Entscheidungsdatum
27.10.2021Norm
AsylG 2005 §55Spruch
L519 2231865-1/24E
Schriftliche Ausfertigung des am 23.08.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. ZOPF über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.04.2020, Zl. XXXX , betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 FPG, Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes in der Dauer von 10 Jahren, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 23.08.2021 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge als BF bezeichnet), ein Staatsangehöriger der Türkei, wurde am XXXX in XXXX geboren und verfügt über keinen gültigen Aufenthaltstitel.
I.2. Vom BG XXXX wurde der BF am 21.03.2001, rk. 27.03.2001, Zl. 15 U XXXX , wegen § 229 Abs. 1 zu einer Geldstrafe von 120 TS zu ATS 400,- (ATS 48.000,-), bedingt, Probezeit 3 Jahre, verurteilt.
I.3. Vom BG XXXX wurde der BF am 08.05.2001, rk. 12.12.2001, Zl. 16 U XXXX , wegen § 89 StGB zu einer Geldstrafe von 25 TS zu ATS 80,- (ATS 2.000,-), bedingt, Probezeit 3 Jahre verurteilt.
I.4. Vom LG XXXX wurde der BF am 18.02.2002, rk. 22.02.2002, Zl. 20 HV XXXX , wegen §§ 127, 128 Abs. 1 Z 4, 129 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten, bedingt, Probezeit 3 Jahre und einer Geldstrafe von € 200 TS zu je € 8,- (€ 1.600,-), im NEF 100 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.
I.5. Vom LG XXXX wurde der BF am 18.07.2002, rk. 23.07.2002, Zl. 39 HV XXXX , wegen §§ 127, 128 Abs. 1 Z4 und 129 Abs. 1, 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.
I.6. Vom BG XXXX wurde der BF am 23.04.2003, rk. 29.04.2003, Zl. 15 U XXXX , wegen §§ 27 Abs. 1 SMG und 229 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 200 TS zu je € 10,- (€ 2.000,-), im NEF 100 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.
I.7. Vom LG XXXX wurde der BF am 15.01.2004, Zl. 20 HV XXXX , rechtskräftig wegen §§ 105, 106 Abs. 1 Z 1, 229 und 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt.
I.8. Vom LG XXXX wurde der BF am 25.02.2005, rk. 01.03.2005, Zl. 39 HV XXXX , wegen §§ 127, 128 Abs. 1 Z 4, 129 Abs. 1, 130 Abs. 1 4.Fall, und 15/12 3.Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten verurteilt.
I.9. Vom LG XXXX wurde der BF am 24.06.2008, rk. 01.07.2008, Zl. 24 HV XXXX , wegen §§ 15 127, 128 Abs. 1 Z 4, 130, 15, 241e Abs. 3 und 15 229 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt.
I.10. Der BF verbüßte vom 19.10.2004 bis zum 31.10.2006 und vom 15.04.2008 bis zum 26.08.2010 Haftstrafen.
I.11. Aufgrund der massiven Straffälligkeit wurde gegen den BF von der BH XXXX , Zl. 804-6/353-711/1/1-2006, ein zehnjähriges Aufenthaltsverbot erlassen, welches am 06.11.2008 in 2. Instanz rechtskräftig wurde.
I.12. Vom BF wurde am 28.09.2010 ein Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes gestellt. Der Antrag wurde mit Bescheid der BH XXXX vom 22.10.2010, BHFK-III-1300.26-2008/2009 abgewiesen.
I.13. Vom LG XXXX wurde der BF am 16.12.2010, rk. 26.01.2011, Zl. 23 HV XXXX , wegen §§ 127, 130 1.Fall, 229 Abs. 1 und 241e Abs. 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
I.14. Vom LG XXXX wurde der BF am 30.08.2011, rk. 02.09.2011, Zl. 24 HV XXXX , wegen §§ 127, 128 Abs. 1 Z 4, 129 Abs. 1 und 2, 130 4.Fall und 15 229 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt.
I.15. Vom LG XXXX wurde der BF am 20.03.2012, rk. 24.03.2012, Zl. 21 HV XXXX , wegen §§ 127, 129 Z 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
I.16. Vom BG XXXX wurde der BF am 16.05.2012, rk. 21.05.2012, Zl. 015 U XXXX , wegen § 127 StGB zu keiner Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 StGB unter Bedachtnahme auf LG XXXX 021 HV XXXX , verurteilt.
