Entscheidungsdatum
18.11.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W161 2181938-1/29E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Monika LASSMANN als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Gregor KLAMMER, 1160 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.01.2017, Zl. 1092632006-151643441, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.09.2020 zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin (in Folge: BF) reiste gemeinsam mit ihrer volljährigen Tochter XXXX illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 29.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. In ihrer Erstbefragung am selben Tag vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die BF an, sie sei in Kabul geboren, ihre Muttersprache sei Dari. Sie bekenne sich zum sunnitischen Islam und habe sieben Jahre die Grundschule besucht. Zuletzt habe sie als Näherin gearbeitet. Ihr Ehemann sei bereits verstorben. Sie nannte 8 Kinder. In Afghanistan würden sich zwei Söhne und drei Töchter aufhalten. Zudem würden fünf Schwestern und ein Bruder in Afghanistan leben. Einer ihrer Söhne habe Asyl in Deutschland, ein weiterer Sohn namens XXXX lebe seit 4 Jahren als Asylberechtigter in Österreich. Zu ihrem Leben in Afghanistan gab sie zudem an, sie habe insgesamt 8 Jahre als Näherin gearbeitet. Ihre Familie besitze Ländereien, aber die finanzielle Situation in Afghanistan sei schlecht gewesen. Sie habe durch Pachteinnahmen und durch ihre Arbeit den Lebensunterhalt bestritten.
Zu ihrem Fluchtgrund gab sie an, dass ein älterer reicher Mann in ihrem Heimatort entweder ihre Tochter XXXX oder ihr Tochter XXXX als Drittfrau habe ehelichen wollen. Ihre Töchter hätten dies aber nicht gewollt und habe sie beschlossen, mit ihnen aus Afghanistan zu flüchten, da der Mann ihre Familie mit dem Umbringen bedroht habe, sollte keine von ihren Töchtern der Eheschließung zustimmen. Bei einer Rückkehr befürchte sie den Tod.
3. Am 26.07.2017 fand eine Einvernahme der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in der Sprache Dari statt.
Die BF führte zu ihrem Gesundheitszustand aus, dass sie – seit ihre Tochter bzw. ihr Sohn verschwunden seien – psychische Probleme habe. Sie stehe deshalb auch in ärztlicher Behandlung.
Zu ihrer Familie in Afghanistan gab sie an, ihr Mann sei vor 18 Jahren von den Taliban verschleppt worden. Ihre Tochter XXXX und ihr Sohn XXXX würden sich im Moment in der Türkei befinden. Ihre Töchter XXXX und XXXX seien in Afghanistan. Ebenso würden vier Schwestern und ein Bruder in Afghanistan (Kabul) leben. Sie stehe mit ihrer Familie in telefonischem Kontakt und spreche alle zwei Wochen mit ihren Kindern bzw. etwa einmal im Monat mit ihren Schwestern.
Zu ihren persönlichen Verhältnissen führte sie ergänzend aus, Tadschikin zu sein und 7 Jahre lang die Schule besucht zu haben. Sie habe auch eine Berufsausbildung als Schneiderin gemacht. Als ihr Mann noch gelebt hätte, habe sie zu Hause als Schneiderin gearbeitet. Nach dem Verschwinden ihres Mannes habe sie noch etwa 7 Jahre als Schneiderin – im Rahmen von ausländischen Projekten - gearbeitet. Sie habe eine Prüfung beim Frauenministerium abgelegt, danach habe sie arbeiten können. Den Lebensunterhalt habe sie durch ihre Arbeit finanziert. Zusätzlich hätten sie auch Einnahmen durch Weinanbau gehabt. In guten Jahren hätten sie bis zu 600.000 Afghani eingenommen. Bauern hätten für sie gearbeitet. Es sei auch Weizen angebaut worden, welchen sie für den eigenen Haushalt verwendet hätten. Vor etwa 2 bis 3 Jahren habe sie aufgehört, als Schneiderin zu arbeiten. Danach habe sie gelegentlich und bis zu ihrer Flucht als Köchin gearbeitet. Sie hätte in einem Mietshaus gelebt und die Ablöse dafür zurückbekommen, weshalb sie Geld für die Schleppung gehabt habe.
Zu ihren Fluchtgründen führte die BF insbesondere aus wie folgt:
„Meine Tochter XXXX . Wegen Ihrer Probleme waren wir gezwungen das Land zu verlassen. Ein Kommandant wollte um Ihre Hand anhalten. Sie kannten sich vom Studium an der Universität. Mehrmals ist seine Mutter zu uns gekommen, um die Hand von XXXX anzuhalten. Der Vater des Kommandanten heißt XXXX und ist ein großer Kommandant in XXXX . 3 Mal sind sie zu uns gekommen mit den Schwestern, um die Hand meiner Tochter anzuhalten. Er hatte schon zwei Frauen und wollte eine Dritte. Jedes Mal wenn sie gekommen sind, haben wir eine Ausrede gefunden um sie abzuweisen. Eines Nachts ist der Junge mit zwei Personen zu uns nachhause gekommen und diese haben unser Haus angegriffen. Er kam ins Haus rein und wollte XXXX und XXXX mitnehmen. Eigentlich hat er um die Hand von XXXX angehalten, da wir jedoch abgelehnt haben, wollte er jetzt beide mitnehmen. Sie haben meinen Sohn XXXX geschlagen, dabei ist seine Hand verletzt worden. Ich hab stark geweint, bin zu seinen Füßen gelegen und habe ihn angefleht meine Töchter nicht mitzunehmen. Es war sehr schrecklich. Er sagte es ist die letzte Drohung und beim nächsten Mal werde ich euch alle töten. Er sagte er gibt uns einen Tag Zeit. Danach sind sie weggefahren. Der Farid – Ehemann meiner Schwester – hat uns immer unterstützt, seitdem mein Mann verschwunden ist. Er ist sehr wohlhabend. Ich habe ihn angerufen, den Vorfall geschildert und fragte ihn was ich machen sollte. Er wusste, dass diese Person um die Hand meiner Tochter angehalten hat. Er sagte wir sollten die wichtigsten Sachen packen und nicht weggehen. Zeitig in der Früh hat er uns mit seinem Auto abgeholt und wir sind zu ihm nachhause gefahren. Den Tag haben wir dort verbracht. Er hat dann auch meinen Sohn angerufen, der getrennt von uns lebte. Meine Söhne haben sich dann um die Tickets für die Reise nach Nimrus gekümmert. Danach sind wir aus Afghanistan geflüchtet.
…
LA: Haben Sie sonstige Fluchtgründe?
VP: Nein. Vor 17 Jahren wurde mein Ehemann entführt. Seitdem leide ich auch darunter.
…
LA: Waren Sie in Ihrer Heimat jemals Mitglied einer politischen Gruppierung oder Partei?
VP: Nein, aber mein Ehemann. Nachgefragt gebe ich an, dass die Partei Parja heißt.
…
LA: Was hätten Sie im Falle einer eventuellen Rückkehr in Ihre Heimat konkret zu befürchten?
VP: Ich weiß nicht was ich dort machen sollte. Mein Leben ist dort in Gefahr, deswegen sind wir geflüchtet. Ich wäre dort allein ohne meine Kinder und Ehemann.
LA: Warum sind Sie nicht in eine andere Stadt oder in einen anderen Landesteil gezogen?
VP: Wenn wir wo anders hingegangen wären, hätten wir gefunden werden können.“
Zu ihrem Leben in Österreich gab die BF an, sie habe bei Projekten der VHS und als Schneiderin gearbeitet. Sie erhalte Grundversorgung und lebe in einer Flüchtlingsunterkunft. Sie sei nach Österreich gekommen, weil einer ihrer Söhne bereits hier gewesen sei. Sie habe in ihrer Unterkunft einen Deutschkurs besucht, derzeit mache sie einen A1-Kurs. In ihrer Unterkunft habe sie auch von österreichischen Frauen Unterricht bekommen. Sie sei nicht Mitglied in einem Verein oder einer Organisation. Als Schneiderin verdiene sie ca. 100 bis 150 Euro im Monat. Freunde oder Bekannte in Österreich habe sie nicht. Zu ihrem Alltag in Österreich gab sie an, sie besuche die ganze Woche von 9.00 bis 12.00 Uhr den Kurs. Dienstags sei immer Schneiderarbeit. Ihre Tochter lerne und sie kümmere sich um den Haushalt und besuche auch Veranstaltungen in der Unterkunft.
4. Mit Bescheid vom 28.11.2017 wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).
Das BFA stellte fest, dass die BF Staatsangehörige Afghanistans sei, sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben bekenne und der Volksgruppe der Tadschiken angehöre. Die BF leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, sei verwitwet und habe acht Kinder.
Beweiswürdigend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass nicht glaubhaft sei, dass die BF Afghanistan wegen der angeblichen Zwangsverheiratung der Tochter XXXX verlassen hätte. Die BF sowie auch XXXX hätten sich bei diesem Fluchtvorbringen in Widersprüche verstrickt und nicht den Eindruck erweckt, die geschilderten Ereignisse selbst erlebt zu haben. Das vorgelegte Schreiben betreffend den Sohn XXXX sei keiner Verifizierung zugänglich. Die BF habe schon vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat einer beruflichen Tätigkeit nachgehen können und ihren Lebensunterhalt bestreiten können. In Kabul würden nach wie vor auch männliche Familienangehörige – etwa der Bruder der BF- leben.
Hinsichtlich subsidiären Schutzes wurde ausgeführt, dass die BF ihr bisheriges Leben in Afghanistan verbracht hätte und in Kabul gelebt hätte. Eine Rückkehr in die Heimatprovinz Kabul sei ihr zumutbar, zumal auch ihre Familie noch in Kabul lebe und die BF mit dieser in Kontakt stehe. Konkret würden zwei Töchter der BF (samt deren Familien), ein Bruder sowie vier Schwestern der BF noch in Kabul leben. Die BF verfüge über eine 7jährige Schulbildung und habe mehrere Jahre Berufserfahrung. Die BF spreche die Landessprache Dari und sei mit den kulturellen Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut. Eine medizinische Versorgung sei in Kabul vorhanden. Der BF sei es zumutbar, den Lebensunterhalt durch eigene Arbeitsleistung zu bestreiten, zumal sie dies auch schon in der Vergangenheit getan habe.
Zur Rückkehrentscheidung wird im Bescheid angegeben, dass die BF einen Deutschkurs besuche und als Schneiderin gearbeitet habe. Es würde zwar – neben der BF selbst – noch ein erwachsener Sohn der BF in Österreich leben, zu diesem bestehe aber keine Abhängigkeit und bestünden auch sonst keine besonderen sozialen Kontakte in Österreich. Eine besondere Integrationsverfestigung der BF liege nicht vor.
5. Gegen diesen Bescheid des BFA brachte die BF eine vollumfängliche Beschwerde ein, worin Rechtwidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht wurden. In der Beschwerde werden zunächst die Fluchtgründe der BF wiederholt. Die BF habe dem Brautwerber angeboten – mangels männlichen Haushaltsvorstandes – die Zustimmung einzuholen, weshalb er unter dieser Bedingung bereit gewesen sei für die Zustimmung in der Heiratssache noch einen Tag Bedenkzeit zu geben. Der ehemalige Brautwerber sei sehr gefährlich, da er über seinen Vater über Einfluss und gute Verbindungen verfüge. Er könne die BF daher in ganz Afghanistan finden und umbringen. Die belangte Behörde habe das Vorbringen der BF bzw. Beweismittel ignoriert, die Sachlage verkannt, eine unschlüssige Beweiswürdigung gemacht, die psychische Erkrankung der BF nicht hinreichend erhoben bzw. außer Acht gelassen. Das Fluchtvorbringen der BF habe im Kern mit jenem ihres Sohnes XXXX übereingestimmt, was auch die belangte Behörde zugestanden habe. Soweit das BFA ausgeführt habe, dass die restlichen Familienmitglieder der BF weiterhin in Kabul leben könnten, so sei anzumerken, dass in erster Linie die Personen bedroht seien, die direkt involviert gewesen seien, also die BF, ihr Sohn XXXX , die Tochter XXXX und die jüngere Schwester XXXX . Die verheirateten weiblichen Verwandten würden nach afghanischer Tradition nicht mehr zur Familie der BF zählen, sondern zur Familie ihrer Ehemänner, weshalb eine erweiterte Racheausübung für den Verfolger nicht von Interesse sei. Hinsichtlich der Rückkehr der BF sei ungewiss, ob ihr familiäres Netz dazu in der Lage und willens sei, die BF tatsächlich zu unterstützen. Die BF zähle zum Personenkreis der vulnerablen Frauen, zumal sie verwitwet/alleinstehend sei und keine Kernfamilie in Afghanistan habe. Zudem sei sie psychisch krank und würde in Afghanistan stigmatisiert werden. Die Länderberichte zur Lage in Kabul seien veraltet und habe sich die dortige Lage verschlechtert, zumal die Zahl der zivilen Opfer sich erhöht habe. Den BF sei sohin Asyl, ansonsten subsidiärer Schutz zu gewähren.
6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 24.09.2020 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher die BF, XXXX und XXXX zu ihren Fluchtgründen, ihren persönlichen Umständen im Herkunftsstaat und ihrer Integration befragt wurden. Vor der Verhandlung wurde das LIB zu Afghanistan (Stand: 18.05.2020, letzte Kurzinformation vom 29.06.2020) ausgeschickt, in der Verhandlung wurden mit den BF die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, die EASO-Guidelines von Juni 2018 sowie die aktuelle Kurzinformation der Staatendokumentation vom 21.07.2020 erörtert.
7. Mit Erkenntnis vom 09.12.2020 zu GZ W161 2181938-1/17E wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkt I. und II. als unbegründet ab (Spruchpunkt I.), stellte in Erledigung der Beschwerden gegen die Spruchpunkte III., IV. und V. fest, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan auf Dauer unzulässig sei und XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt werde (Spruchpunkt II.). Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides wurde ersatzlos behoben (Spruchpunkt III.). Die Revision wurde für nicht zulässig erklärt.
8. In Bezug auf den Sohn der BF, XXXX erging am selben Tag eine inhaltlich gleichlautende Entscheidung.
9. XXXX wurde mit gekürzter Ausfertigung des am 24.09.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses, GZ W161 2181944-1/18E, vom 13.10.2020 der Status einer Asylberechtigten (aufgrund ihrer westlichen Orientierung) zuerkannt.
10. Gegen dieses Erkenntnis erhob die beschwerdeführende Partei eine außerordentliche Revision. Mit Erkenntnis vom 06.04.2021, Zl.: Ra 2021/18/0036-7, hat der Verwaltungsgerichtshof das dargestellte Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründend führte der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen aus:
„Das BVwG hat dem Fluchtvorbringen der Revisionswerberin zur Bedrohung durch einen „mächtigen Mann“ keinen Glauben geschenkt. Dies lässt die Revision unbekämpft. Als glaubhaft wurde vom Verwaltungsgericht hingegen befunden, dass der Ehemann der Revisionswerberin vor mehreren Jahren verschwunden ist und die Revisionswerberin sich seither - mehr oder weniger - allein um ihre insgesamt acht Kinder kümmern musste. Das BVwG hat der Revisionswerberin darüber hinaus einen Aufenthaltstitel in Österreich erteilt, um ihr inniges Familienleben insbesondere mit ihrer hier aufenthaltsberechtigten Tochter weiter führen zu können.
Im Revisionsverfahren ist strittig, ob der Revisionswerberin stattdessen eine Form des internationalen Schutzes hätte gewährt werden müssen, wobei die Revision Fragen einer geschlechtsspezifischen Verfolgung der Revisionswerberin anspricht.
In diesem Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass die Revisionswerberin für die Vergangenheit keine Verfolgungshandlungen wegen ihres Geschlechts geltend gemacht hat. Ihren Lebensalltag in Afghanistan hat sie dahingehend geschildert, nach dem Sturz des Taliban-Regimes als Schneiderin und Köchin gearbeitet und die davor vorgenommene Vollverschleierung in der Öffentlichkeit abgelegt zu haben. Dass sie persönlich - abseits der nicht geglaubten Bedrohung durch den verschmähten Brautwerber - jemals Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen wäre, ergab ihre Aussage nicht.
Auch der Vorwurf der Revision, das BVwG habe nicht geklärt, wer nach dem Verschwinden ihres Ehemannes die Rolle des Familienoberhaupts eingenommen habe, trifft nicht zu: Auf die diesbezügliche Frage des Gerichts antwortete die Revisionswerberin in der mündlichen Verhandlung, diese Rolle habe sie gemeinsam mit ihrem Schwager eingenommen.
All das spricht für die Annahme des BVwG, dass die Revisionswerberin vor ihrer Flucht aus Afghanistan keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt war und ihre Existenz durch eigene Arbeit sichern konnte. Wenn die Revision kritisiert, dass das BVwG von einem „weltoffenen Leben“ der Revisionswerberin in Afghanistan ausgegangen sei, so ist ihr zu erwidern, dass das BVwG diese Aussage mit den in Afghanistan herrschenden gesellschaftlichen Usancen in Zusammenhang brachte und damit erkennbar lediglich zum Ausdruck bringen wollte, dass die Revisionswerberin im Vergleich zu anderen Frauen in Afghanistan ein relativ selbständiges Leben geführt hat. Insofern ist allerdings die Feststellung des BVwG, bei der Revisionswerberin handle es sich um keine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, zu relativieren, zumal die Revisionswerberin nach den Feststellungen des BVwG sich und ihre Kinder über viele Jahre allein versorgen musste und damit große Eigenständigkeit gezeigt haben dürfte.
Entscheidend ist jedoch, dass das BVwG die mögliche Gefährdung der Revisionswerberin bei Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der - im Vergleich zu ihrer Situation vor der Ausreise - geänderten Verhältnisse nicht ausreichend berücksichtigt hat.
Zum einen befinden sich nunmehr die meisten engen Angehörigen der Revisionswerberin (darunter auch alle männlichen Kinder) nicht mehr in Afghanistan. Nach den Feststellungen des BVwG verblieben in Kabul lediglich ihre beiden verheirateten Töchter; weiters eine - ebenfalls verheiratete - Schwester. Dass die Revisionswerberin bei diesen Familien Aufenthalt nehmen und Schutz finden könnte, wird von der Revision massiv angezweifelt. Aber auch das BVwG geht nicht davon aus, dass die Revisionswerberin dort mehr als einen bloß vorübergehenden Aufenthalt finden würde. Die Revisionswerberin wäre daher als alleinstehende Frau anzusehen, die nach den einschlägigen Länderberichten und den vom BVwG selbst getroffenen Länderfeststellungen in der männerdominierten afghanischen Gesellschaft als besonders vulnerabel angesehen werden muss und unter Umständen auch asylrechtlichen Schutz benötigen könnte (vgl. in diesem Sinne etwa schon VwGH 18.5.2020, Ra 2019/18/0402).
Zum anderen hat die Revisionswerberin mittlerweile ein Lebensalter erreicht, in dem von ihr nicht mehr ohne Weiteres erwartet werden kann, ihren Lebensunterhalt auch in Zukunft selbständig zu erwirtschaften. Insofern greift die Überlegung des BVwG, die Revisionswerberin sei ihr Leben lang selbsterhaltungsfähig gewesen und werde es auch weiterhin sein, zu kurz.“
11. Am 25.05.2021 wurden der BF aktuelle Feststellungen zur Lage in Afghanistan übermittelt und ihr die Möglichkeit eingeräumt, dazu binnen 14 Tagen Stellung zu nehmen.
12.1. Am 31.05.2021 machte die BF, vertreten durch ihren Rechtsanwalt, Ersatzansprüche nach dem Amtshaftungsgesetz geltend.
12.2. Am 07.06.2021 brachte die BF durch ihren Rechtsvertreter eine Stellungnahme zur Lage in Afghanistan ein.
12.3. Am 03.11.2021 langte ein Fristsetzungsantrag der BF ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person und den Fluchtgründen der BF:
Die BF führt den im Spruch angeführten Namen, ist Staatsangehörige von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.
Die BF hat insgesamt acht Kinder. Nach dem Verschwinden ihres Ehemannes in Afghanistan vor bereits über 10 Jahren hat die BF für ihre Kinder gesorgt.
Die BF wurde in Kabul geboren und lebte dort bis zu ihrer Ausreise nach Europa. Sie spricht muttersprachlich die Sprache Dari.
Die BF hat etwa 7 Jahre lange die Schule besucht. Sie konnte - nach dem Verschwinden ihres Ehemannes - den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder sicher. Die BF ist selbst jahrelang einer beruflichen Tätigkeit (Schneiderin und Köchin) nachgegangen bzw. besitzt die Familie der BF auch Ländereien, wodurch die Familie Einnahmen aus der Bewirtschaftung der Grundstücke erhalten hat.
Die BF reiste gemeinsam mit ihrer volljährigen Tochter, XXXX , ihrem Sohn XXXX und einer weiteren Tochter, XXXX , Anfang September 2015 aus Afghanistan aus, wobei sie an der iranischen Grenze ihre Tochter XXXX und ihren Sohn XXXX verlor. Die BF und XXXX reisten in weiterer Folge – über die Türkei – weiter nach Europa und im Oktober 2015 illegal ins Bundesgebiet ein und wo beide am 29.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellten. Der damals noch minderjährige XXXX reiste im November 2015 ins Bundesgebiet ein und stellte am 24.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Eine Schwester der BF lebt (samt Familie) nach wie vor in Kabul. Ebenso leben zwei Töchter der BF (samt Familien) in Kabul. Die BF steht mit ihren Familienangehörigen in Kabul in regelmäßigem Kontakt.
Eine weitere volljährige Tochter der BF namens XXXX , hält sich mittlerweile auch in Österreich auf und hat hier ebenfalls einen Asylantrag gestellt. Mit Entscheidung des BFA vom 09.07.2021 wurde ihr der Asylstatus zuerkannt.
Eine weitere Tochter der BF ( XXXX ) lebt laut Angaben der BF als Asylberechtigte in Deutschland, ein volljähriger Sohn namens XXXX lebt als Asylberechtigter in Österreich. Der Sohn XXXX hält sich laut Angaben der BF derzeit in der Türkei auf.
Die BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Bei der BF handelt es sich um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehandlung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen – und Gesellschaftsbild orientiert ist.
Nach dem sie in Afghanistan insbesondere aufgrund ihrer Tätigkeit für Ausländer sogar eine Burka tragen musste, um nicht erkannt zu werden, legte sie später die Vollverschleierung in Afghanistan ab und trug nur mehr einen Schal. Seit ihrer Ankunft in Österreich trägt sie einen solchen Schal in lockerer Form, dies aus jahrelange Gewohnheit. Sie kleidet, frisiert und schminkt sich in Österreich auch nach wesentlicher Mode.
Die BF musste nach dem ihr Mann verschollen war viele Jahre lang ihre Kinder allein versorgen und führte bereits in Afghanistan ein im Vergleich zu anderen Frauen dort ein relativ selbständiges Leben. Dies war jedoch nur möglich, weil ihr Schwager als männliches Familienoberhaupt galt. Während ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet hat sich die Persönlichkeit der BF jedoch verändert. Ihr Bewusstsein über ihre Rechte als Frau sind ihr durch ihren Aufenthalt in Österreich bewusst geworden und lebt sie auch entsprechend nach diesem neuen Bewusstsein und führt ein selbständiges Leben. Sie mischt sich auch nicht in das Leben ihrer Kinder ein und ist stolz darauf, dass diese in der Gestaltung ihrer Lebensweise frei sind und sich auch ihre Partner selbst aussuchen können.
Die BF verwaltet ihr Geld selbst, bewegt sich frei, besuchte Sprachkurse für Deutsch auf Niveau A1 und A1 plus und hilft unentgeltlich in einer Kirche bei der Ausgabe von Essen für Obdachlose aus. Weiters schneidert sie unentgeltlich. Sie organisiert ihren Alltag in Österreich selbstständig und ist nicht auf die Unterstützung ihrer Söhne angewiesen. Sie will auch weiterhin frei leben. Die von ihr angenommene Lebenswese ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie lehnt zwischenzeitig die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht mehr vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die BF würde im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld jedenfalls als am „westlichen“ Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgesetzt sein.
Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich mittlerweile um eine moderne und aufgeklärte Frau, die nach ihrer Flucht nach Österreich ihre Vorstellungen über die einer Frau zustehenden Rechte verwirklichen und nach diesen Maßstäben ihr weiteres Leben gestalten will. Sie ist zudem eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die nicht mehr nach der konservativ-afghanischen Tradition lebt. Die Einstellung und Lebensweise der Beschwerdeführerin steht im Widerspruch zu den im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit, Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen, Partnerwahl und der allgemeinen Rolle der Frau in der Gesellschaft. Dies insbesondere nach Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und der von diesen nunmehr an den Tag gelegten Haltung zu insbesondere „selbständigen“, alleinstehenden Frauen.
Die BF hätte bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan keine Familienmitglieder mehr, bei welchen sie Aufenthalt nehmen und Schutz finden könnte. Darüber hinaus hat die BF mit 63 Jahren mittlerweile ein Lebensalter erreicht, in dem von ihr unter Beachtung der derzeitigen Situation im Herkunftsstaat nicht mehr ohne weiteres erwartet werden kann, ihren Lebensunterhalt in Afghanistan ohne familiären Rückhalt und Schutz auch in Zukunft selbständig zu erwirtschaften.
Der BF steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht-bzw. Schutzalternative in Afghanistan nicht zur Verfügung.
Es liegen keine Gründe vor, nach denen ein Ausschluß der BF hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Unter Bezugnahme auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung vom 02.04.2021 sowie vom 16.09.2021), die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie vom August 2021, den EASO-Guidelines zu Afghanistan von Juni 2018 werden folgende entscheidungsrelevante, die Person der BF individuell betreffende Feststellungen zu Lage in Afghanistan getroffen:
COVID-19
Letzte Änderung: 31.03.2021
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).
Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die
Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).
Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).
Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAXProgramm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden,
COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem
Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020) . Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).
Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökono- mischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maß- nahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).
Frauen und Kinder
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.8.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 1.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020) , wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).
Politische Lage
Letzte Änderung: 31.03.2021
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Es ist geplant die Wahlen in Ghazni im Oktober 2021 nachzuholen (AT 19.12.2020; vgl. TN 19.12.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).
Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020).
Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020) . Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Gültigkeit von Hunderttausenden von Stimmen (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020) waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 35 Millionen (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommission und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020, TN 11.5.2020).
Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Ca- solino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004, USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.0 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht amerikanischen NATOTruppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020). Die Kämpfe zwischen den afghanischen Regierungstruppen, den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen hielten jedoch an und forderten in den ersten neun Monaten des Jahres fast 6.000 zivile Opfer, ein deutlicher Rückgang gegenüber den Vorjahren (HRW 13.1.2021).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).
Am Tag der Wiederaufnahme der Verhandlungen in Doha am 5.1.2021 sei in mindestens 22 von 34 Provinzen des Landes gekämpft worden, sagte das Verteidigungsministerium in Kabul (Ruttig 12.1.2021; vgl. TN 9.1.2021).
Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass sich der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig", sich an ihre eigenen Zusagen zu halten (FAZ 29.1.2020; vgl. DZ 29.1.2021). Jedoch noch vor der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden am 19.1.2021 hatte der designierte amerikanische Außenminister signalisiert, dass er das mit den Taliban unterzeichnete Abkommen neu evaluieren möchte (DW 29.1.2020; vgl. BBC 23.1.2021).
Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.2.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (RFE/RL 23.2.2021b.; vgl. AP 23.2.2021).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 25.03.2021
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise C