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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung eines Antrags auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sacher sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des subsidiär Schutzberechtigten betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan; mangelhafte Auseinandersetzung mit der Asylrelevanz des Vorbringens (Konversion) im Rahmen des Folgeantrages sowie mit der extremen Volatilität der Sicherheitslage bei der Prüfung des subsidiären SchutzstatusSpruch
I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde abgewiesen wird (Spruchpunkt A.I.), im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Er ist in der Provinz Herat geboren, verließ Afghanistan im Alter von fünf Jahren und lebte anschließend bis zu seiner Ausreise im Iran.
2. Der Beschwerdeführer stellte in Österreich am 11. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz mit der Begründung, dass er in Afghanistan keine Lebensgrundlage habe. Dieser Antrag wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 2. Oktober 2020 als unbegründet abgewiesen.
3. In der Folge reiste der Beschwerdeführer nach Frankreich aus, wo er einen weiteren Asylantrag stellte. Dem Wiederaufnahmeersuchen Frankreichs stimmte Österreich zu. Der Beschwerdeführer kehrte selbständig nach Österreich zurück, wo er am 20. Mai 2021 zu seinem Folgeantrag erstbefragt wurde.
Mit Bescheid vom 9. Juni 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Folgeantrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten sowie des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zurück, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist und keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht, und erließ ein auf zwei Jahre befristetes Einreiseverbot.
4. Mit Erkenntnis vom 30. Juni 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.) und den Antrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß §17 Abs1 BFA-VG zurück (Spruchpunkt A.II.).
4.1. Im Wesentlichen schließt das Bundesverwaltungsgericht zunächst eine Änderung des Sachverhaltes hinsichtlich einer asylrelevanten Verfolgung aus, weil die erstmals im Folgeantrag behauptete Konversion des Beschwerdeführers seinen eigenen Angaben zufolge bereits im ersten Asylverfahren vorgelegen sei. Insofern liege schon aus diesem Grund eine entschiedene Sache vor.
4.2. Auch hinsichtlich des Folgeantrages auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten geht das Bundesverwaltungsgericht von keiner Änderung des maßgeblichen Sachverhaltes aus. Zur Sicherheitslage und speziell zum Vorstoß der Taliban auf Grund des Abzuges internationaler Truppen führt das Bundesverwaltungsgericht beweiswürdigend Folgendes aus:
"Die Feststellung, wonach sich an der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in Bezug auf die bereits im ersten Asylverfahren behandelten maßgeblichen Aspekte nichts geändert hat, beruht auf den im angefochtenen Bescheid enthaltenen – dem Beschwerdeführer somit bekannten – Länderberichten vom 01.04.2021 sowie auf dem aktualisierten Länderinformationsblatt vom 11.06.2021, welches auch den Inhalt der in der Beschwerde angeführten aktuellen Medienberichte über den Vorstoß der Taliban seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen in Afghanistan widerspiegelt. Den Taliban ist es gelungen, mehrere Distrikte zurückzuerobern. Eine maßgebliche Änderung der Sicherheitslage in den Städten Mazar-e Sharif und Herat ist jedoch weder aktuellen Medienberichten noch den ausgewogenen und auf verschiedenen Quellen basierenden Länderinformationen zu entnehmen. Wie in der rechtlichen Beurteilung ausgeführt wird, ist im Ergebnis in diesen Städten auch eine innerstaatliche Fluchtalternative zumutbar. Es ergaben sich keine Anhaltspunkte dafür, weswegen ausgerechnet der junge und arbeitsfähige Beschwerdeführer aufgrund seiner persönlichen Situation in der Relation zu den anderen dort lebenden Menschen in einem der Stadteile von Mazar-e Sharif oder Herat nicht sicher leben könne. Auch in einer dieser beiden Städte wird es dem Beschwerdeführer, der über eine achtjährige Schulbildung und insgesamt 15 Jahre Berufserfahrung als Maler, Tischler und Bauarbeiter verfügt, mittels Inanspruchnahme der Rückkehrhilfe möglich sein, Arbeit und Unterkunft zu finden, sodass er im Falle seiner Neuansiedlung in einer dieser Städte in keine existenzbedrohende Lage geraten wird."
In seiner rechtlichen Beurteilung führt das Bundesverwaltungsgericht schließlich Folgendes aus:
"Auch mit Blick auf den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Lage im Herkunftsstaat seit der Entscheidung im ersten Asylverfahren nicht wesentlich geändert. Zwar ist den Taliban ein Vorstoß in gewissen Gebieten Afghanistans gelungen, die Städte Mazar-e Sharif und Herat werden jedoch nach wie vor von der afghanischen Regierung kontrolliert. Auch die jüngsten Anschläge im Mai 2021 […] ereigneten sich in den Städten Kabul bzw Zabul, wohingegen der angekündigte internationale Truppenabzug in Hinblick auf die Städte Mazar-e Sharif und Herat keine zum gegenwärtigen Zeitpunkt feststellbare unmittelbare Änderung der Sicherheitslage mit sich brachte. Insofern kann keine wesentliche Änderung der Lage in den Städten Mazar-e Sharif und Herat im Vergleich zu jenen Länderberichten, die dem das Erstverfahren abschließenden Erkenntnis vom 02.10.2020 zugrunde gelegt wurden, erkannt werden."
5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt werden. Der Beschwerdeführer bringt unter anderem vor, dass sich die Sicherheitslage in ganz Afghanistan zuletzt wieder derart verschlechtert habe, dass eine Rückkehr dorthin nicht als zulässig erachtet werden könne.
6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.
II. Erwägungen
A. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses wendet, mit dem die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht abgewiesen wird, ist sie begründet:
1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2. Derartige, in die Verfassungssphäre reichende Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung unterlaufen:
2.1. Zur Zurückweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten:
2.1.1. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit seiner Entscheidung vom 9. September 2021, Rs C-18/20, XY/BFA, aus Anlass eines Vorabentscheidungsersuchens des Verwaltungsgerichtshofes zu Auslegungsfragen des Art40 der Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung), ABl. 2013 L 180, 61, im Zusammenhang mit der Berücksichtigung von Tatsachen in einem Folgeantrag, die sich bereits vor dem rechtskräftigen Abschluss eines früheren Asylverfahrens ereignet haben, Folgendes ausgesprochen:
"1. Art40 Abs2 und 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist dahin auszulegen, dass die Wendung 'neue Elemente oder Erkenntnisse', die 'zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind', im Sinne dieser Bestimmung sowohl Elemente oder Erkenntnisse, die nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über den früheren Antrag auf internationalen Schutz eingetreten sind, als auch Elemente oder Erkenntnisse umfasst, die bereits vor Abschluss dieses Verfahrens existierten, aber vom Antragsteller nicht geltend gemacht wurden.
2. Art40 Abs3 der Richtlinie 2013/32 ist dahin auszulegen, dass die Prüfung eines Folgeantrags auf internationalen Schutz in der Sache im Rahmen der Wiederaufnahme des Verfahrens über den ersten Antrag vorgenommen werden kann, sofern die auf diese Wiederaufnahme anwendbaren Vorschriften mit Kapitel II der Richtlinie 2013/32 im Einklang stehen und für die Stellung dieses Antrags keine Ausschlussfristen gelten.
3. Art40 Abs4 der Richtlinie 2013/32 ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat, der keine Sondernormen zur Umsetzung dieser Bestimmung erlassen hat, nicht gestattet, in Anwendung der allgemeinen Vorschriften über das nationale Verwaltungsverfahren die Prüfung eines Folgeantrags in der Sache abzulehnen, wenn die neuen Elemente oder Erkenntnisse, auf die dieser Antrag gestützt wird, zur Zeit des Verfahrens über den früheren Antrag existierten und in diesem Verfahren durch Verschulden des Antragstellers nicht vorgebracht wurden."
2.1.2. Auch wenn die Behörde einen Folgeantrag auf internationalen Schutz gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache zurückweist, hat das über die dagegen erhobene Beschwerde entscheidende Bundesverwaltungsgericht das Vorbringen des Asylwerbers dahingehend zu prüfen, ob ein erstmals vorgebrachter Fluchtgrund, soweit er sachverhaltsändernde Elemente enthält, einen glaubhaften Kern aufweist und ob er im Lichte des Art3 EMRK einer Rückführung aktuell entgegensteht (vgl zB VfGH 9.10.2018, E1297/2018 ua; 28.11.2019, E2006/2019 ua; 8.6.2020, E2751/2019).
2.1.3. Vor diesem Hintergrund hätte sich das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall jedenfalls mit der Frage auseinanderzusetzen gehabt, ob das Vorbringen des Beschwerdeführers, das nach der zitierten Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union "neue Elemente oder Erkenntnisse" iSd Art40 Abs2 und 3 RL 2013/32/EU darstellt, bereits im Rahmen des Folgeantrages auf das Vorliegen eines glaubhaften Kerns zu prüfen ist oder ob dies im Rahmen einer Wiederaufnahme des bereits abgeschlossenen früheren Asylverfahrens möglich ist (siehe zur Beantwortung dieser Frage VwGH 19.10.2021, Ro 2019/14/0006). Daran ändert auch nichts, dass die zitierte Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung noch nicht ergangen war, weil der Verfassungsgerichtshof den nun offenkundigen Begründungsmangel des Erkenntnisses des Bundeverwaltungsgerichtes jedenfalls aufzugreifen hat (vgl idZ VfSlg 16.401/2001). Da das Bundesverwaltungsgericht in diesem wesentlichen Punkt seiner Begründungs- und Ermittlungspflicht nicht nachgekommen ist, erweist sich seine Entscheidung hinsichtlich der Zurückweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als objektiv willkürlich.
2.2. Zur Zurückweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan:
2.2.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
2.2.2. Das Bundesverwaltungsgericht legt seinen Feststellungen zur Lage in Afghanistan allgemein das auch vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl herangezogene "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11.06.2021" (im Folgenden: Länderinformationsblatt vom 11. Juni 2021) zugrunde. Spezifisch hinsichtlich der "Sicherheitslage im Jahr 2021" stellt das Bundesverwaltungsgericht Folgendes fest:
"Mit April bzw Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021). Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman (LWJ 20.5.2021) und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen 'taktischen Rückzug' angetreten hatten (RFE/RL 12.5.2021b; vgl TN 12.5.2021, AJ 12.5.2021). Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung (BAMF 31.5.2021; vgl UNOCHA 2.6.2021).
Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte (LWJ 6.6.2021; vgl DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021). Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen (LWJ 6.6.2021; vgl RFE/RL 1.6.2021). Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert (LWJ 6.6.2021; vgl DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021)."
Im Kapitel zu den Taliban stellt das Bundesverwaltungsgericht unter "Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse" auszugsweise Folgendes fest:
"Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident *********, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im 'Jihad' der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt (BBC 15.4.2021; vgl VIDC 26.4.2021). Für die Taliban ist die Errichtung einer 'islamischen Struktur' eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert (VIDC 26.4.2021).
Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten (BBC 15.4.2021; vgl VIDC 26.4.2021)."
Weiters finden sich in dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt vom 11. Juni 2021 im Kapitel "Abzug der Internationalen Truppen" auszugsweise folgende Informationen, die das Bundesverwaltungsgericht seiner Entscheidung aber nicht ausdrücklich zugrunde legt:
"Im April kündigte US-Präsident ********* den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl RFE/RL 19.5.2021, AAN 1.5.2021, BBC 23.4.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). […]
[…] Der Abzug wird eine große Bewährungsprobe für die afghanischen Sicherheitskräfte sein. US-Generäle und andere Offizielle äußerten die Befürchtung, dass er zum Zusammenbruch der afghanischen Regierung und einer Übernahme durch die Taliban führen könnte (RFE/RL 19.5.2021).
Viele befürchten, dass mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan eine neue Phase des Konflikts und des Blutvergießens beginnen wird (VIDC 26.4.2021; vgl AAN 1.5.2021, GM 18.5.2021). Mit dem Abzug der US-Truppen in den nächsten Monaten können die ANDSF mit einem Rückgang der Luftunterstützung und der Partner am Boden rechnen (AAN.1.5.2021; vgl GM 18.5.2021), während die Taliban in jüngsten Äußerungen [Anm: Ende April 2021] von einem bevorstehenden Sieg sprachen (RFE/RL 12.5.2021a; vgl BBC 15.4.2021). Es gab auch einen Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet werden (RFE/RL 12.5.2021a) und verstärkte Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im April (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, LWJ 20.5.2021). […]"
2.2.3. Das Bundesverwaltungsgericht geht im angefochtenen Erkenntnis vom 30. Juni 2021 davon aus, dass für den Beschwerdeführer in den Städten Mazar-e Sharif und Herat eine (Neu-)Ansiedlungsmöglichkeit gegeben sei. Zwar sei den Taliban ein Vorstoß in gewissen Gebieten gelungen, die Städte Mazar-e Sharif und Herat stünden jedoch weiterhin unter der Kontrolle der Regierung, sodass keine wesentliche Änderung der Sicherheitslage im Vergleich zum Erstverfahren zu erkennen sei.
2.2.4. Damit verkennt das Bundesverwaltungsgericht seine aus Art2 und 3 EMRK folgende Verpflichtung, zu beurteilen, ob für den Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die vom Bundesverwaltungsgericht in Betracht gezogenen Orte in seinem Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung der genannten Grundrechte, insbesondere eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes bestehen würde:
Das Bundesverwaltungsgericht legt seiner Entscheidung insbesondere das Länderinformationsblatt vom 11. Juni 2021 zugrunde. Auf Grund dieser Informationen war es dem Bundesverwaltungsgericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung erkennbar, dass auf Grund der aktuellen Entwicklungen in Afghanistan die Gefahr einer das ganze Land betreffenden kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Taliban und Regierungstruppen und damit eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konfliktes für Angehörige der Zivilbevölkerung wie den Beschwerdeführer gegeben war. So wird etwa im Länderinformationsblatt vom 11. Juni 2021 nicht nur von einer vielfach befürchteten massiven Verschlechterung der Sicherheitslage im Falle des Abzuges internationaler Truppen berichtet, sondern auch darüber, dass sich die Sicherheitslage nach dem erfolgten Truppenabzug tatsächlich stetig verschlechtert habe. In diesem Sinne halten die genannten Länderinformationen ausdrücklich fest, dass auf Grund des US-Truppenabzuges der Beginn "eine[r] neue[n] Phase des Konflikts und des Blutvergießens", der "Zusammenbruch der afghanischen Regierung" und die "Übernahme durch die Taliban" zu befürchten sei, und verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass die "Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, […] in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen [habe], den Vormarsch der Taliban aufzuhalten". Die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen hätten seit dem Abzug der internationalen Truppen im April stark zugenommen. Die Taliban hätten "den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt" und "seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert".
Auch auf Grund der breiten medialen Berichterstattung über die Entwicklungen in Afghanistan, die für das Bundesverwaltungsgericht als notorisch gelten können (vgl VfGH 23.2.2015, E882/2014), musste das Bundesverwaltungsgericht davon ausgehen, dass die Sicherheitslage in Afghanistan als extrem volatil einzustufen ist (zur Bedeutung dieses Umstandes für die Beurteilung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinne des Art2 und 3 EMRK siehe statt vieler VfSlg 19.466/2011, 20.296/2018, 20.358/2019; VfGH 6.10.2020, E2406/2020).
Vor diesem Hintergrund war das Bundesverwaltungsgericht damit verpflichtet, das Vorliegen einer realen Gefahr einer Verletzung des Art2 oder 3 EMRK bei einer Rückkehr des Beschwerdeführers angesichts der sich nahezu täglich ändernden Situation in der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung und ihren Truppen eingehend auch im Hinblick auf die laufende Entwicklung zu prüfen (vgl EGMR 23.3.2016 [GK], Fall F.G., Appl 43.611/11 [Z114, 116]). Dieser Verpflichtung genügt das Bundesverwaltungsgericht in dieser besonderen, durch eine extreme Volatilität auf Grund einer sich äußerst rasch verändernden Sicherheitslage gekennzeichneten Situation nicht, wenn es momentbezogen eine kriegerische Auseinandersetzung an bestimmten Orten verneint, ohne die ernsthafte Bedrohung durch eine nachvollziehbar befürchtete, landesweit bereits teilweise tatsächlich eingetretene und möglicherweise auch an den vom Bundesverwaltungsgericht für eine Rückkehr des Beschwerdeführers in Betracht gezogenen Orten unmittelbar bevorstehende wesentliche Verschlechterung der Sicherheitslage mit in den Blick zu nehmen.
3. Das Bundesverwaltungsgericht hat sein Erkenntnis daher sowohl hinsichtlich der Zurückweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zurückweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan sowie – daran anknüpfend – hinsichtlich der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung, der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung unter Ausschluss einer Frist für die freiwillige Ausreise sowie des auf zwei Jahre befristeten Einreiseverbotes (Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses) mit Willkür belastet.
B. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung (Spruchpunkt A.II. des angefochtenen Erkenntnisses) richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:
Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
Der Beschwerdeführer behauptet die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.
5. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Schlagworte
Asylrecht, res iudicata, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung, EU-Recht, VorabentscheidungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:E2979.2021Zuletzt aktualisiert am
11.01.2022