I.17. Vom BG XXXX wurde der BF am 26.03.2013, rk. 29.03.2013, Zl. 002 U XXXX , wegen § 83 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.
I.18. Vom BG XXXX wurde der BF am 15.05.2017, rk. 18.05.2017, Zl. 001 U XXXX , wegen § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt.
I.19. Am 14.11.2017 stellte der BF einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG.
I.20. Vom LG XXXX wurde der BF am 22.01.2018, rk. 23.01.2018, Zl. 023 HV XXXX , wegen §§ 229 Abs. 1, 127, 129 Abs. 1 Z 1, 130 Abs. 1, 241e Abs. 3 und Abs. 1 1.Fall StGB, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
I.21. Der BF befand sich vom 18.11.2010 bis zum 04.04.2011, vom 14.11.2011 bis zum 25.10.2017 und vom 30.11.2017 bis zum 28.11.2019 erneut in Strafhaft. Seit 07.10.2020 verbüßt der BF in der JA XXXX eine weitere Haftstrafe, welche voraussichtlich am 28.11.2022 endet.
I.22. Am 23.09.2019 wurde der BF in der Justizanstalt vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich seines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels bzw. zur beabsichtigten Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme niederschriftlich einvernommen. Dabei führte er aus, dass er nicht mehr arbeiten könne und eine Invalidenpension erhalte. Er erwarte noch eine letzte Chance, er möchte eine Arbeitserlaubnis und eine Aufenthaltsgenehmigung. In der Türkei würde er keinen haben und sich nicht zurechtfinden.
I.23. Mit Eingabe vom 04.12.2019 übermittelte der BF eine Stellungnahme und einen Nachweis über seine Substitutionsbehandlung.
I.24. Vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wurde am 06.12.2019 die ehemalige Lebensgefährtin und Mutter des gemeinsamen Kindes hinsichtlich eines allfenfalls zu berücksichtigungswürdigen Privat- und Familienlebens einvernommen.
I.25. Die Mutter des BF wurde am 10.12.2019 als weitere Zeugin vom Bundesamt einvernommen.
I.26. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes wurde der Antrag des BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK gemäß § 55 FPG 2005 iVm § 9 BFA-VG abgewiesen (Spruchpunkt I.), eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 3 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt II.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des BF in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.) Weiter wurde keine Frist für eine freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt IV.), einer Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.) und wider den BF ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.)
Begründend führte das Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen aus, dass das öffentliche Interesse an der Außerlandesbringung des BF dessen private Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegt. Aufgrund der massiven Straffälligkeit stelle der BF eine gegenwärtige, tatsächliche und erhebliche Gefahr dar, insgesamt sei er 15 Mal rechtskräftig verurteilt worden. Aus diesem Grund erscheint auch das Einreiseverbot in der Dauer von zehn Jahren als angemessen.
I.27. Mit Verfahrensanordnung vom 27.04.2020 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig eine Rechtsberatungsorganisation für das Beschwerdeverfahren beigegeben und der BF aufgefordert, ein verpflichtendes Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
I.28. Gegen den am 20.05.2020 zugestellten Bescheid des Bundesamtes wurde vom BF fristgerecht Beschwerde erhoben.
In dieser wird moniert, dass der BF annähernd 40 Jahre in Österreich aufhältig sei. So wäre auch das seinerzeitige Aufenthaltsverbot von der BH XXXX am 06.02.2013 aufgehoben worden. Aufgrund des Verschlechterungsverbotes ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung unzulässig. Der BF hätte im Bundesgebiet die Schule besucht und sei in verschiedenen Unternehmen berufstätig gewesen. Zudem sei er suchtkrank und befinde sich in einem Substitutionsprogramm. Auch werde die Bestellung eines Erwachsenenvertreters angeregt. Der BF ist Vater eines unmündigen Sohnes, hat in der Türkei keine Verwandten und ist mit der dortigen Kultur nicht vertraut. Verwiesen wird noch auf das Recht auf Familieneinheit und Berücksichtigung des Kindeswohls.
Jedenfalls werde beantragt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und der Beschwere Folge zu geben und den Bescheid zu beheben. Gleichzeitig wird beantragt, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Das Verfahren wäre seit 2017 anhängig und erweise sich deswegen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung als mutwillig. Auch aufgrund der COVID-19 Situation wäre die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung willkürlich.
I.29. Am 09.06.2020 wurde von der StA XXXX gegen den BF Anklage wegen §§ 127, 129 (1) Z 2, 130 (1) 1. Fall StGB § 241e (3) StGB § 229 (1) StGB erhoben.
I.30. Mit Beschluss des BVwG vom 19.06.2020, L519 2231865-1/5Z, wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
I.31. Mit Abschlussbericht der LPD Vorarlberg wurde der BF am 22.06.2020 der StA XXXX wegen Verdacht des Diebstahles nach § 127 StGB zur Anzeige gebracht.
I.32. Mit Schreiben vom 01.07.2020 wurde das BG XXXX ersucht, zu prüfen, ob der BF einen Erwachsenenvertreter, insbesondere zur Abwicklung seines fremdenrechtlichen Verfahrens, benötigt.
I.33. Mit Urteil des LG XXXX vom 12.08.2020, Zl. 23 HV XXXX , wurde der BF wegen §§ 15 84 Abs. 4, 83 Abs. 1, 127, 129 Abs. 1 Z 1, 241e Abs. 3 und 229 Abs. 1 zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt.
I.34. Mit Beschluss des BG XXXX vom 21.01.2021, 10 P XXXX wurde das Verfahren, in dem die Notwendigkeit eines Erwachsenenvertreters für den BF geprüft wurde, eingestellt.
I.35. Am 28.05.2021 wurde das BG XXXX vom BVwG um Prüfung ersucht, ob der BF für die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht einer gerichtlichen Erwachsenenvertretung bedarf.
I.36. Vom BG XXXX wurde am 07.06.2021, Zl. 10 P XXXX , mitgeteilt, dass die Vertretung des BF durch Rechtsanwalt Dr. Weh im fremdenrechtlichen Verfahren aus erwachsenenschutzrechtlicher Sicht als ausreichend angesehen wird.
I.37. Am 18.08.2021 langte die von der JA XXXX angeforderte Besucherliste beim BVwG ein.
I.38. Am 23.08.2021 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung und der Zeugin XXXX durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, seinen Standpunkt umfassend darzulegen.
Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurde das gegenständliche Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen mündlich verkündet und seitens des Beschwerdeführers mit Eingabe vom 23.08.2021 die Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses beantragt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
I.1. Feststellungen:
I.1.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen, er ist Staatsangehöriger der Türkei und somit Drittstaatsangehöriger. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in XXXX geboren. Er besuchte dort die Volksschule und die Sonderschule. Der BF ist ledig.
Der BF hat einen minderjährigen Sohn, XXXX , am XXXX geboren. Der Sohn wohnt bei seiner Mutter, XXXX . Zum Sohn und dessen Mutter hat der BF seit Jahren keinen Kontakt, es besteht kein Besuchsrecht und kommt er auch nicht für den Unterhalt auf.
Der Beschwerdeführer ist Moslem.
Laut ärztlichem Attest des Dr. XXXX , Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, vom 05.02.2020 befindet sich der BF seit 2002 in einem Substitutionsprogramm. Dabei erhält er 80mg Methadon und Benzodiazepine. Der BF gehört nicht zur COVID-19 Risikogruppe.
I.1.2. Der Beschwerdeführer ist nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels. Von der BH XXXX wurde unter der Zahl 804-6/353-711/1/1-2006 gegen den BF ein zehnjähriges Aufenthaltsverbot erlassen, welches am 06.11.2008 in 2. Instanz rechtskräftig wurde. Dem Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes wurde am 06.02.2013 von der BH XXXX entsprochen.
Der Beschwerdeführer stellte keinen Antrag auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft.
I.1.3. Der Beschwerdeführer ging zuletzt vom 20.09.2010 bis zum 12.11.2010 einer legalen Erwerbstätigkeit nach.
I.1.4. Im Bundesgebiet leben die Eltern des BF. In der Türkei sind noch die Großmutter mütterlicherseits und ein Onkel väterlicherseits aufhältig. Die Mutter des BF hat in XXXX eine Drei-Zimmer-Wohnung.
Der Beschwerdeführer spricht Deutsch und Türkisch.
Ein vereinsmäßiges Engagement des Beschwerdeführers ist nicht feststellbar.
I.1.6. Der Beschwerdeführer verfügt in seinem Herkunftsstaat über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in Izmir.
I.1.7. Der Beschwerdeführer verfügt über ein türkisches Reisedokument im Original.
I.1.8. Der BF wurde im Bundesgebiet bis dato 16 Mal rechtkräftig verurteilt:
Vom BG XXXX am 21.03.2001, rk. 27.03.2001, Zl. 15 U XXXX , wegen § 229 Abs. 1 zu einer Geldstrafe von 120 TS zu ATS 400,- (ATS 48.000,-), bedingt, Probezeit 3 Jahre, verurteilt.
Vom BG XXXX am 08.05.2001, rk. 12.12.2001, Zl. 16 U XXXX , wegen § 89 StGB zu einer Geldstrafe von 25 TS zu ATS 80,- (ATS 2.000,-), bedingt, Probezeit 3 Jahre verurteilt.
Vom LG XXXX am 18.02.2002, rk. 22.02.2002, Zl. 20 HV XXXX , wegen §§ 127, 128 Abs. 1 Z 4, 129 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten, bedingt, Probezeit 3 Jahre und einer Geldstrafe von € 200 TS zu je € 8,- (€ 1.600,-), im NEF 100 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.
Vom LG XXXX am 18.07.2002, rk. 23.07.2002, Zl. 39 HV XXXX , wegen §§ 127, 128 Abs 1 Z4 und 129 Abs 1, 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.
Vom BG XXXX am 23.04.2003, rk. 29.04.2003, Zl. 15 U XXXX , wegen §§ 27 Abs 1 SMG und 229 Abs 1 StGB zu einer Geldstrafe von 200 TS zu je € 10,- (€ 2.000,-), im NEF 100 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.
Vom LG XXXX am 15.01.2004, Zl. 20 HV XXXX , rechtskräftig wegen §§ 105, 106 Abs 1 Z 1, 229 und 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt.
Vom LG XXXX am 25.02.2005, rk. 01.03.2005, Zl. 39 HV XXXX , wegen §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 129 Abs 1, 130 Abs 1 4.Fall, und 15/12 3.Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten verurteilt.
Vom LG XXXX am 24.06.2008, rk. 01.07.2008, Zl. 24 HV XXXX , wegen §§ 15 127, 128 Abs 1 Z 4, 130, 15 241e Abs 3 und 15 229 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt.
Vom LG XXXX am 16.12.2010, rk. 26.01.2011, Zl. 23 HV XXXX , wegen §§ 127, 130 1.Fall, 229 Abs 1 und 241e Abs 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Vom LG XXXX am 30.08.2011, rk. 02.09.2011, Zl. 24 HV XXXX , wegen §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 129 Abs 1 und 2, 130 4.Fall und 15 229 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt.
Vom LG XXXX am 20.03.2012, rk. 24.03.2012, Zl. 21 HV XXXX , wegen §§ 127, 129 Z 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
Vom BG XXXX am 16.05.2012, rk. 21.05.2012, Zl. 015 U XXXX , wegen § 127 StGB zu keiner Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 StGB unter Bedachtnahme auf LG XXXX 021 HV XXXX , verurteilt.
Vom BG XXXX am 26.03.2013, rk. 29.03.2013, Zl. 002 U XXXX , wegen § 83 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.
Vom BG XXXX am 15.05.2017, rk. 18.05.2017, Zl. 001 U XXXX , wegen § 83 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt.
Vom LG XXXX am 22.01.2018, rk. 23.01.2018, Zl. 023 HV XXXX , wegen §§ 229 Abs 1, 127, 129 Abs 1 Z 1, 130 Abs 1, 241e Abs 3 und Abs 1 1.Fall StGB, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
Vom LG XXXX am 09.07.2020, Zl. 23 HV XXXX , wegen §§ 15 84 Abs 4, 83 Abs 1, 127, 129 Abs 1 Z 1, 241e Abs 3 und 229 Abs 1 zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren.
I.1.9. Der BF befindet sich seit 07.10.2020 in Strafhaft in der JA XXXX . Das voraussichtliche Haftende ist am 28.11.2022.
I.1.10. Zur aktuellen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer vollständig offengelegten Quellen getroffen:
COVID-19
Letzte Änderung: 16.05.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vgl. DS 11.3.2020). Nach den ersten vier Monaten des Jahres 2021 verzeichnete das Land 40.000 Corona-Tote bei offiziell annähernd 4,9 Mio. Infizierten. Bis Jahresende 2020 waren es rund 2,2 Mio Fälle und cirka 21.000 Tote. Das heißt innert der ersten vier Monate des Jahres 2021 haben sich beide Werte fast verdoppelt (JHU 3.5.2021). Mit Stand 5.5.2021 waren laut Angaben des Gesundheitsministeriums 14,25 Mio. Menschen, bei einer Bevölkerung von 85 Mio., mit einer ersten Dosis des Impfstoffs geimpft, während 9,82 Millionen eine zweite Dosis erhalten haben. Somit waren offiziell 25% der Einwohner zumindest einmal geimpft (Ahval 5.5.2021).
Am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca, dass nunmehr alle positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik aufgenommen werden. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020).
Beginnend mit 1.12.2020 war ein Lockdown in Kraft getreten, welcher u.a. unter der Woche eine nächtliche und an den Wochenenden eine totale Ausgangssperre vorsah. Eingeführt wurde der sogenannte HES (Hayat Eve Sigar) - Code, ein behördlich verliehener elektronischer Schlüssel, mittels welchem der momentane Status der jeweiligen Person in Hinblick auf Corona verfolgt und überprüft werden kann. Er dient z.B. als Zutrittsvoraussetzung zu Ämtern oder eben Einkaufszentren (WKO 21.1.2021).
Nachdem es durch strenge Maßnahmen gelang, die zweite Corona-Welle im Jänner etwas unter Kontrolle zu bringen, folgten ab 1.3.2021 Lockerungen, die die Regierung als "Normalisierungsprozess" bezeichnete (DW 3.4.2021). Davon abgesehen, ermächtigte die Regierung die Provinzbehörden, lokale Quarantänen und Ausgangssperren auf der Grundlage von epidemiologischen Daten zu verhängen (Garda World 1.3.2021). Doch seit den Lockerungen stiegen die Corona-Infektionen explosionsartig. Opposition und Ärzte gaben der Regierung die Schuld, wonach letztere mehrfach fahrlässig gehandelt hätte. Besonders der Türkische Ärztebund (TTB) rüttelte stets an der Glaubwürdigkeit der türkischen Regierung und ihrem Corona-Krisenmanagement (DW 3.4.2021). Der TTB verlangte Ende März 2021 angesichts der rasant steigenden Fallzahlen, u.a. die Mobilität auf stark frequentierten Straßen in den Städten ebenso einzuschränken wie Massenkontakte zwischen Menschen in geschlossenen Räumen. Zudem forderte der Ärzteverband von der Regierung mehr Transparenz hinsichtlich der COVID-19-Zahlen, des Impfprogramms sowie der Anwendung der Klassifizierungskritierien für die Provinzen (Reuters 26.3.2021).
Am 13.4.2021 wurde zunächst ein Teil-Lockdown wieder eingeführt, welcher eine verlängerte abendliche Ausgangssperre an Wochentagen, eine Rückkehr zum Online-Unterricht und ein Verbot von unnötigen Überlandfahrten beinhaltete (AP 18.4.2021). Die Bewohner mussten während der Ausgangssperre in ihren Häusern bleiben, außer zwecks Verrichtung einer wichtigen Arbeit oder aus dringenden medizinischen Gründen. Alle Veranstaltungen wie Hochzeiten und persönliche Feiern wurden bis zum 12.5.2021 ausgesetzt (Garda World 13.4.2021). Angesichts von täglichen Fallzahlen von über 60.000 bei über 300 Toten wurde überdies eine Ausgangssperre am Wochenende in Risikostädten, wie Istanbul oder Ankara, verhängt (Ahval 21.4.2021). Zuvor hatte Präsident Erdo?an auch wieder Wochenendsperren verhängt und die Schließung von Restaurants und Cafés während des heiligen muslimischen Monats Ramadan angeordnet (AP 18.4.2021).
Angesichts der steigenden Fall- und Todeszahlen wurde am 26.4.2021 ein fast dreiwöchiger verschärfter Lockdown, beginnend mit 29.4.2021, verkündet (AP 27.4.2021). Bis 17.5.2021 besteht (bestand) landesweit ein generelles Ausgangsverbot. Nebst Mindestabstand gilt an allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, Maskenpflicht. Einkäufe dürfen nur montags bis samstags von 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr in Gehnähe und zu Fuß, nicht mit dem PKW, durchgeführt werden. Gastronomische Stätten haben nur für Lieferservice geöffnet. Einzelhandel, körpernahe Berufe ebenso wie Kinos, Bäder etc, bleiben geschlossen. Versammlungen und Hochzeiten sind verboten. Schulen und Kindergärten bleiben für den Präsenzunterricht geschlossen (WKÖ 27.4.2021; vgl. Garda World 27.4.2021). Allerdings wurden Millionen von Menschen von diesem ersten landesweiten Lockddown ausgenommen. Dazu gehörten neben Mitarbeitern des Gesundheitssektors und Vollzugsbeamten auch Fabrik- und Landwirtschaftsarbeiter sowie Mitarbeiter von Lieferketten und Logistikunternehmen. Auch Touristen waren ausgenommen. Schätzungen gingen davon aus, dass bis zu 16 Mio. der 84 Mio. Einwohner während des Lockdowns trotzdem unterwegs sein würden (AP 30.4.2021).
Quellen:
? Ahval (5.5.2021): Turkey close to achieving ‘mass immunity’ against COVID-19 – official, https://ahvalnews.com/turkey-covid-19/turkey-close-achieving-mass-immunity-against-covid-19-official, Zugriff 5.5.2021
? Ahval (21.4.2021): Turkey registers record COVID-19 death toll of 362, over 60,000 new cases, https://ahvalnews.com/pandemic/turkey-registers-record-covid-19-death-toll-362-over-60000-new-cases, Zugriff 22.4.2021
? AP – Associated Press (30.4.2021): Despite 3-week lockdown, many remain on the move in Turkey, https://apnews.com/article/middle-east-europe-turkey-religion-coronavirus-de48eb49ba5ade8961f87adee48cec4c, Zugriff 3.5.2021
? AP – Associated Press (27.4.2021): Full COVID-19 lockdown adds to financial strain in Turkey, https://apnews.com/article/istanbul-recep-tayyip-erdogan-arts-and-entertainment-lifestyle-health-3151b3d113058d455ac44bca8ad71817, Zugriff 28.4.2021
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Sicherheitslage
Letzte Änderung: 05.05.2021
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht. Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (AA 24.8.2020; vgl. SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016).
Die Lage im Südosten des Landes ist weiterhin sehr besorgniserregend (EC 6.10.2020). Der Konflikt zwischen der Regierung und der PKK dauert an. Bestehende Spannungen werden durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak verstärkt. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen PKK-Kämpfern und den Sicherheitskräften (EDA 28.4.2021), wenn auch auf einem geringeren Niveau als in den Vorjahren. Diese führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte führen groß angelegte Operationen und Strassencheckpoints durch, bei denen es auch zu Risiken für anwesende Zivilpersonen kommen kann. Auch bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften kann es zu Todesopfern und Verletzten kommen (EDA 28.4.2021). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 6.10.2020).
Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (?HD) kamen 2019 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 440 Personen ums Leben, davon 98 Angehörige der Sicherheitskräfte, 324 bewaffnete Militante und 18 Zivilisten (?HD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (?HD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (?HD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (?HD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe über 5.300 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis April 2021. Im Jahr 2020 wurden 366 Opfer registriert. Besonders hoch waren die Zahlen in den Monaten Mai bis September 2020. In den ersten vier Monaten des Jahres 2021 wurden 56 Tote gezählt (ICG 4.5.2021). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 6.10.2020).
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 28.4.2021). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheitsoperationen gegen die PKK ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen, sind sie mit Ausgangssperren von unterschiedlichem Umfang und Dauer konfrontiert (USDOS 30.3.2021, S.25; vgl. AA 28.4.2021). Sicherheitszonen und Ausgangssperren werden streng kontrolliert, das Betreten der Sicherheitszonen ist strikt verboten. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre, aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und A?r? (AA 28.4.2021).
Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).
Das türkische Parlament stimmte (mit Ausnahme der pro-kurdischen HDP) am 7.10.2020 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen sowohl im Irak als auch in Syrien um ein weiteres Jahr zu verlängern (BAMF 19.10.2020).
Quellen:
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? AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 7.10.2020
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? Anadolu – Anadolu Agency [Türkei] (7.4.2021): Turkey blocks assets of 377 members of terrorist groups, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-blocks-assets-of-377-members-of-terrorist-groups/2200499, Zugriff 20.4.2021
? BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (19.4.2021): Briefing Notes KW 16, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw16-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff 20.4.2021
? BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (19.10.2020): Briefing Notes KW 43, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw43-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=6, Zugriff 28.10.2020
? DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 20.10.2020
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Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Letzte Änderung: 17.05.2021
Die Rechtsstaatlichkeit wird ausgehöhlt und die Grundfreiheiten werden weiter eingeschränkt. Dies markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung, der im Land bereits zuvor im Gange war (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken der EU hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern verzeichneten im Gegenteil weitere Rückschritte (EC 6.10.2020; vgl. PACE 24.1.2019). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. EC 6.10.2020, USDOS 30.3.2021, S.1;14f.). Seine Besorgnis über die anhaltende Verschlechterung der Grundrechte und -freiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere über den anhaltenden Rückschritt der Türkei in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz brachte im Jänner 2021 auch das Europäische Parlament in einer Resolution zum Ausdruck (EP 21.1.2021). Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020).
Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zahlreiche Maßnahmen des Ausnahmezustandes, darunter insbesondere die Verleihung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden und Einschränkungen der Grundfreiheiten, wurden nunmehr gesetzlich verankert. Besonders problematisch sind der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 10.2020). Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 10.2020). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen (ÖB 10.2019).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (bianet 24.2.2020). Hinzukommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021).
Im vom World Justice Project jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2020 auf Platz 107 von 128 untersuchten Ländern. Der statistische Indikator verharrte wie 2019 auf dem Messwert von 0,43 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,32 (Rang 123 von 128) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,30 sowie bei der Strafjustiz mit 0,38 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,69, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 11.3.2020).
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfachgesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren (insgesamt 13 im Jahr 2019), obwohl dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist. Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten HSK infrage gestellt. Der Rat ist u.a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).
Die Ernennung tausender loyaler Richter, die potenziellen beruflichen Kosten einer richterlichen Entscheidung in einem wichtigen Fall entgegen den Interessen der Regierung sowie die Auswirkungen der Säuberungen nach dem Putsch haben die richterliche Unabhängigkeit in der Türkei stark geschwächt (FH 3.3.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurden rund 4.400 Richter und Staatsanwälte entlassen. Bis heute wurden keine Maßnahmen gesetzt, um den Empfehlungen der Venedig Kommission des Europarates vom Dezember 2016 zu entsprechen, wonach jede Entlassung eines Richters individuell begründet und auf verifizierbare Beweise abgestützt sein müsse (ÖB 10.2020). Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden (EC 6.10.2020). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch just am Tag nach Bekanntwerden dieser Garantie erließ der HSK ein Dekret, durch das die Stellen von 3.358 Richtern und Staatsanwälten im Zivil- und Strafrechtsbereich sowie von 364 weiteren Magistraten im Verwaltungsbereich geändert wurden. Insgesamt wurden im Jahr 2019 4.027 Richter und Staatsanwälte versetzt. Abgesehen von Hinweisen auf die Diensterfordernis wurden die Versetzungen nicht begründet (ÖB 10.2020). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020). Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt. Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch 12 der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 10.2020).
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 10.2020).
Obwohl die Autonomie der Justiz eingeschränkt ist, entschieden die Richter in wichtigen Fällen manchmal auch gegen die Regierung, beispielsweise bei der Freilassung des prominenten Philantropen Osman Kavala im Februar 2020, der jedoch auf der Basis einer neuen Anklage im Oktober 2020 wieder festgenommen wurde, oder anderer Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft (FH 3.3.2021).
