TE Vfgh Erkenntnis 2021/9/27 E1186/2021

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Veröffentlicht am 27.09.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten betreffend einen Staatsangehörigen des Iraks; widersprüchliche Auseinandersetzung mit der Sicherheitslage in der Herkunftsregion und der individuellen Situation des Beschwerdeführers, insbesondere im Hinblick auf familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat; keine Auseinandersetzung mit der sicheren Erreichbarkeit der Herkunftsregion

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer vierzehntägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger, Jeside, Kurde und gehört dem Stamm der Jasani an. Er stammt aus dem Dorf Mujammaa im Ort Risala, welcher zu Mossul gehört. Am 2. Dezember 2015 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei seiner Ersteinvernahme brachte er hinsichtlich seines Fluchtgrundes vor, dass die Lage für Jesiden im Irak sehr schlecht sei und es keine Sicherheit mehr in ihrem Dorf gäbe. Ganze Dörfer seien verbrannt, Menschen seien in Käfige gesperrt und bei lebendigem Leib verbrannt und Frauen und Mädchen vergewaltigt und entführt worden. Am 3. August 2014 sei der IS gekommen und es habe eine Tragödie gegeben. Der Beschwerdeführer sei geflüchtet und habe etwa eineinhalb Jahre an der irakisch-türkischen Grenze in einem Zeltlager gewohnt. Er habe den Irak am 23. November 2015 verlassen, weil IS-Milizen die Region des Beschwerdeführers angegriffen haben. Er sei von den Moslems unterdrückt worden, weil er Jeside sei.

2. Mit Bescheid vom 3. August 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 AsylG 2005 und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt. Gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak gemäß §46 FPG zulässig sei. Gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

3. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 3. August 2018 eine Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

4. Mit Schreiben vom 3. November 2020 stellte der Beschwerdeführer einen Fristsetzungsantrag samt Antrag auf Verfahrenshilfe beim Verwaltungsgerichtshof. Mit verfahrensleitender Anordnung des Verwaltungsgerichtshofes vom 20. November 2020 wurde der Fristsetzungsantrag des Beschwerdeführers dem Bundesverwaltungsgericht zugestellt und selbiges aufgefordert, binnen drei Monaten eine Entscheidung zu erlassen.

5. Die gegen den Bescheid vom 3. August 2018 erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 18. Februar 2021, als unbegründet ab.

Zur Lage im Herkunftsstaat Irak – und insbesondere der Herkunftsregion des Beschwerdeführers (Mossul) – traf das Bundesverwaltungsgericht auszugsweise folgende Feststellungen:

"Es konnte nicht festgestellt werden, dass die bP im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat, konkret ihre Herkunftsregion Mossul, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer glaubhaften, asylrelevanten Verfolgungsgefahr oder einer realen Gefahr von Leib und/oder Leben ausgesetzt wäre.

[…]

Im Juni 2014 startete der sog Islamische Staat Irak (IS) oder Da'esh, einen erfolgreichen Angriff auf Mossul, die zweitgrößte Stadt des Irak. Der IS übernahm daraufhin die Kontrolle über andere Gebiete des Irak, einschließlich großer Teile der Provinzen Anbar, Salah al-Din, Diyala und Kirkuk. Im Dezember 2017 erklärte Premierminister Haider al-Abadi den endgültigen Sieg über den IS, nachdem die irakischen Streitkräfte die letzten Gebiete, die noch immer an der Grenze zu Syrien unter ihrer Kontrolle standen, zurückerobert hatten. Der IS führt weiterhin kleine Angriffe vorwiegend auf Regierungstruppen und Sicherheitspersonal an Straßenkontrollpunkten aus.

[…]

Im dritten Quartal 2019 wurden in der Provinz Ninawa (in welcher Mossul liegt) 65 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 38 Toten erfasst.

[…]

Trotz des kontinuierlichen Rückgangs von Binnenvertriebenen (etwa -9.600 Personen im Vergleich zur Zählung in den Monaten Jänner und Februar 2020) wurden in den Monaten März und April 2020 knapp 2.700 neue Binnenvertriebene gezählt, welche überwiegend bereits zum zweiten Mal vertrieben wurden. 60% der in den Monaten März und April 2020 gezählten Binnenvertriebenen stammten aus dem Gouvernement Ninewa (die meisten aus Mossul, Sinjar und Al-Ba'aj), jeweils 11% stammten aus den Gouvernements Salah al-Din und Anbar.

[…]

Mossul feiert kulturelles Comeback: Ein Park in Mossul. Hier bildete der sog 'Islamische Staat' (IS) einst Kindersoldaten aus. Nun haben sich tausende Menschen versammelt — für ein Bücherfestival mit Musik, Theater und Tischen voll Bücher, die für die Einwohner der Stadt gesammelt wurden. Die Kultur ist zurück in der zweitgrößten Stadt des Irak. Und das 'Ich bin Iraker— ich lese'-Festival ist nur eine von vielen Kulturveranstaltungen. Das Motto des Festivals ist an eine traditionelle arabische Redewendung angelehnt: 'Ägypter schreiben, Libanesen publizieren, Iraker lesen.' [...] Kunst und Kultur haben unter dem IS stark gelitten. Statuen von Dichtern und Schriftstellern wurden niedergerissen, Kunstwerke und Musikinstrumente zerstört und die Universitätsbibliothek in Bra[n]d gesteckt —viele wertvolle Bände sind für immer verloren. Bücher wurden verboten, nicht-religiöse Kunst war tabu. Musiker und andere Künstler kamen ums Leben. ************ unterrichtet an der Universität von Mossul. Er […] findet auch, dass Fortschritte gemacht wurden. 'Die Situation nach Daesh ist schon besser als vor ihrer Ankunft' ***** war einer der ersten, der den stark bombardierten Campus der Universität wieder betrat, nachdem der IS im vergangene[n] Jahr verjagt worden war. Der Schaden in seinem Institut war gewaltig. 'Alles, was eine Verbindung zur Kunst hatte, wurde zerstört: Klaviere, Uds (arabische Lauten), Gitarren, aber auch Gemälde und Skulpturen', berichtet er.

[…]"

Das Bundesverwaltungsgericht begründet seine Entscheidung zusammengefasst damit, dass erhebliche Widersprüche im Kernvorbringen des Beschwerdeführers vorliegen und eine Verfolgung auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit vom Beschwerdeführer nicht glaubhaft gemacht werden könne.

Der IS übe in der Provinz Ninawa keine Herrschaftsgewalt mehr aus. Die letzten Gebiete des IS seien im Jahr 2017 zurückerobert worden. Zwar sei die Sicherheitslage in der Provinz Ninawa angespannt und der IS reklamiere zahlreiche Anschläge für sich, im Lichte der Länderfeststellungen könne keine Gruppenverfolgung der jesidischen Bevölkerung im besagten Gebiet festgestellt werden. Die bloße Zugehörigkeit zur jesidischen Religion bilde daher keinen ausreichenden Grund für eine Asylgewährung.

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 seien ebenfalls nicht gegeben. Es ergebe sich aus dem festgestellten Sachverhalt und auf Basis der Länderfeststellungen, dass dem Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in den Irak keine individuelle Bedrohung bzw Verfolgungsgefahr drohe, weshalb sich kein Rückkehrhindernis ergebe. Das Bundesverwaltungsgericht führt dazu im Wesentlichen folgendes aus:

"Es kann auf Basis der Länderfeststellungen auch nicht davon ausgegangen werden, dass generell jeder im Falle einer Rückkehr in den Irak mit existentiellen Nöten konfrontiert ist. Trotz der aktuell schwierigen Situation im Irak ist eine Rückkehr dorthin nicht automatisch mit einer Verletzung der in Art2 und 3 EMRK geschützten Rechte verbunden.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt im gegenständlichen Fall auch nicht, dass der Beschwerdeführer aus einem Ort rund 20 Km nord-östlich von Mosul stammt. Auch wenn Mosul einst das Zentrum des IS befand und der Westteil der Stadt durch die Rückeroberung völlig zerstört wurde bzw der Wiederaufbau schleppend vorangeht, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass eine vollkommene Zerstörung des Herkunftsortes der bP und ein Entzug jeglicher Existenzgrundlagen nicht behauptet wurde. Im Gegenteil, aus den getroffenen Länderfeststellungen leitet sich ab, dass die Region rund um Mosul zu einer 'gewissen' Normalität zurückkehrt. Überdies verfügt die bP im Herkunftsstaat über familiäre Anknüpfungspunkte und gehört einer Sippe an, welche im Vorort etabliert ist. Es ist somit nicht davon auszugehen, dass die bP im Falle einer Rückkehr völlig auf sich allein gestellt wäre. Es wird für die bP auch möglich sein, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, zumal es sich bei ihr um einen jungen, arbeitsfähigen Mann handelt, der vor seiner Ausreise in der Bauwirtschaft und der Gastronomie gearbeitet hat. Es wäre der bP zumutbar, durch eigene und notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite, zB. Verwandte, sonstige ihn schon bei der Ausreise unterstützende Personen, Hilfsorganisationen, religiös-karitativ tätige Organisationen — erforderlichenfalls unter Anbietung ihrer gegebenen Arbeitskraft als Gegenleistung — dazu beizutragen, um das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen zu können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine oder wenig Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer 'Schatten- oder Nischenwirtschaft' stattfinden, wobei hier auf kriminelle Aktivitäten nicht verwiesen wird.

[…]

Unter Berücksichtigung der individuellen Situation der bP ist festzuhalten, dass hinsichtlich der Lebensbedingungen in ihrem Herkunftsstaat von einer lebensbedrohenden Notlage, welche bei einer Rückkehr die reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung iSd Art3 EMRK indizieren würde, aus Sicht des BVwG nicht gesprochen werden kann.

[…]

Auf Grund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ergibt sich somit kein 'reales Risiko', dass es derzeit durch die Rückführung der bP in den Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Art2 EMRK, Art3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe kommen würde.

Es kam im Verfahren nicht hervor, dass konkret für die bP im Falle einer Rückverbringung in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr bestünde, als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt zu sein."

6. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten geltend gemacht und die kostenpflichte Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

7. Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 7. Juli 2021 wurde dem Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, Folge gegeben.

8. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Erwägungen

1. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht betreffend die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, die Nichtzuerkennung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und die Festsetzung einer Frist für die freiwillige Ausreise richtet, ist sie begründet:

1.1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2, 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

2.2. Der Verfassungsgerichtshof hat mehrfach darauf hingewiesen, dass ein Ermittlungsverfahren in verfassungsrechtlich relevanter Weise mangelhaft ist, wenn Länderberichte zu einer bestimmten Frage keine Sachverhaltsdarstellung enthalten und das Verwaltungsgericht keine dahingehenden zusätzlichen Ermittlungen anstellt (vgl VfGH 13.12.2017, E2497/2016 ua; 24.9.2018, E1034/2018 ua). Zudem hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes aufzuheben ist, wenn das Bundesverwaltungsgericht bei der Prüfung einer möglichen realen Gefahr einer Verletzung von Art2, 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bei der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden zu einem Ergebnis kommt, das weder aus den Länderberichten ableitbar ist noch sich aus anderen Ermittlungsergebnissen ergibt (VfGH 11.10.2017, E1803/2017 ua).

2.3. Das Bundesverwaltungsgericht tätigt Aussagen zur Möglichkeit einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsregion, die sich vor dem Hintergrund der im herangezogenen Länderberichte als nicht nachvollziehbar erweisen. Es erfolgt eine lediglich oberflächliche Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen, die eine Person wie der Beschwerdeführer in seiner Herkunftsregion vorfände sowie der Situation von Rückkehrern. Eine Erörterung darüber, ob und wie der Beschwerdeführer seine Herkunftsregion erreichen könne, fehlt gänzlich.

2.3.1. Das Bundesverwaltungsgericht zitiert Länderfeststellungen zur Sicherheitslage in der Region Bagdad (angefochtenes Erkenntnis S 11 f.), obwohl es an einer anderen Stelle feststellt, dass der Beschwerdeführer in seine Herkunftsregion nordöstlich von Mossul zurückkehren könne. Hinsichtlich seiner Herkunftsregion Mossul merkt das Bundesverwaltungsgericht ferner an, dass der Westteil von Mossul durch die Rückeroberung völlig zerstört worden sei, der Wiederaufbau schleppend vorangehe und im dritten Quartal 2019 in der Provinz Ninawa, in welcher Mossul liegt, 65 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 38 Toten erfasst worden seien.

Die weiteren Erwägungen zur Möglichkeit einer Rückkehr in die Herkunftsregion stehen im Widerspruch zu dem vom Bundesverwaltungsgericht zitierten Bericht der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Schweizerischen Eidgenossenschaft, Focus Irak, Lage der jesidischen Bevölkerung in Ninawa vom 16. Jänner 2020, S 36 ff.; vgl UNHCR Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen von Mai 2019, S 32 ff.):

Dem Bericht zufolge herrsche ein fragiles Verhältnis zwischen Jesiden und ihren arabischen und kurdischen muslimischen Nachbarn und das Verhältnis zu Kurden gelte als ambivalent. Die Stadt Sinjar sowie viele umliegende Dörfer seien vom IS zerstört worden oder durch noch nicht gezündete Explosionskörper vermint. Auch die ländlichen Gebiete um Sinjar seien nachhaltig zerstört, wobei auch das Wasserversorgungssystem zerstört worden sei. Trinkwasser werde von Lastwägen gebracht, eine flächendeckende medizinische Grundversorgung existiere nicht. In der Provinz Dohuk lebe zwar die Mehrzahl der jesidischen Binnenvertriebenen außerhalb von Flüchtlingslagern bei Verwandten, in informellen Verhältnissen oder seltener zur Miete. Auf Grund der hohen und steigenden Mietpreise siedeln Binnenvertriebene in Lager um, wobei es Wartelisten gebe. Jesidische Binnenvertriebene seien in der Provinz Dohuk stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als andere Binnenvertriebene im Irak. Zwar sei die medizinische Grundversorgung im Nordirak gewährleistet, jesidische Binnenvertriebene hätten jedoch nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen. Der Wiederaufbau der zerstörten Gebiete verlaufe schleppend, die Minengefahr sei hoch und Infrastrukturen seien ungenügend.

In der Stadt Mossul seien noch IS-Schläferzellen aktiv, im Jahr 2018 seien 186 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 567 Todesopfern dokumentiert worden und Regierungssoldaten und lokale Milizen begehen Menschenrechtsverletzungen, darunter illegale Geschäfte, unrechtmäßige Inhaftierungen und Erpressung. Der Westteil Mossuls sei zerstört, jedoch haben selbst die in den weniger zerstörten Gebieten der Stadt lebenden Menschen Schwierigkeiten, ihr Leben weiterzuführen (vgl Anfragebeantwortung der Staatendokumentation IRAK; Sicherheitslage, Wohnverhältnisse, Grund- und medizinische Versorgung in Mossul von 29. August 2019, S 2).

2.3.2. Das Bundesverwaltungsgericht führt im Rahmen der rechtlichen Beurteilung weiters aus, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat über familiäre Anknüpfungspunkte verfüge und einer Sippe angehöre, die vor Ort etabliert sei, weshalb er im Falle der Rückkehr nicht völlig auf sich alleine gestellt sei.

Dies widerspricht allerdings der vom Bundesverwaltungsgericht an anderer Stelle getroffenen Feststellung, dass zwar zwei Brüder und eine Schwester des Beschwerdeführers im Irak leben, zu diesen jedoch kein Kontakt bestehe und nicht bekannt sei, wo sich diese Familienangehörigen aufhalten.

Ferner fehlen nähere Angaben darüber, ob der Stamm, dem der Beschwerdeführer angehört, trotz früherer Herrschaft des IS und der in der Region erfolgten Vertreibungen nach wie vor im Herkunftsort ansässig ist. Dies ist vor allem deshalb nicht nachvollziehbar, weil aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderberichten hervorgeht, dass per Mai 2019 etwa 3000 vom IS verschleppte Jesiden noch verschollen seien und sie sich vermutlich noch in Gefangenenlagern im Norden Syriens, teils in denselben Lagern wie IS-Mitglieder, befinden (vgl den vom BVwG zitierten Bericht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Focus Irak, Lage der jesidischen Bevölkerung in Ninawa vom 16. Jänner 2020, S 35).

2.3.3. Das Bundesverwaltungsgericht setzt sich schließlich an keiner Stelle mit der sicheren Erreichbarkeit des Herkunftsortes des Beschwerdeführers auseinander. Es werden keine Feststellungen getroffen, wohin ein etwaiger Rückflug zu erfolgen hat und wie der Beschwerdeführer in weiterer Folge auf dem Landweg seinen Herkunftsort erreichen kann. Dies ist im vorliegenden Fall von besonderer Bedeutung, weil es sich beim Beschwerdeführer um einen jesidischen Kurden handelt, dessen Heimatprovinz an der Grenze zur autonomen Region Kurdistan liegt.

Die EASO Country Guidance vom Jänner 2021 zum Irak weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Straßenverkehr im Irak auf Grund von Bombenanschlägen und Attacken auf Fahrzeuge, falschen Checkpoints und Raubüberfällen als gefährlich gilt (EASO Country Guidance vom Jänner 2021 zum Irak, S 167). Ferner räumt die irakische Verfassung zwar ein Recht auf Bewegungsfreiheit ein, dieses sei jedoch in der autonomen Region Kurdistan eingeschränkt. Im Falle der Einreise in den Irak über den Flughafen Erbil sei etwa die Kontaktaufnahme des "Asayish" der Wohnregion notwendig, um eine Wohnsitzkarte zu erhalten. Schließlich seien Checkpoints eingerichtet, wobei in vielen Fällen die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit von den verschiedenen Milizen, die Kontrollpunkte betreiben, genutzt wird, um den Zugang zu einer bestimmten Region zu erlauben oder zu verweigern, was teils unmittelbare Folgen für die Sicherheit von Personen hat (EASO Country Guidance vom Jänner 2021 zum Irak, S 169).

Derartigen Länderberichten, wie insbesondere auch den Richtlinien des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR), ist bei der Beurteilung der Situation im Rückkehrstaat bei der Prüfung, ob dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist, besondere Beachtung zu schenken (vgl VfGH 6.10.2020, E2795/2019 mwN). Das bedeutet insbesondere, dass sich das Bundesverwaltungsgericht mit den aus diesen Länderberichten hervorgehenden Problemstellungen im Hinblick auf eine Rückkehr des Beschwerdeführers in den Irak, und zwar in Bezug auf die konkrete Situation des Beschwerdeführers, auseinanderzusetzen hat.

Das Bundesverwaltungsgericht hätte sich damit auseinandersetzen müssen, ob vor dem Hintergrund der zitierten Länderberichte die Einreise für den Beschwerdeführer in seine Heimat überhaupt möglich ist (vgl zur notwendigen Auseinandersetzung mit der sicheren Erreichbarkeit des Herkunftsortes bzw der innerstaatlichen Fluchtalternative VfGH 11.6.2018, E2776/2017; E4317/2017).

2.4. Da es das Bundesverwaltungsgericht unterlassen hat, sich widerspruchsfrei mit der aktuellen Lage sowie der Erreichbarkeit jener Region auseinanderzusetzen, aus welcher der Beschwerdeführer stammt und dies in der Begründung des Erkenntnisses mit der individuellen Situation des Beschwerdeführers in Beziehung zu setzen, hat das Bundesverwaltungsgericht Willkür geübt (zu diesen Anforderungen in den Irak betreffenden Fällen vgl VfGH 7.3.2017, E1848/2015; 7.3.2017, E2100/2016; 9.6.2017, E3235/2016; 9.6.2017, E566/2017; 27.2.2018, E2927/2017; 11.6.2018, E4317/2017; 26.6.2018, E4387/2017; 25.9.2018, E1764/2018 ua).

2.5. Soweit sich das Erkenntnis auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie die Zulässigerklärung der Rückkehrentscheidung bzw der Abschiebung in den Herkunftsstaat Irak unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise bezieht, ist es mit Willkür behaftet und insoweit aufzuheben.

3. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde gemäß Art144 B-VG ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, abzusehen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung sowie die Festsetzung der Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

Schlagworte

Asylrecht, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E1186.2021

Zuletzt aktualisiert am

11.01.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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