TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/22 W261 2200201-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.11.2021
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Entscheidungsdatum

22.11.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W261 2200201-1/44E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX auch XXXX , geb. XXXX auch XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, vom 15.05.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II.     Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV.      In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 07.09.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Am 08.09.2016 fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, er habe in Afghanistan Probleme mit den Taliban gehabt, deshalb habe er das Land vor zwei Jahren verlassen und mit seiner Frau im Iran gelebt. Dort habe er keinen Aufenthaltstitel und Probleme mit den Behörden gehabt, deshalb habe er auch den Iran verlassen. In Afghanistan habe er Feinde und dort herrsche Krieg und er fürchte sich vor den Taliban.

2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 06.02.2018 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen im Wesentlichen an, er sei Angehöriger der Volksgruppe der Usbeken und sunnitischer Muslim. Er sei im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Takhar geboren und habe bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan dort gelebt. Er habe keine Schule besucht und als Taxilenker gearbeitet. 2013 sei er in den Iran gegangen, wo er zwei Jahre gelebt und als Fliesenleger gearbeitet habe. Im Iran habe er seine Ehefrau geheiratet, zusammen hätten sie eine in Griechenland geborene Tochter und einen in Österreich geborenen Sohn. Seine Mutter und seine beiden Brüder würden noch im Heimatdorf leben, seine beiden Schwestern seien verheiratet und würden anderswo in Afghanistan leben, mit ihnen habe er keinen Kontakt. Sein Vater sei bereits verstorben. Er habe auch fünf Onkel und drei Tanten väterlicherseits, die ebenfalls in der Provinz Takhar aufhältig seien. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer Integrationsunterlagen vor.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, vor ca. vier Jahren sei er mit seiner Cousine XXXX , der Tochter seines Onkels väterlicherseits, befreundet gewesen. Sie hätten ca. ein Jahr lang eine Affäre gehabt und XXXX habe ihn sehr geliebt. Sie sei aber verheiratet und ihr Mann sei ein anderer Cousin von ihm gewesen. Eines Tages habe sie ihn angerufen und gesagt, er solle zu ihr nachhause kommen, ihr Mann werde später nachhause kommen. Sie hätten bei ihr zuhause miteinander geschlafen, als ihr Ehemann, sein Cousin XXXX , plötzlich nachhause gekommen sei und sie gesehen habe. Sie seien nackt im Bett gewesen. Daraufhin sei er durch das Fenster geflüchtet. XXXX sei bewaffnet gewesen und habe seine Frau getötet, das habe er gesehen. Er sei darauf zu Fuß nach XXXX zu einem Freund geflüchtet, habe sich von diesem Geld geliehen und sei in den Iran gegangen. Sein Cousin habe zwei Brüder, die für die Taliban arbeiten würden. Die beiden hätten ihnen immer gewaltsam einen Teil ihrer Ernte für die Taliban abgenommen. Aufgrund der Feindschaft mit seinem Cousin habe er Angst vor den beiden.

3. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 15.05.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland einer aktuellen und unmittelbar persönlichen sowie konkreten Gefährdung, Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Seine Angaben hätten unzählige Ungereimtheiten und Widersprüche aufgewiesen, zudem sei eine Steigerung seines Vorbringens erkennbar gewesen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er von allgemeinen Sicherheitsmängeln in Afghanistan individuell in höherem Maße betroffen wäre als andere dort aufhältige Personen. Ebenso habe nicht festgestellt werden können, dass er aus asylrelevanten Gründen Probleme in seinem Herkunftsstaat gehabt habe. Im Verwaltungsverfahren hätten sich keine begründeten Hinweise auf eine Flüchtlingseigenschaft oder das Vorliegen subsidiärer Schutzgründe ergeben. Der Beschwerdeführer sei ein volljähriger, arbeitsfähiger, gesunder, junger Mann, der die gängigste Sprache Afghanistans auf Muttersprachenniveau spreche und aus der Provinz Takhar stamme. Es habe nicht festgestellt werden können, dass ihm in seinem Heimatland die Lebensgrundlage gänzlich entzogen werde oder dass er bei einer Rückkehr in eine die Existenz bedrohende Notlage gedrängt würde. Er habe Angehörige im In- und Ausland, durch welche er Unterstützung erhoffen könne.

4. Mit Bescheiden ebenfalls vom 15.05.2018 wies die belangte Behörde auch die Anträge auf internationalen Schutz der damaligen Lebensgefährtin und der beiden minderjährigen Kinder des Beschwerdeführers vollinhaltlich ab.

5. Der Beschwerdeführer, seine damalige Lebensgefährtin und seinen beiden minderjährigen Kindern erhoben gegen diese Bescheide mit Eingabe vom 25.05.2018 durch ihre bevollmächtigte Vertretung fristgerecht eine gemeinsame Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, die Lebensgefährtin (dem Vorbringen nach: Ehefrau) des Beschwerdeführers sei wegen einer bevorstehenden Zwangsheirat mit einem Drogendealer vor ihrer Familie weggelaufen und habe danach rund ein Jahr mit dem Beschwerdeführer im Iran zusammengelebt. Der Beschwerdeführer sei wegen seines fehlenden Aufenthaltsrechts von der iranischen Polizei aufgesucht und vor die Wahl gestellt worden, entweder in den Syrien-Krieg zu ziehen oder nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Aufgrund dieser ausweglosen Situation hätten sie zusammen den Iran verlassen. Zu diesem Zeitpunkt sei die Gefahr groß gewesen, dass der Ex-Verlobte der Lebensgefährtin des Beschwerdeführers sie ausforschen und töten könnte. Frauen, die vor einer Zwangsheirat fliehen oder sonst von zuhause weglaufen, drohe in Afghanistan Inhaftierung wegen eines „Verbrechens gegen die Moral“ bzw. unterstellter außerehelicher sexueller Handlungen („Zina“). Es wurde auf Länderberichte zur Situation von Frauen und zur Sicherheitslage in Afghanistan verwiesen. Die Sicherheitslage sei nach wie vor höchst volatil. Falls dem Vorbringen der Lebensgefährtin des Beschwerdeführers dennoch keine Asylrelevanz zugebilligt werden könne, werde in eventu die Zuerkennung subsidiären Schutzes beantragt. Sie würde bei einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine ausweglose Lage geraten. In der Region Kabul wäre ihr Leben gefährdet, da dort ihr Bruder lebe. Dieser wurde sie umbringen, wenn er erfahren würde, dass sie wieder im Lande sei.

6. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 22.06.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 05.07.2018 in der Gerichtsabteilung W167 einlangte.

7. Mit Eingabe vom 14.12.2020 übermittelte die belangte Behörde einen Antrag des Beschwerdeführers auf Änderung seiner Personendaten samt einer Kopie eines afghanischen Reisepasses.

8. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.01.2021 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W167 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 zugewiesen, wo dieses am 03.02.2021 einlangte.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 25.03.2021 eine mündliche Verhandlung durch. Nach Erörterung des Familienlebens des Beschwerdeführers wurde die Verhandlung zwecks Klärung diesbezüglich offener Fragen vertagt. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Der Beschwerdeführer legte im Rahmen der Verhandlung medizinische Befunde und ein Schreiben in Zusammenhang mit dem Kontaktrecht zu seinen Kindern vor.

10. Mit mündlich verkündetem Erkenntnis vom 25.03.2021, Zl. W261 2200200-1/14Z ua, gab das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerden der nunmehr ehemaligen Lebensgefährtin und der beiden minderjährigen Kinder des Beschwerdeführers statt und erkannte diesen gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 den Status der Asylberechtigten zu.

Begründend führt das Gericht im Wesentlichen aus, die Erstbeschwerdeführerin (dieses Verfahrens) sei eine Frau, welche in ihrer Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebe in Österreich nicht mehr nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehne die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan und im Iran ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Sie dulde keine Gewalt mehr gegen sie als Frau, weswegen sie sich auch von ihrem gewalttätigen Mann getrennt lebe. Aus diesen Gründen drohe ihr in Afghanistan Verfolgung, weshalb ihr der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen war. Ihren beiden minderjährigen Kindern war Asyl im Rahmen des Familienverfahrens gemäß § 34 Abs. 2 AsylG 2005 zuzuerkennen.

11. Mit Schreiben vom 30.04.2021 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht das Bezirksgericht XXXX , alle zur Frage des Bestehens eines ständigen Kontakts bzw. eines Familienlebens zwischen dem Beschwerdeführer und seinen beiden minderjährigen Kindern vorliegenden Unterlagen aus dem dort anhängigen pflegschaftsgerichtlichen Verfahren Zl. XXXX in Kopie zu übermitteln.

12. Mit Eingabe vom 07.05.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Unterlagen zum Beweis eines schützenswerten Familienlebens mit seinen beiden Kindern vor.

13. Mit Eingabe vom 18.05.2021 übermittelte das Bezirksgericht XXXX eine Kopie des Aktes zur Zl XXXX .

14. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 23.06.2021 eine weitere mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen und zu seinem Familienleben befragt wurde. Die Verhandlung wurde aufgrund der fortgeschrittenen Zeit vertagt. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Der Beschwerdeführer legte einen medizinischen Befund und Unterlagen zu seinem Familienleben vor.

15. Mit Eingabe vom 23.08.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Unterlage zu seinem Familienleben vor.

16. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 04.10.2021 eine weitere mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen und der Situation im Falle seiner Rückkehr befragt wurde. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Der Beschwerdeführer legte weitere Unterstützungsschreiben vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

17. Mit Eingabe vom 06.10.2021 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass diesem abgeleitet von seiner Ehegattin gemäß § 34 Abs. 2 AsylG der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen sei. Der Beschwerdeführer sei zwar wegen einer an seiner Ehegattin begangenen Körperverletzung nach § 83 StGB verurteilt worden, er sei damit aber nicht iSd § 2 Abs. 3 Z 1 AsylG straffällig geworden (und von einer Ableitung ausgeschlossen), da dieses Delikt nicht in die Zuständigkeit des Landesgerichts falle. Der Beschwerdeführer lebe seit dem Vorfall vom 29.05.2019, der zur Verurteilung geführt habe, getrennt von seiner Ehegattin und den beiden minderjährigen Kindern. Die Ehe sei jedoch nicht geschieden worden, sodass de jure von einer aufrechten Ehe auszugehen sei. Ein Familienverfahren sei auch dann zu führen, wenn ein aufrechtes Familienleben iSd Art. 8 EMRK nicht mehr bestehe. Dazu wurde auf Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts verwiesen. Eine andere Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die für die Anwendbarkeit des § 34 AsylG entgegen dem Wortlaut ein aufrechtes Familienleben vorausgesetzt habe, sei derzeit Gegenstand einer außerordentlichen Revision, der die aufschiebende Wirkung zuerkannt worden sei. Sollte das Bundesverwaltungsgericht § 34 Abs. 2 AsylG im vorliegenden Fall für nicht anwendbar erachten, werde daher die Zulassung der ordentlichen Revision an den Verwaltungsgerichtshof beantragt, weil die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dieser Frage uneinheitlich sei.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Usbeken und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Usbekisch, er spricht auch Dari, Farsi und etwas Deutsch.

Er wurde im Ortsteil XXXX im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Takhar geboren. Sein Vater hieß XXXX , er ist bereits verstorben. Seine Mutter heißt XXXX und ist ca. 54 Jahre alt. Er hat zwei Schwestern, XXXX (ca. 31 Jahre) und XXXX (ca. 24 Jahre), sowie zwei Brüder, XXXX (ca. 39 Jahre) und XXXX (ca. 32 Jahre).

Seine Familie lebt heute in der Stadt XXXX im Iran. Seine Brüder arbeiten dort und versorgen auch seine Mutter. Seine Schwestern sind verheiratet. Er hat Kontakt mit seiner Familie.

Der Beschwerdeführer und seine Geschwister haben von ihrem Vater ein Grundstück im Ausmaß von ca. fünf Jerib geerbt. Er und seine Brüder haben dort als Landwirte gearbeitet. Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan auch als Taxilenker und im Iran als Fliesenleger gearbeitet.

Er hat fünf Onkel und drei Tanten väterlicherseits, die noch in der Provinz Takhar leben. Mit diesen Verwandten hat er keinen Kontakt. Seine Tanten mütterlicherseits sind alle bereits verstorben.

2014 reiste der Beschwerdeführer in den Iran. Dort heiratete er im Februar 2015 die damals 16- oder 17-jährige XXXX , die von ihrem Vater zu dieser Eheschließung gezwungen wurde. XXXX hat der Eheschließung auch nachträglich nicht zugestimmt. Mit ihr hat der Beschwerdeführer zwei Kinder. Seine Tochter XXXX wurde am XXXX in Griechenland geboren, sein Sohn XXXX am XXXX in Österreich. Seit Mai 2019 lebt der Beschwerdeführer von seiner ehemaligen Lebensgefährtin und seinen Kindern getrennt (siehe dazu noch Punkt 1.3.).

Er stellte am 07.09.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Beschwerdeführer leidet an einer Depression und ist deshalb in ärztlicher Behandlung. Davon abgesehen ist er gesund.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer hatte in Afghanistan keine Affäre mit seiner verheirateten Cousine. Seine Cousine wurde deshalb auch nicht von ihrem Ehemann, einem weiteren Cousin, erschossen. Es besteht keine Feindschaft zwischen dem Beschwerdeführer, seinem Cousin und dessen Brüdern.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch seinen Cousin, dessen Brüder oder die Taliban.

1.3.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit September 2016 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 07.09.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Er hat in Österreich Deutschkurse und einen Werte- und Orientierungskurs besucht. Seit Sommer 2021 besucht er einen Vorbereitungskurs für den Pflichtschulabschluss. In der Gemeinde XXXX hat er sich an verschiedenen ehrenamtlichen Tätigkeiten beteiligt.

Der Beschwerdeführer lebte in Österreich zunächst mit seiner Lebensgefährtin und den beiden minderjährigen Kindern zusammen. Er war seiner Lebensgefährtin gegenüber in dieser Zeit wiederholt gewalttätig, dies in Form von Ohrfeigen, Faustschlägen und Fußtritten. Am 29.05.2019 kam es zu einem weiteren Übergriff, bei dem der Beschwerdeführer seine Lebensgefährtin bedrohte und sie mit einem Ladekabel auf den Rücken und Handrücken schlug. Sie erstattete daraufhin Anzeige und erwirkte ein polizeiliches Betretungsverbot gegen ihn, gegen das er aber zweimal verstieß.

Im Zuge dieser Auseinandersetzung sprach der Beschwerdeführer gegenüber seiner Lebensgefährtin eine Scheidung durch einseitige „Verstoßung“ nach afghanisch-islamischen Eherecht aus.

Aufgrund dieses Vorfalls wurde dem Beschwerdeführer mit einstweiliger Verfügung des Bezirksgerichts XXXX vom 18.06.2019, Zl. XXXX , bis 18.12.2019 die Rückkehr in die vormals gemeinsame Wohnung und deren unmittelbare Umgebung verboten und ihm aufgetragen, die innerhalb der unmittelbaren Umgebung liegenden Bereiche nicht zu betreten.

Ebenfalls aufgrund dieses Vorfalls wurde der Beschwerdeführer mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 31.01.2020, Zl. XXXX , wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt, die ihm unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Dieses Urteil erwuchs am 04.02.2020 in Rechtskraft.

Davon abgesehen ist er in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Seit Mai 2019 lebt der Beschwerdeführer von seiner ehemaligen Lebensgefährtin und seinen Kindern getrennt. Die alleinige Obsorge für die gemeinsamen Kinder kommt der Kindesmutter zu. Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 22.04.2021, Zl. XXXX , wurde eine zwischen den Eltern geschlossene Kontaktrechtsvereinbarung pflegschaftsgerichtlich genehmigt, wonach der Beschwerdeführer seine Kinder einmal im Monat in begleiteter Form für zwei Stunden besuchen darf. Zu seiner ehemaligen Lebensgefährtin besteht kein Kontakt.

Der ehemaligen Lebensgefährtin und, abgeleitet von dieser, den beiden minderjährigen Kindern des Beschwerdeführers wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.03.2021, Zl. W261 2200200-1/14Z ua, der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

1.4.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Infolge der Machtübernahme der Taliban könnten dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der derzeit landesweit unübersichtlichen, volatilen und prekären Sicherheits- und Versorgungslage unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers sind nicht geeignet, ihn vor dieser Gefährdung zu schützen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht nicht.

1.5.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

?        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Version 5, 16.09.2021 (LIB)

?        Bericht über die Lage in Afghanistan, Auswärtiges Amt (Deutschland), 22.10.2021 (AA)

?        Arbeitsübersetzung Landinfo-Report „Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne” vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

?        Informationsbroschüre „Islamisches Familienrecht in grenzüberschreitenden Ehen“, Universität Wien/Österreichischer Integrationsfonds, 2020 (Uni Wien/ÖIF)

1.5.1.  Politische Lage - Letzte Änderung: 22.10.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte. Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich. Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal. Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung, die schließlich nicht zustande kam Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets. Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (LIB).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (LIB).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura. Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war, ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war. Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada, ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (LIB).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 07.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen. Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (LIB).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (LIB).

Trotz Ernennung einer Übergangsregierung durch die Taliban am 07.09.2021 bleiben zentrale Fragen nach der zukünftigen Verfasstheit und den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen des afghanischen Staates weitgehend ungeklärt. Dies schließt insbesondere auch Justiz und Rechtswesen ein. Auch liegen wenig gesicherte Erkenntnisse über geplante Verfahren der Verfassungs- oder Gesetzgebung vor. Die Taliban veröffentlichen zwar sukzessive Dekrete zu einzelnen Politikbereichen und nehmen dabei teilweise auf bestehende Gesetze der afghanischen Republik Bezug. Grundsätzliche Entscheidungen der Talibanführung zu einer möglicherweise vorläufigen Fortgeltung dieser Gesetze sind jedoch bisher nicht bekannt (AA).

Während Teile der Bevölkerung, vor allem im städtischen Raum und unter ehemaligen Mitgliedern der Regierungs- und Sicherheitskräfte, eine massive Beschneidung ihrer Grundrechte und Freiheiten wahrnehmen und Vergeltungsmaßnahmen fürchten, befanden sich einige ländliche Gebiete zum Zeitpunkt der Machtübernahme teils bereits über Jahre unter der Kontrolle der Taliban, sodass der Machtwechsel für Teile der Zivilbevölkerung im ländlichen Raum keine weitreichenden Veränderungen des bereits zuvor von den Schattenstrukturen der Taliban geprägten Alltagslebens mit sich brachte. Allerdings hat sich die wirtschaftliche Lage zuletzt landesweit weiter verschlechtert (AA).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75 % bis 80 % des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt, Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten. So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt. Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (LIB).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen. Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen. China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offengehalten (LIB).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen. Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (LIB).

1.5.2.  Friedensverhandlungen und Abzug der internationalen Truppen - Letzte Änderung: 16.09.2021

1.5.2.1.  Friedensverhandlungen

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan Konflikts zur Beendigung des Krieges statt. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden. Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass „irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen“ (LIB).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (LIB).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (LIB).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden. Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (LIB).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar. In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen. Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (LIB).

1.5.2.2. Abzug der Internationalen Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen – etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO Truppen – bis zum 11.09.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“, allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen. Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der „Bruch“ des Doha-Abkommens „öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat“. Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab. Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (LIB).

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte, während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen „Besatzungstruppen“ gearbeitet hätten, „irregeführt“ worden seien und „Reue“ für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem „Verrat“ am Islam und an Afghanistan gleichkämen (LIB).

1.5.3.  Sicherheitslage Letzte Änderung: 22.10.2021

Jüngste Entwicklungen – Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu, aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil. Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in. Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban – Zaranj in Nimruz – am 06.08.2021 in „halsbrecherischer Geschwindigkeit“, innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte. Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog. Am 15.08.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein. Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif. Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück. Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird, auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (LIB).

Die Taliban haben mit ihrer Machtübernahme faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Die Ein- und Zuteilung der bisherigen Kämpfer für diese Aufgaben folgt keiner einheitlichen Regelung. Neben bewaffneten Talibankämpfern in Uniform gibt es auch weiter eine Vielzahl von Talibankämpfern in zivil, die Sicherheitsaufgaben wahrnehmen ohne dass klar wäre, in wessen Auftrag oder auf welcher Grundlage sie dies tun (AA).

Angaben des amtierenden Oberbefehlshabers der Taliban Qari Fasihuddin zufolge planen die Taliban den Aufbau einer regulären Armee unter Einbeziehung bisheriger Sicherheitskräfte, deren gute Ausbildung man nutzen wolle. Gleiches soll auch für die Polizei gelten. Erkenntnisse über die Umsetzung dieser Planungen liegen bisher nicht vor. Wachsende Kriminalität war bereits in den vergangenen Jahren ein Problem, insbesondere in den Städten. Die Taliban nehmen für sich in Anspruch, dem entgegenzuwirken. Ihnen nahestehende Medien veröffentlichen beispielsweise Berichte über die Befreiung von Entführungsopfern oder die Gefangennahme von Dieben und Drogenschmugglern. Gleichzeitig existieren Berichte über öffentliche Strafmaßnahmen gegen und Zurschaustellung von Verbrechern durch die Taliban. Dies entspricht auch dem gängigen Vorgehen des ersten Talibanregimes (AA).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt, formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Widerstandsfront (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten. Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen. Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.08.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein, während die NRF am 06.09.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (LIB). Die Widerstandsfront in Panjshir hat sich in die unwegsamen Seitentäler des Panjshir-Tals zurückgezogen und verübt von dort gezielte Angriffe auf Kämpfer der Taliban. Ähnliches gilt für weitere angrenzende Gebiete im Norden. Die Führung der Nationalen Widerstandsfront hat sich mittlerweile nach Tadschikistan zurückgezogen (AA).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen. Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (LIB).

1.5.4. Erreichbarkeit - Letzte Änderung: 16.09.2021

Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen. Seit dem Fall der ersten Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (LIB).

1.5.4.1. Internationale Flughäfen in Afghanistan

In Afghanistan gab es [vor der Machtübernahme der Taliban] insgesamt vier internationale Flughäfen; alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnete die afghanische Luftfahrtindustrie einen zahlenmäßigen Anstieg ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul - Herat und Kabul - Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, wurden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt (LIB).

1.5.4.2. Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021

Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan oder über den Grenzübergang Islam Kala in den Iran geflohen. Der Grenzübergang Torkham – neben Chaman der wichtigste Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan – war zeitweilig geschlossen, wurde Mitte September 2021 nach Angaben eines pakistanischen Behördenvertreters für Fußgänger jedoch wieder geöffnet. Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte Anfang September 2021, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (LIB).

1.5.5.  Zentrale Akteure - Letzte Änderung: 16.09.2021

In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (LIB).

Die Geschichte Afghanistans ist seit langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfen, die in den 1990er Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. „re-hatting“: wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen. Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001 -15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (LIB).

1.5.5.1. Taliban - Letzte Änderung: 14.09.2021

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha, im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben, wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen. Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte. Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (LIB).

Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (LIB).

1.5.5.2. Struktur und Führung der Taliban - Letzte Änderung: 16.09.2021

Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (LIB).

Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an. Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001. Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat, sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (LIB).

Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als „Ministerien“ fungierten. Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (LIB).

Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada. Er ist seit 2016 der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“, ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde. Er hat drei Stellvertreter: 1.) der Stellvertreter für Politisches ist Mullah Abdul Ghani Baradar, der Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha; 2.) der Stellvertreter für die südlichen Provinzen und Leiter der militärischen Operationen bzw. der einflussreichen Kommission für militärische Angelegenheiten ist Mullah Mohammad Yaqoob; 3.) der Stellvertreter für die östlichen Provinzen ist Sirajuddin Haqqani, der auch der Anführer des Haqqani-Netzwerks und der Miran Shah-Schura ist. Im September 2021 wurde angekündigt, dass Baradar in der „Übergangsregierung“ die Position des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats einnehmen wird, Yaqoob soll Verteidigungsminister werden, Sirajuddin Haqqani Innenminister. Haibatullah Akhunzada wird sich als „Oberster Führer“ auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (LIB).

Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban. Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet, was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (LIB).

Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation. Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40-45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (LIB).

1.5.5.3. Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten - Letzte Änderung: 22.10.2021

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach „fehlverhalten“, unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten den meisten dieser Gruppen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance, zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der [ehemaligen] Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. Eine Tätigkeit als Auftragnehmer sehen die Taliban nur dann als Verbrechen an, wenn man ihre Warnungen in den Wind schlägt (Landinfo 1, Kapitel 4).

Nach der Machtübernahme der Taliban wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände. Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (LIB).

Die Taliban haben mehrfach versichert, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräften abzusehen, solange diese sich ihnen nicht widersetzten und die Autorität der Taliban akzeptieren. Ähnliche Zusicherungen existieren beispielsweise in den Bereichen Pressefreiheit und Frauenrechte. Jedoch kam es Berichten zufolge, die durch das Hochkommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen geprüft und für begründet befunden wurden, seit der Machtübernahme in verschiedenen Regionen zu Vorfällen, die dem widersprechen. So hat das Hochkommissariat glaubhafte Berichte über Morde an früheren Militärangehörigen sowie zu willkürlichen Verhaftungen von ehemaligen Regierungsmitarbeitendenden und deren Familienangehörigen erhalten. Darüber hinaus liegen dem Hochkommissariat zahlreiche Berichte zu Hausdurchsuchungen vor, unter anderem in Kabul, Kandahar, Herat, Mazar-e-Sharif, Gardez, Maimana und Samangan. Diese sollen Regierungsmitarbeitende betreffen, aber auch Personen, die mit den US-Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsfirmen zusammengearbeitet haben, sowie auch VN-Mitarbeitende. Auch die Büros von Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Gruppen sollen betroffen sein (AA).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren. Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben. Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden. Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (LIB).

Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus. Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (LIB).

Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE („Handheld Interagency Identity Detection Equipment“)-Geräte]. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenministeriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (LIB).

Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E- Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine „wahre Fundgrube an Informationen“ für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien „wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber“ (LIB).

Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros zudem keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (LIB).

Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen von Ausländern und afghanischen Ortskräften nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren – eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine „Todesliste“ gesetzt, wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (LIB).

1.5.6.  Rechtsschutz/Justizwesen - Letzte Änderung: 22.10.2021

Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 an, dass zukünftig eine islamische Regierung von islamischen Gesetzen angeleitet

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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