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Dan??tay) [Anm.: entspricht etwa dem Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyu?mazl?k Mahkemesi) (ÖB 10.2020). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 24.8.2020), eingeführt u.a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern. Seit der Einführung im September 2012 machten bis 31.12.2020 300.000 Personen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Über 63% der Individualbeschwerden bezogen sich auf die vermeintliche Verletzung hinsichtlich der Gewährung eines fairen Gerichtsverfahrens (HDN 18.1.2021).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimli?i) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht (ÖB 10.2020). Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (ÖB 10.2020; vgl. EC 6.10.2020). Da die Friedensrichter allesamt als von der Regierung ausgewählt und ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium im Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2020). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019).
Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind, und durch die etwa im Jahr 2019 bereits 213.000 Fälle gelöst werden konnten. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge ?dare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100%, so dass es nun in dieser Instanz zu einem erheblichen Rückstau kommt. Im Zuge der COVID-19-Krise wurden zwischen März und Mitte Juni 2020 keine Gerichtstermine vergeben und sämtliche Fristenläufe gehemmt, sodass es zu weiteren Arbeitsrückständen und Verfahrensverzögerungen kam (ÖB 10.2020).
Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte (USDOS 30.3.2021, S.16; vgl. IPI 18.11.2019), wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 30.3.2021, S.16.). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Justizminister Abdulhamit Gül nahm das nochmalige Urteil des Verfassungsgerichts - infolge der Nicht-Beachtung durch ein lokales Gericht - zugunsten des ehemaligen CHP-Abgeordneten Berbero?lu zum Anlass, darauf hinzuweisen, dass die Entscheidungen des Verfassungsgericht laut Rechtsordnung "verbindlich" sind, und das Gesetz es den lokalen Gerichten zwingend vorschreibt, sich daran zu halten (Duvar 22.1.2021).
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 24.8.2020).
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden (USDOS 30.3.2021, S.17). Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 30.3.2021, S.12). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (HRW 13.1.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Es wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und bis September 2019 321 Anwälte wegen ihrer vermeintlichen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (ALI 1.9.2019). Die Verhaftungen hielten auch 2020 an. Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und 7 weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben. Da die Ermittlungen einer Geheimhaltungsanordnung unterlagen, war es den Anwälten und ihren Rechtsvertretern nicht gestattet, die Ermittlungsakten einzusehen oder Informationen über den Inhalt der Vorwürfe zu erhalten, bis ihre Mandanten im Sicherheitsdirektorat von Ankara verhört wurden, wodurch ihnen das Recht auf angemessene Zeit zur Vorbereitung einer Verteidigung verweigert wurde (AI 26.10.2020).
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 10.2020). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 6.10.2020).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (A??r Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehn-jährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 10.2020).
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es zur Suspendierung und Entlassung von über 152.000 öffentlich Bediensteten, welche per Dekret unehrenhaft entlassen oder suspendiert wurden, und deren Namen im Amtsblatt veröffentlicht wurden (ÖB 10.2020).
Die mittels Präsidialdekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB 10.2019). Bis zum 31.12.2020 waren 126.630 Anträge gestellt worden. Davon hatte die Untersuchungskommission 112.310 geprüft und nur 13.170 hatten zu einer Wiederaufnahme geführt, während 99.140 Beschwerden abgelehnt wurden. 61 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen und Fernsehstationen. Es waren noch 14.320 Anträge anhängig (ICSEM 4.2.2021, S.24). Die Bearbeitungsrate der Anträge gibt laut Europäischer Kommission Anlass zur Sorge, ob jeder Fall einzeln geprüft wird (EC 6.10.2020).
Die Beschwerdekommission stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf für die Betroffenen dar, um sich wirksam und zeitnah Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verschaffen. Der Kommission fehlt die genuine institutionelle Unabhängigkeit, da ihre Mitglieder zum größten Teil von der Regierung ernannt werden und im Falle von Verdachtsmomenten hinsichtlich Kontakten mit verbotenen Gruppierungen ihrer Funktion enthoben werden können. Somit können die Ernennungs- und Entlassungsvorschriften leicht den Entscheidungsprozess beeinflussen. Denn sollten Kommissionsmitglieder nicht die von ihnen erwarteten Urteile fällen, kann sie die Regierung einfach entlassen (AI 25.10.2018; vgl. ÖB 10.2020). Betroffene haben keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrecht erhalten wird, stützt sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zieht an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB 10.2020; vgl. EC 6.10.2020). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen (einige warten nach über einem Jahr immer noch auf eine Entscheidung) kritisiert (ÖB 10.2020).
Quellen: