restart III, https://www.ecoi.net/en/document/2033512.html
? STDOK - Staatendokumentation des BFA [Latek, Dina- Österreich] (25.6.2020): Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2032976.html
? STDOK - Staatendokumentation des BFA [Durante, Xenia- Österreich] (13.6.2019): Analyse der Staatendokumentation: Afghanistan - Informationen zu sozioökonomischen Faktoren in der Provinz Herat auf Basis von Interviews im Zeitraum November 2018 bis Jänner 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2010507/AFGH_ANALYSE_Herat_2019_06_13.pdf
? STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (4.2018) : Fact Finding Mission Report Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1430912/5818_1524829439_03-onlineversion.pdf
? STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (7.2016): AfPak - Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, https://www.ecoi.net/en/file/local/1236701/90_1470057716_afgh-stammes-und-clanstruktur-onlineversion-2016-07.pdf
? STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (3.7.2014): Frauen in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1216171/4236_1415347452_analy-afgh-frauen-in-afghanistan-2014-02-07-as.doc
COVID-19
Letzte Änderung: 16.09.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban
Letzte Änderung: 16.09.2021
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).
Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).
Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).
Abzug der Internationalen Truppen
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte