Index
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AVG §45 Abs2Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der Niederösterreichischen Landesregierung gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 15. Juli 2021, Zl. LVwG-AV-1295/001-2020, betreffend Staatsbürgerschaft (mitbeteiligte Partei: A M in A, vertreten durch Mag.rer.soc.oec.Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Vorgeschichte
1 Mit Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung (Amtsrevisionswerberin) vom 15. September 2020 wurde der Antrag des Mitbeteiligten, eines Staatsangehörigen von Pakistan, auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 Z 6 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) abgewiesen.
2 Begründend führte die Amtsrevisionswerberin im Wesentlichen aus, das Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung der Landespolizeidirektion Niederösterreich (LVT) habe in seiner Stellungnahme vom 16. März 2020 darauf hingewiesen, dass sich der Mitbeteiligte zur islamischen Tablighi Jamaat-Bewegung (im Folgenden: TJ) bekenne. Diese Bewegung sei „eine sunnitische-islamische Frömmigkeits- und Missionsbewegung, deren Ziel es ist, Muslime, die keinen inneren Bezug zu ihrer Religion haben, zu einem streng an Koran und Sunna ausgerichteten Leben hinzuführen. Die Anhänger dieser Bewegung üben regelmäßig missionarische Tätigkeiten aus, deren Zweck die Islamisierung der Gesellschaft und der Wandel der durch westliche Werte geprägten Gesellschaft zu einer islamischen Gesellschaftsform ist.“
3 Die Behauptung des Mitbeteiligten, kein Mitglied dieser Bewegung zu sein, sondern „lediglich an einer Wanderung teilgenommen zu haben“, sei nicht glaubwürdig, da er selbst im Zuge einer Amtshandlung am 18. Juni 2017 - dabei seien sechs Personen schlafend unter der Y-Brücke in A angetroffen worden - gegenüber den Exekutivbeamten als Gruppensprecher fungiert und erklärt habe, dass er auf einer Wanderung (dieser Bewegung) wäre. Es erscheine höchst unglaubwürdig, dass der als Gruppensprecher gegenüber Exekutivbeamten fungierende Mitbeteiligte einer religiösen Pilgergruppe nicht selbst Mitglied dieser religiösen Gruppe sei.
4 Die offenkundige Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, die sich zum Ziel setze, durch missionarische Tätigkeiten die Gesellschaft zu islamisieren und die durch westliche Werte geprägte Gesellschaft in eine islamische Gesellschaftsform umzuwandeln, sei im Hinblick auf die im § 10 Abs. 1 Z 6 StbG geforderte bejahende Einstellung zur Republik kritisch zu sehen.
5 Wie aus dem Bericht des LVT vom 16. März 2020 hervorgehe, sei der Mitbeteiligte auch mehrfach durch Äußerungen bzw. durch sein Verhalten gegenüber Exekutivbeamten negativ in Erscheinung getreten.
6 So habe der Mitbeteiligte am 27. Juli 2016 gegenüber Beamten der Polizeiinspektion A „zur damaligen Lage des Islamischen Staates in Europa“ angegeben, „dass das alles nichts mit dem IS zu tun habe. Die Anschläge hätten psychisch kranke Menschen verübt, seien inszeniert und der Priester sei von Franzosen selbst umgebracht worden“. Mit dieser Aussage habe der Mitbeteiligte den Anschlag in Saint-Étienne-du-Rouvray angesprochen, „bei dem am 26. Juli 2016 zwei Attentäter in eine Kirche eingedrungen waren, wo der 85-jährige Priester ... mit fünf anderen Gläubigen eine Messe hielt ... Die Attentäter schnitten dem Priester die Kehle durch und verletzten einen zweiten Mann schwer“. Es sei unrichtig, der Anschlag habe „nicht mit dem IS zu tun gehabt, da sich beide Attentäter zur Terrororganisation Islamischer Staat bekannt hatten und über die IS Propaganda mitgeteilt worden war, dass die Angreifer ‚Soldaten des Islamischen Staates‘ gewesen wären“. Weiter habe der Mitbeteilige angegeben: „Weiters sei im Koran festgehalten, dass die Christen im IS Gebiet nur zum Zahlen von Steuern verpflichtet wären“.
7 Auf Grund dieser Aussagen sei zwar nicht davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte selbst gewaltbereit sei, aber dass er die „Institution IS“ nicht grundsätzlich verurteile, sondern sich vielmehr mit ihren politischen und religiösen Ideen und Vorstellungen offenbar so stark identifiziere, dass er den IS sogar gegenüber österreichischen Exekutivbeamten verteidige.
8 Im Zuge der Befragung am 23. Oktober 2017 habe sich der Mitbeteiligte gegenüber Beamten des LVT „ungehalten und sehr unkooperativ gezeigt“. Er habe eine nähere Befragung verweigert und gemeint, dass dazu schriftlich ein Termin bei ihm beantragt werden könne. Dann würde er entscheiden, ob er kommen würde. Damit habe der Mitbeteiligte „ein Verhalten an den Tag gelegt“, mit dem er deutlich gemacht habe, „wie wenig Achtung und Wertschätzung“ er „gegenüber den Einrichtungen der Republik Österreich und den Repräsentanten der staatlichen Ordnungsgewalt“ habe.
9 Somit habe der Mitbeteiligte in den letzten Jahren vor Antragstellung mehrmals ein Verhalten gezeigt, aus dem geschlossen werden müsse, dass er der Republik Österreich und ihren grundlegenden Institutionen gegenüber grundsätzlich negativ eingestellt sei. Es könne daher nicht gesagt werden, dass der Mitbeteiligte nach seinem bisherigen Verhalten Gewähr dafür biete, dass er zur Republik bejahend eingestellt sei.
Angefochtenes Erkenntnis
10 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde der Beschwerde des Mitbeteiligten gegen diesen Bescheid der Amtsrevisionswerberin gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG Folge gegeben und der angefochtene Bescheid aufgehoben. Die Revision wurde für nicht zulässig erklärt.
11 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der Mitbeteiligte nicht bejahend zur Republik Österreich eingestellt sei.
12 Der Mitbeteiligte sei muslimischen Glaubens und praktiziere auch seinen Glauben. Er sei Anhänger der TJ, einer sunnitisch-islamischen Frömmigkeits- und Missionsbewegung, deren Ziel es sei, Muslime, die keinen inneren Bezug zu ihrer Religion hätten, zu einem streng an Koran und Sunna ausgerichteten Leben hinzuführen. Gewalt werde grundsätzlich abgelehnt. Die Bewegung begreife sich selbst als unpolitisch. Dass diese Religionsgemeinschaft sich zum Ziel setze, durch missionarische Tätigkeiten die Gesellschaft zu islamisieren und die durch westliche Werte geprägte Gesellschaft in eine islamische Gesellschaftsform umzuwandeln, könne nicht festgestellt werden.
13 Der Mitbeteiligte sei im Jahr 2016 gemeinsam mit Freunden in Rumänien gewesen, „um Moscheen zu besuchen“. „Im Zuge dessen“ sei er „von der Polizei in Österreich kontrolliert“ worden, da „allgemein damals bei Männern, die Richtung Osten gereist sind, der Verdacht bestand, dass sie sich dem Islamischen Staat anschließen könnten“. Dabei sei es zu Hausdurchsuchungen beim Mitbeteiligten gekommen, der diese zugelassen und sich kooperativ verhalten habe. Lediglich (bei der im Bescheid der Amtsrevisionswerberin angesprochenen Befragung) am 23. Oktober 2017 sei er gegenüber Beamten der Polizei unwillig gewesen, als sie ihn im Vorraum des Moscheevereines A in A befragt hätten. Diesbezüglich könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Mitbeteiligte ungehalten gewesen sei, „weil er in einem religiösen Kontext vor anderen Glaubensbrüdern von der Polizei befragt werden sollte und ihm eine Kontaktaufnahme zu einem vorgegebenen Termin lieber gewesen wäre“.
14 Am 27. Juli 2016 habe der Mitbeteiligte gegenüber Beamten der Polizeiinspektion A „zur damaligen Lage des Islamischen Staates in Europa“ angegeben, „dass das alles nichts mit IS zu tun habe“ und die Anschläge „hätten psychisch kranke Menschen verübt, seien inszeniert und der Priester sei von Franzosen selbst umgebracht worden“. Diesbezüglich habe der Mitbeteiligte zum Ausdruck bringen wollen, dass „die Taten nichts mit dem Islam an sich zu tun hätten, sondern von psychisch Kranken verübt worden seien, er wollte nicht den Islamischen Staat verteidigen“.
15 Zu diesen Feststellungen gelangte das Verwaltungsgericht auf Grund im angefochtenen Erkenntnis näher dargelegter beweiswürdigender Überlegungen. Unter anderem führte das Verwaltungsgericht aus, der Mitbeteiligte habe in der Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht deutlich dargestellt, dass er der österreichischen Rechtsordnung gegenüber positiv eingestellt sei und „Österreich für ihn wie eine Heimat ist, zumal er sein halbes Leben hier verbracht hat“.
16 In der Verhandlung habe er bestritten, ein Anhänger der TJ zu sein. Dies wirke allerdings nicht glaubhaft, da der als Zeuge vernommene Vertreter des LVT nachvollziehbar dargelegt habe, dass der Mitbeteiligte sich bei einer Einvernahme als Anhänger dieser Bewegung zu erkennen gegeben habe. Das Verwaltungsgericht gehe daher davon aus, dass der Mitbeteiligte dieser Bewegung „nahesteht“, zumal er selbst angegeben habe, „seinen Glauben zu praktizieren, wann immer es ihm möglich ist“.
17 Die Feststellungen zur TJ basierten einerseits „auf dem Eintrag in Wikipedia, andererseits auf den schlüssigen Angaben“ des Vertreters des LVT, der ausgesagt habe, „dass er in seiner langjährigen Tätigkeit nicht die Erfahrung gemacht habe, dass es das Ziel dieser Bewegung sei, durch missionarische Tätigkeiten die durch westliche Werte geprägte Gesellschaft in eine islamische Gesellschaftsform umzuwandeln“. Insofern „ist nicht dem Wikipedia-Eintrag zu folgen, zumal dort keine Quelle für diese Behauptung angeführt wird“.
18 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, Sache des gegenständlichen Beschwerdeverfahrens sei lediglich die Frage, ob der Antrag auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft mit dem angefochtenen Bescheid der Amtsrevisionswerberin gemäß § 10 Abs. 1 Z 6 StbG zu Recht abgewiesen worden sei. Dem Verwaltungsgericht sei es daher verwehrt, den angefochtenen Bescheid dahingehend abzuändern, dass dem nunmehrigen Beschwerdeführer die Verleihung der Staatsbürgerschaft gemäß § 20 StbG zugesichert werde.
19 Zum Verleihungshindernis des § 10 Abs. 1 Z 6 erster Fall StbG sei festgestellt worden, der Mitbeteiligte sei „als praktizierender Moslem Anhänger der „Religionsgemeinschaft Tablighi Jamaat-Bewegung ..., die Gewalt ablehnt und unpolitisch ist“. Auch der Mitbeteilige selbst lehne Gewalt ab. Er sei „in seinem Handeln von Menschlichkeit dominiert, er ist positiv zur Republik Österreich und zur Rechtsordnung eingestellt“. Aus dem Umstand, dass der Mitbeteiligte „vor ca. 4 Jahren ungehalten anlässlich einer Einvernahme im Vorraum einer Moschee in A gegenüber der Polizei gewesen ist“, lasse sich keine negative Einstellung gegenüber der Republik Österreich ableiten (Verweis auf VwGH 14.12.1994, 93/01/0852).
20 „Darauf, dass“ der Mitbeteiligte eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit im Sinne des § 10 Abs. 1 Z 6 zweiter Fall StbG darstelle, lägen keine Hinweise vor, „ist er doch unbescholten und wird auch nicht gegen ihn ermittelt“.
21 Da daher nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes die Verleihungsvoraussetzungen des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG sowie (mit näherer Begründung) auch der übrigen Ziffern des Abs. 1 und des Abs. 2 leg. cit. gegeben seien, habe die Amtsrevisionswerberin in weiterer Folge einen entsprechenden Zusicherungsbescheid gemäß § 20 StbG zu erlassen.
22 Die Unzulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht textbausteinartig.
Vorverfahren vor dem VwGH
23 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die vom Verwaltungsgericht gemäß § 30a Abs. 7 VwGG unter Anschluss der Akten des Verfahrens vorgelegt wurde.
24 Der Mitbeteiligte erstattete nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof eine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Zulässigkeit
25 Die Amtsrevision führt zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen aus, aus den „Aktenunterlagen“ sei zweifelsfrei erkennbar, dass der Mitbeteiligte ein Anhänger der TJ sei. Auf Grund von Berichten des „Verfassungsschutzes“ sowie des „deutschen Verfassungsschutzes“ sei erwiesen, dass Anhänger der TJ äußerst religiös geprägte Personen seien, die Gott als höchste und alleinige Instanz des menschlichen Handelns ansähen, westliche Wertvorstellungen ablehnten und auf Grund der wortgetreuen Interpretation des Koran islamischen Rechtsvorschriften den Vorrang gegenüber staatlichen Gesetzen einräumten. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG könne nur bejaht werden, wenn vom Gesamtverhalten des Bewerbers her auf keine grundsätzlich negative Einstellung zur Republik Österreich bzw. zu deren grundlegenden Institutionen geschlossen werden könne (Verweis auf VwGH 14.12.1994, 93/01/0852). Der Mitbeteiligte habe seit seiner Einreise ins Bundesgebiet immer wieder, nämlich durch seine Teilnahme an Missionierungsreisen in den Jahren 2016 und 2017, im Zuge der Personenkontrolle durch Beamte der Polizeiinspektion A am 27. Juli 2016, im Zuge der Personenkontrolle durch Beamte des LVT am 23. Oktober 2017 und im Zuge der Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 21. Juni 2021, ein Verhalten gezeigt, auf Grund dessen geschlossen werden müsse, dass es ihm als Anhänger einer religiös-fundamentalistischen Bewegung an der im § 10 Abs. 1 Z 6 erster Fall StbG geforderten bejahenden Einstellung zur Republik fehle. Da diese Vorfälle erst innerhalb der letzten fünf Jahre erfolgt seien, sei darauf zu schließen, dass der Mitbeteiligte auch künftig eine radikale religiös-fundamentalistische Einstellung hege, die einer Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft entgegenstehe.
26 Bei richtiger Beweiswürdigung hätte das Verwaltungsgericht daher zum Ergebnis kommen müssen, dass auf Grund des Gesamtverhaltens des Mitbeteiligten auf eine grundsätzlich negative Einstellung zur Republik Österreich bzw. zu deren grundlegenden Institutionen geschlossen werden müsse. Dass das Verwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten Folge gegeben habe und den angefochtenen Bescheid aufgehoben habe, sei jedenfalls ein unvertretbares Ergebnis.
27 Es bedürfe somit über den konkreten Einzelfall hinaus einer Klärung durch den Verwaltungsgerichtshof, ob eine Person mit erwiesener radikal-religiös-fundamentalistischer Einstellung das Verleihungshindernis des § 10 Abs. 1 Z 6 erster Fall StbG verwirkliche.
28 Die Revisionsbeantwortung hält dem entgegen, eine Beurteilung nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG unterliege grundsätzlich der einzelfallbezogenen Beurteilung. Eine grob fehlerhafte Beurteilung und Würdigung durch das Verwaltungsgericht liege nicht vor.
29 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch berechtigt.
Zur Verleihungsvoraussetzung des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG
30 Gemäß § 10 Abs. 1 Z 6 StbG darf die Staatsbürgerschaft einem Fremden, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, nur verliehen werden, wenn er nach seinem bisherigen Verhalten Gewähr dafür bietet, dass er zur Republik bejahend eingestellt ist und weder eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstellt noch andere in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannte öffentliche Interessen gefährdet.
31 § 10 Abs. 1 Z 6 StbG enthält zwei Tatbestände (Fälle; arg.: „und“).
32 In der vorliegenden Rechtssache wird der erste Fall des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG angesprochen. Zu diesem hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung wie folgt ausgeführt:
33 Nach dem ersten Fall des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG wird vom Gesetz eine positive Einstellung zur Republik Österreich gefordert. Dies bezieht sich auf die politische Gesinnung eines Einbürgerungswerbers und soll gewährleisten, dass nicht Personen mit antidemokratischer Einstellung in den österreichischen Staatsverband aufgenommen werden (vgl. grundsätzlich zu § 10 Abs. 1 Z 6 StbG VwGH 30.4.2018, Ra 2017/01/0417, mit Verweis auf VwGH 18.4.2002, 2001/01/0120, mwN). Das Vorliegen dieser Voraussetzung ist somit davon abhängig, ob - vom Gesamtverhalten des Einbürgerungswerbers her - auf eine grundsätzlich negative Einstellung zur Republik Österreich bzw. zu deren grundlegenden Institutionen geschlossen werden kann oder nicht (vgl. VwGH 12.3.2002, 2001/01/0430, mit Verweis auf VwGH 6.9.1995, 95/01/0072).
34 In der vorliegenden Rechtssache kann aber auch der zweite Fall des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG maßgeblich sein:
35 Zum zweiten Fall des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf das Gesamtverhalten des Verleihungswerbers, insbesondere auch auf von ihm begangene Straftaten, Bedacht zu nehmen. Maßgebend ist, ob es sich dabei um Rechtsbrüche handelt, die den Schluss rechtfertigen, der Verleihungswerber werde auch in Zukunft wesentliche, zum Schutz vor Gefahren für das Leben, die Gesundheit, die Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung - oder andere in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannte Rechtsgüter - erlassene Vorschriften missachten. In der Art, der Schwere und der Häufigkeit solcher Verstöße kommt die - allenfalls negative - Einstellung des Betreffenden gegenüber den zur Hintanhaltung solcher Gefahren erlassenen Gesetzen zum Ausdruck.
Aus dem Umstand, dass vor allem vom Verleihungswerber begangene Straftaten in diese Beurteilung einzufließen haben, lässt sich aber nicht der Umkehrschluss ziehen, dass die strafrechtliche Unbescholtenheit eines Einbürgerungswerbers in jedem Fall zu einer für ihn positiven Prognose zukünftigen Wohlverhaltens führen muss. Die Gefährlichkeit eines Verleihungswerbers im Sinn des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG kann sich nämlich auch aus besonderen Umständen in seiner Person ergeben, die bislang noch zu keinem Konflikt mit dem Strafgesetz geführt haben.
Zur Beurteilung der Zuverlässigkeit eines Einbürgerungswerbers dürfen daher zum einen grundsätzlich auch getilgte Vorstrafen berücksichtigt werden.
Zum anderen hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass das Verleihungshindernis des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG eine gerichtliche Verurteilung wegen einer als erwiesen angesehenen Straftat nicht voraussetzt. Vielmehr knüpft § 10 Abs. 1 Z 6 StbG nicht an eine gerichtliche Verurteilung, sondern an das Verhalten des Einbürgerungswerbers an. Auch Taten, hinsichtlich derer es zur Verfahrenseinstellung (z.B. nach einer Diversion) kommt, gehören zum Gesamtverhalten, von dem die Behörde bei ihrer Prüfung auszugehen hat (vgl. zu allem nochmals und grundsätzlich zu § 10 Abs. 1 Z 6 StbG VwGH 30.4.2018, Ra 2017/01/0417, mwN).
36 Bei der Prüfung des Verleihungshindernisses nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG ist somit eine Prognose über das zukünftige Wohlverhalten des Verleihungswerbers zu treffen. Es ist auch zu beachten, dass die Verleihung der Staatsbürgerschaft den Abschluss einer (erfolgreichen) Integration des Fremden in Österreich darstellt (vgl. etwa VwGH 2.4.2021, Ro 2021/01/0010, mwN).
37 In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof auch auf das (neben § 10 Abs. 1 Z 6 StbG) spezielle Verleihungshindernis nach § 10 Abs. 2 Z 7 StbG hingewiesen, das dann gegeben ist, wenn der Verleihungswerber ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können. Ein Naheverhältnis liegt bei Personen vor, die - neben der aktiven Mitgliedschaft bei solchen Gruppen - (wenn auch nicht öffentlich) bekennende Sympathisanten, Geldgeber oder andere Unterstützer, wie Verteiler von Propagandamaterial, sind (vgl. VwGH 19.9.2017, Ra 2017/01/0258-0261, und VwGH 11.10.2016, Ra 2016/01/0124, jeweils mwN).
38 Zudem dient § 11 StbG nach der Staatsbürgerschaftsrechts-Novelle 2005 als Interpretationsmaxime für § 10 Abs. 1 und 2 StbG (vgl. VwGH 14.12.2018, Ra 2018/01/0406). Gemäß § 11 StbG ist bei Entscheidungen nach diesem Bundesgesetz das Gesamtverhalten des Fremden im Hinblick auf das allgemeine Wohl, die öffentlichen Interessen und das Ausmaß seiner Integration zu berücksichtigen. Zu dieser zählen insbesondere die Orientierung des Fremden am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich sowie das Bekenntnis zu den Grundwerten eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft.
39 Zum Eingehen einer mehrfachen Ehe (Bigamie) mit der Rechtfertigung, eine zweite Ehe sei „nur“ aus religiösen Gründen eingegangen worden, hat der Verwaltungsgerichtshof bereits festgehalten, dass von einem fehlenden Bekenntnis des Fremden nach § 11 StbG zu den Grundwerten eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft auszugehen ist (vgl. VwGH 14.12.2018, Ra 2018/01/0406, sowie VwGH 22.10.2021, Ra 2021/01/0327; vgl. zur Bigamie auch VwGH 19.5.2021, Ra 2019/01/0343, mwN).
Einzelfallbezogene Beurteilung
40 Ausgehend von den Leitlinien dieser Rechtsprechung kann dem Verwaltungsgericht nicht entgegengetreten werden, wenn es aus dem einmaligen, unkooperativen Verhalten des Mitbeteiligten gegenüber Organen der Polizei keine negative Einstellung gegenüber der Republik Österreich (§ 10 Abs. 1 Z 6 erster Fall StbG) abgeleitet hat.
41 Anders verhält es sich jedoch bei der Annahme des Verwaltungsgerichts, der Mitbeteiligte habe als Anhänger der TJ sowie aufgrund seiner verharmlosenden Aussagen zur Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Syrien und zu dem Anschlag in Saint-Étienne-du-Rouvray das Verleihungshindernis des § 10 Abs. 1 Z 6 erster bzw. zweiter Fall StbG nicht verwirklicht.
42 So ist bezogen auf die vorliegende Rechtssache nach den Leitlinien der oben angeführten Rechtsprechung maßgeblich, ob eine grundsätzlich negative Einstellung des Verleihungswerbers zur Republik Österreich bzw. zu deren grundlegenden Institutionen vorliegt (§ 10 Abs. 1 Z 6 erster Fall StbG) bzw. ob er Gewähr dafür bietet, keine Gefahr für die öffentlichen Interessen darzustellen, was der Fall sein kann, wenn er ein Naheverhältnis zu einer extremistischen Gruppierung hat (§ 10 Abs. 1 Z 6 zweiter Fall StbG). Weiters ist für § 10 Abs. 1 Z 6 StbG iVm § 11 StbG das Bekenntnis zu den Grundwerten eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft zu fordern.
43 Bei seiner Annahme, der Mitbeteiligte habe § 10 Abs. 1 Z 6 zweiter Fall StbG nicht erfüllt, weil er „doch unbescholten“ sei und „auch nicht gegen ihn ermittelt“ werde, verkennt das Verwaltungsgericht, dass die strafrechtliche Unbescholtenheit eines Einbürgerungswerbers nicht in jedem Fall zu einer für ihn positiven Prognose zukünftigen Wohlverhaltens führen muss. Die Gefährlichkeit eines Verleihungswerbers im Sinn des § 10 Abs. 1 Z 6 zweiter Fall StbG kann sich nämlich auch aus besonderen Umständen in seiner Person ergeben, die bislang noch zu keinem Konflikt mit dem Strafgesetz geführt haben. Vielmehr knüpft § 10 Abs. 1 Z 6 zweiter Fall StbG nicht an eine gerichtliche Verurteilung, sondern an das Verhalten des Einbürgerungswerbers an (vgl. nochmals VwGH 30.4.2018, Ra 2017/01/0417, mwN).
44 Aber auch die zur Negativfeststellung betreffend die TJ führende Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts erweist sich als unvertretbar:
45 Der Verwaltungsgerichtshof ist im Revisionsmodell als Rechtsinstanz tätig und zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen ist. Auch kann einer Rechtsfrage nur dann grundsätzliche Bedeutung zukommen, wenn sie über den konkreten Einzelfall hinaus Bedeutung besitzt. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. für viele VwGH 15.9.2021, Ra 2021/01/0210, mwN). Solches wird von der Amtsrevision vorliegend aufgezeigt:
46 Das Verwaltungsgericht führt zur TJ aus, es könne nicht festgestellt werden, dass „diese Religionsgemeinschaft sich zum Ziel setzt, durch missionarische Tätigkeiten die Gesellschaft zu islamisieren und die durch westliche Werte geprägte Gesellschaft in eine islamische Gesellschaftsform umzuwandeln“.
47 Diese Feststellungen gründet das Verwaltungsgericht beweiswürdigend auf zwei Beweismittel, zum einen auf einen nicht näher zitierten „Eintrag in Wikipedia“, dem jedoch nach den weiteren beweiswürdigenden Erwägungen des Verwaltungsgerichtes „nicht ... zu folgen“ sei, „zumal dort keine Quelle für diese Behauptung angeführt wird“, und zum anderen auf die Aussage des bei der mündlichen Verhandlung als Zeugen geladenen „informierten Vertreters“ des LVT, der ausgesagt habe, „dass er in seiner langjährigen Tätigkeit nicht die Erfahrung gemacht habe, dass es das Ziel dieser Bewegung sei, durch missionarische Tätigkeiten die durch westliche Werte geprägte Gesellschaft in eine islamistische Gesellschaft in eine islamische Gesellschaftsform umzuwandeln“.
48 Der vom Verwaltungsgericht - wie angeführt - nicht (auch nicht mit Datum) näher zitierte “Wikipedia-Eintrag“ kann schon deshalb kein taugliches Beweismittel für die getroffene Feststellung sein, weil das Verwaltungsgericht selbst ausführt, dass „dort keine Quelle für diese Behauptung“ angeführt werde.
49 Das Verwaltungsgericht gründet seine Negativfeststellung zur TJ somit entscheidend auf die zeugenschaftliche Aussage eines Vertreters des LVT. Dabei verkennt es die rechtliche Bedeutung einer Zeugeneinvernahme.
50 Gegenstand eines Zeugenbeweises ist es, Auskunft über Wahrnehmungen in tatsächlicher Hinsicht zu geben (vgl. etwa VwGH 1.2.2017, Ra 2016/04/0151). Ein sachverständiger Zeuge könnte vor dem Verwaltungsgericht allenfalls über seine unmittelbaren Wahrnehmungen betreffend eine Befundaufnahme oder den Entstehungsprozess eines Gutachtens aussagen, nicht aber - unter Wahrheitspflicht als Hilfsorgan des Gerichts - sachverständige Schlussfolgerungen ziehen (vgl. VwGH 6.7.2016, Ro 2016/08/0012).
51 Ausgehend davon kommt der Aussage des Vertreters des LVT alleine die Bedeutung zu, dass dieser - wie im angefochtenen Erkenntnis auch angeführt - von Erfahrungen „in seiner langjährigen Tätigkeit“ betreffend die TJ berichtet. Solche persönlichen Erfahrungen können aber entsprechende Ermittlungen und darauf beruhende sachverständige Beweismittel zu dieser Bewegung und deren Zielen nicht ersetzen. Ein Eintrag in „Wikipedia“ kann ebenso keine tragfähige Grundlage für eine Beurteilung dieser Bewegung und deren Zielen darstellen.
52 Die Ziele dieser Bewegung wären vielmehr - ausgehend von der festgestellten Anhängerschaft des Mitbeteiligten zu dieser Bewegung - nach den Leitlinien der oben angeführten Rechtsprechung zu § 10 Abs. 1 Z 6 StbG zu überprüfen gewesen (vgl. zur TJ etwa das dt. BVerwG 27.1.2009, 5 B 51.08, Rz. 4, sowie dt. BVerwG 25.10. 2011, 1 C 13.10, sowie die von der Amtsrevision angesprochenen Berichte, darunter den in den vorgelegten Verwaltungsakten aufliegenden Verfassungsschutzbericht 2011 des deutschen Bundesministeriums des Innern, 2. Auflage 2013).
53 In diesem Zusammenhang ist weiters auf Folgendes hinzuweisen:
54 Gemäß § 18 VwGVG ist Partei (des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens) auch die belangte Behörde. Das verwaltungsgerichtliche Verfahren ist damit zumindest ein Zweiparteienverfahren, in dem der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat, die gleichen Parteirechte (unter anderem Recht auf Akteneinsicht, Parteiengehör, Ladung zur Verhandlung, Fragerecht an die Parteien, Zeugen und Sachverständigen, Zustellung der Entscheidung) wie dem Beschwerdeführer zukommen. Es stehen sich damit der Beschwerdeführer und die belangte Behörde im verwaltungsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich gleichberechtigt gegenüber. Wenn nun das Verwaltungsgericht - wie vorliegend - von der Entscheidung der Amtsrevisionswerberin abweichen will, ist es daher gehalten, auf deren beweiswürdigende Argumente einzugehen und nachvollziehbar zu begründen, aus welchen Gründen es zu einer anderen Entscheidung kommt (vgl. etwa VwGH 9.2.2021, Ro 2021/01/0007, mwN).
55 Vorliegend hat sich das Verwaltungsgericht mit den für die Abweisung des Verleihungsantrages des Mitbeteiligten sprechenden beweiswürdigenden Argumenten der Amtsrevisionswerberin, insbesondere der negativen Stellungnahme des LVT vom 16. März 2020, nicht auseinandergesetzt.
56 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entfaltet eine von den Sicherheitsbehörden geleistete „Amtshilfe“ bzw. im Verleihungsverfahren abgegebene negative Stellungnahme für die Verleihungsbehörde keine Bindung in ihrer Entscheidung. Sie entbindet die Staatsbürgerschaftsbehörde vor allem nicht davon, die Voraussetzungen der Einbürgerung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu überprüfen und ihre Entscheidung entsprechend darzustellen. Diese Voraussetzungen sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aber dann erfüllt, wenn die Behörde die Feststellungen der Sicherheitsbehörde wiedergegeben hat, sich diesen anschloss und aus diesen rechtlich das Vorliegen der angeführten Verleihungshindernisse ableitete (vgl. etwa VwGH 8.6.2020, Ra 2019/01/0017, mwN).
57 Fallbezogen wurde in der angeführten negativen Stellungnahme des LVT festgehalten, ein gegen den Mitbeteiligten wegen Verdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angezeigtes Verfahren, weil sich der Mitbeteiligte mit zwei anderen Personen, die sich alle zur TJ bekannt hätten, im Sinne dieser Bewegung am 2016 nach Rumänien begeben hätte, um zu missionieren, sei gemäß § 190 Z 2 StPO durch die Staatsanwaltschaft eingestellt worden. Zum Mitbeteiligten könne zusammenfassend gesagt werden, „dass er als bekennender Tablighi Jamaat Anhänger eine äußerst religiös geprägte Person ist. Dies dürfte mit den demokratischen Strukturen der Republik Österreich nicht vereinbar sein, zumal Gott als höchste und alleinige Instanz des persönlichen Handelns angesehen wird. Weiters offenbart auch das Kontaktgespräch am 23.10.2017, das ausschließlich klärenden Charakter hatte, den Unwillen sich der Polizei zu erklären. Eine positive Grundeinstellung zum Staat Österreich und den damit verbundenen Strukturen und Werten“ werde daher bezweifelt (AS 161 f).
58 Im (in den vorgelegten Verwaltungsakten aufliegenden und im Übrigen auch veröffentlichten) Verfassungsschutzbericht 2011 des deutschen Bundesministeriums des Innern wird festgehalten,
„Im Verständnis der TJ bedingt die wortgetreue Interpretation des Korans den Vorrang islamischer Rechtvorschriften gegenüber staatlichen Gesetzen. Damit widerspricht die Ideologie der TJ wesentlichen demokratischen Grundsätzen, insbesondere dem der Trennung von Staat und Religion. Das angestrebte Gesellschaftsmodell benachteiligt sowohl Nichtmuslime als auch Frauen“ (vgl. S 309).
59 Vertritt der Mitbeteiligte als (nach den Feststellungen) Anhänger der TJ diese Ziele, wird die Rechtsfrage, ob eine grundsätzlich negative Einstellung zur Republik Österreich bzw. zu deren grundlegenden Institutionen vorliegt (§ 10 Abs. 1 Z 6 erster Fall StbG) bzw. ob ein Bekenntnis zu den Grundwerten eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft fehlt (§ 11 StbG), zu bejahen sein.
60 In diesem Zusammenhang ist nämlich auf den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche (vgl. VfGH 9.3.2011, G 287/09 = VfSlg. 19.349, mwN), das verfassungsrechtliche Gebot der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates (vgl. VfGH 11.12.2020, G 4/2020, mwN) und die Gleichberechtigung als ein von § 6 IPRG geschützter Grundwert (vgl. etwa VfGH 11.10.2012, B 99/12 ua, mwN) hinzuweisen. Auch hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass das Verhältnis von Kirche und Staat in Österreich durch den Grundsatz der Säkularität des Staates geprägt ist, worunter zu verstehen ist, dass sowohl die Aufgaben des Staates als auch die zu ihrer Erfüllung einzusetzenden Mittel bewusst und gewollt auf rein Weltliches reduziert sind (vgl. VwGH 30.1.1991, 89/01/0276). Dem würde ein Vorrang islamischer Rechtsvorschriften gegenüber staatlichen Gesetzen - ebenso wie eine (vom Verwaltungsgerichtshof in der angeführten Rechtsprechung behandelte) im ausländischen Recht festgelegte Ehenichtigkeit aus Gründen der Religion - widersprechen und nicht im Einklang mit dem österreichischen ordre-public nach § 6 IPRG stehen (vgl. nochmals VwGH 30.1.1991, 89/01/0276). So hat auch der Oberste Gerichtshof (OGH) festgehalten, dass die einseitige Verstoßung der Ehefrau durch den Ehemann nach islamischem Recht (talaq) dem inländischen ordre public widerspricht (vgl. RIS-Justiz RS0121192; vgl. zuletzt OGH 27.11.2019, 6 Ob 115/19h, wonach die ordre public-Widrigkeit nur dann nicht vorliegt, wenn die Ehefrau von Anfang an mit der einseitigen Verstoßungsscheidung einverstanden war). Letztlich hat auch der Verwaltungsgerichtshof - wie bereits oben angeführt - zum Eingehen einer mehrfachen Ehe (Bigamie) mit der Rechtfertigung, eine zweite Ehe sei „nur“ aus religiösen Gründen eingegangen worden, bereits festgehalten, dass von einem fehlenden Bekenntnis des Mitbeteiligten nach § 11 StbG zu den Grundwerten eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft auszugehen ist (vgl. VwGH 14.12.2018, Ra 2018/01/0406, vgl. jüngst nochmals VwGH 22.10.2021, Ra 2021/01/0327, mwN).
61 Die verharmlosenden Aussagen des Mitbeteiligten zur Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Syrien und dem Anschlag in Saint-Étienne-du-Rouvray werden nach einer eingehenden Beschäftigung mit der TJ und ihren Zielen und ausgehend von der festgestellten Anhängerschaft des Mitbeteiligten zu dieser Bewegung nach den Leitlinien der oben angeführten Rechtsprechung zu § 10 Abs. 1 Z 6 StbG zu überprüfen sein. Dabei wird nach dem oben zu § 10 Abs. 1 Z 6 zweiter Fall StbG Gesagten insbesondere zu beurteilen sein, ob der Mitbeteiligte (wenn auch nicht öffentlich) bekennender Sympathisant einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung ist.
Zur „Sache“ des Beschwerdeverfahrens
62 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden und damit nicht nur die gegen den verwaltungsbehördlichen Bescheid eingebrachte Beschwerde, sondern auch die Angelegenheit zu erledigen, die von der Verwaltungsbehörde zu entscheiden war (vgl. etwa VwGH 26.4.2021, Ra 2021/01/0027, mwN).
63 „Sache“ des vorliegenden Verfahrens und damit die Angelegenheit, die vom Verwaltungsgericht zu erledigen war, war die Entscheidung über den Antrag des Mitbeteiligten auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft.
64 Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht - gestützt auf § 28 Abs. 2 VwGVG - im Spruch des angefochtenen Erkenntnisses der gegen den bekämpften Bescheid erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten Folge gegeben und diesen Bescheid behoben. Ein inhaltlicher Abspruch über den Antrag des Mitbeteiligten auf Verleihung der Staatsbürgerschaft ist nicht erfolgt. Das Verwaltungsgericht hat damit gegen seine Verpflichtung verstoßen, nicht nur die gegen den verwaltungsbehördlichen Bescheid eingebrachte Beschwerde, sondern auch die Angelegenheit zu erledigen, die von der Verwaltungsbehörde zu entscheiden war (vgl. so zu einem Antrag auf Beibehaltung der Staatsbürgerschaft nach § 28 StbG VwGH 24.5.2016, Ra 2016/01/0058).
Ergebnis
65 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen (der vorrangig aufzugreifenden) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 10. Dezember 2021
Schlagworte
Beweismittel Sachverständigenbeweis Beweismittel ZeugenbeweisEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021010291.L00Im RIS seit
24.02.2022Zuletzt aktualisiert am
04.04.2022