TE Vwgh Erkenntnis 1996/10/10 95/20/0177

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Veröffentlicht am 10.10.1996
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1991 §2 Abs2 Z3;
AsylG 1991 §20 Abs2;
AVG §37;
AVG §45 Abs1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Baur, Dr. Bachler und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hemetsberger, über die Beschwerde des C in S, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt in L, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 16. Februar 1995, Zl. 4.304.457/12-III/13/95, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.800,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, ist am 20. August 1990 in das Bundesgebiet eingereist und hat am 22. August 1990 beantragt, ihm Asyl zu gewähren. Bei der am 12. Oktober 1990 vor der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Salzburg erfolgten niederschriftlichen Einvernahme gab er - zusammengefaßt - an: Er habe sich für die politische Bewegung "Devrimci Yol" eingesetzt und beispielsweise im Jahr 1979 eine Demonstration gegen das damals herrschende politische Regime mitorganisiert, an der ca. 30.000 Personen teilgenommen hätten. Er sei wegen seiner politischen Tätigkeit zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren verurteilt worden. Nachdem er vier Jahre verbüßt habe, habe er sich zum Verlassen seiner Heimat, wo er keine Zukunftschancen mehr gesehen habe, entschieden. Dazu legte der Beschwerdeführer die Ablichtung eines Auszuges aus einem türkischen Gerichtsurteil vor, wonach er zu einer Gefängnisstrafe im Ausmaß von acht Jahren verurteilt wurde. Auf diesem Schriftstück befindet sich allerdings kein türkisches Hoheitszeichen.

Die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Salzburg hat mit Bescheid vom 7. Jänner 1991 festgestellt, daß der Beschwerdeführer nicht Flüchtling sei. Die belangte Behörde sah sich im Berufungsverfahren veranlaßt, ein ergänzendes Ermittlungsverfahren durchzuführen. Im Zuge der über Auftrag der belangten Behörde durch die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Salzburg am 9. April 1993 durchgeführten ergänzenden Einvernahme gab der Beschwerdeführer im wesentlichen an, er sei am 21. Mai 1984 in einem Massenprozeß mit insgesamt ca. 300 Personen zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren verurteilt worden. Dieses Urteil sei infolge eines von ihm eingelegten Rechtsmittels erst 1987 rechtskräftig geworden. Die Verurteilung sei in einer einzigen Entscheidungsausfertigung festgehalten worden, von der jedem Betroffenen eine ihn betreffende Ablichtung gegen Unterschrift ausgehändigt worden sei. Es sei ihm nicht möglich, ein Urteil mit Originalunterschrift vorzulegen. Das von ihm vorgelegte Urteil (im wesentlichen ein ihn betreffender Auszug aus einem auf viele Personen bezogenen Urteil) sei die ihm übergebene Urteilsausfertigung. Bislang habe er von der über ihn verhängten Freiheitsstrafe folgende Zeiten verbüßt, nämlich

in X vom 16. Juni 1979 bis Juli 1979;

vom Jänner 1980 bis Jänner 1981 wieder in X;

ab Jänner 1981 bis Juni oder Juli 1981 in Y, danach

wieder in X bis zum 22. Februar 1982;

Ende März/Anfang April 1982 sei er für 13 Tage in der Sicherheitsdirektion Y festgehalten und dort auch gefoltert worden;

im September oder Oktober 1987 sei er neuerlich in Y für 4 Monate inhaftiert, dann bis Dezember 1988 im Gefängnis in Z festgehalten worden.

Der Verurteilung liege seine Mitgliedschaft in der Organisation "Devrimci Yol" sowie seine politische Tätigkeit (etwa die von ihm organisierte Demonstration im März/April 1979, an der etwas mehr als 15.000 Personen teilgenommen hätten, bzw. seine aktive Mitarbeit bei einer Lehrergenossenschaft) zugrunde. Um den von ihm vertretenen sozialistischen Weg in der Türkei zu verhindern, hätte das Militär im September 1980 die Regierung gestürzt und in der Folge sei es zu Massenverhaftungen gekommen.

Im Zuge seiner Ersteinvernahme sei es zu Schwierigkeiten bei der Übersetzung gekommen, weil der damals beigezogene Dolmetscher "nicht besonders türkisch" habe sprechen können; dieser habe auch die politischen Zusammenhänge und Ausdrücke nicht gewußt.

Im weiteren schilderte der Beschwerdeführer die von ihm erlittene Folterung während seiner 13-tägigen Anhaltung in der Sicherheitsdirektion Usak, und erwähnte, daß er auch in den übrigen Gefängnissen geschlagen sowie nicht ordnungsgemäß verpflegt worden sei, und er korrigierte schließlich das Datum seiner Einberufung zum Militärdienst von März auf April 1982.

Mit Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 21. April 1993 wurde die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Salzburg vom 3. Jänner 1991 gemäß § 66 Abs. 4 AVG abgewiesen. Diesen Bescheid begründete die belangte Behörde damit, daß "aufgrund erheblicher Divergenzen" in den Angaben des Beschwerdeführers seinem Vorbringen "insgesamt betrachtet kein Glauben geschenkt werden" könne.

Diese Divergenzen sah die belangte Behörde zunächst darin, daß der Beschwerdeführer bei seiner Ersteinvernahme von der Verurteilung zu einer 8jährigen Freiheitsstrafe gesprochen habe, in seiner Berufung jedoch die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren, die zu verbüßen gewesen wären, behauptet habe. Bei seiner Ersteinvernahme habe der Beschwerdeführer erwähnt, die Haftstrafe in "bestimmten Zeiteinheiten" verbüßt zu haben. Das vorgelegte Fragment eines Strafurteiles sei mit 21. Mai 1984 datiert, wobei jedoch der Beschwerdeführer bei seiner ergänzenden Befragung auf eine Haftzeit vor diesem Datum Bezug genommen habe. Damit könne nicht eindeutig festgestellt werden, in welchem Zusammenhang die geschilderten Haftzeiten zu der angeführten Verurteilung zu 8 Jahren Freiheitsstrafe stünden.

Es sei auch unglaubwürdig, daß der Beschwerdeführer die Haftstrafe in mehreren Teilen verbüßt habe. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung sei es nicht plausibel, daß man den Beschwerdeführer nach seiner Verurteilung im Jahre 1984 zwischenzeitlich immer wieder auf freien Fuß gesetzt habe. In diesem Falle wäre es sehr wahrscheinlich, daß sich der Verurteilte bei zwischenzeitlicher Freilassung der weiteren Haftstrafe durch Flucht entzogen hätte.

Der Beschwerdeführer habe bei seiner Ersteinvernahme davon gesprochen, seinen Militärdienst von März 1982 bis Oktober 1993 geleistet zu haben. Dem widersprechend habe er bei seiner ergänzenden Einvernahme am 7. April 1993 angegeben "Ende März bzw. Anfang April 1982" für 13 Tage von der Sicherheitsdirektion Usak festgehalten worden zu sein. Erst nach Vorhalt dieses Widerspruchs habe der Beschwerdeführer den Beginn seiner Militärdienstzeit auf "Ende April" verlegt.

Der Beschwerdeführer habe bei seiner Ersteinvernahme keine Folterungen erwähnt.

Auch die Angaben des Beschwerdeführers zu der von ihm organisierten Demonstration im Jahr 1979 sei nicht glaubwürdig, weil er ursprünglich von ca. 30.000 Teilnehmern erzählt habe, bei seiner ergänzenden Einvernahme jedoch nur von etwa 15.000 Personen.

Trotz Aufforderung sei es dem Beschwerdeführer nicht möglich gewesen, das Original des ihn betreffenden Urteils vorzulegen.

Da der bei der Ersteinvernahme zugezogene Dolmetsch für die türkische Sprache sogar gerichtlich beeidet sei, sei davon auszugehen, daß dieser eine richtige Übersetzung geliefert habe.

Bei Gesamtbetrachtung der aufgezählten Divergenzen gelange die belangte Behörde zu dem Ergebnis, daß das Vorbringen des Beschwerdeführers insgesamt nicht glaubwürdig sei, weil seine Angaben "in einigen Punkten nicht schlüssig bzw. nicht plausibel waren".

Mit hg. Erkenntnis vom 5. September 1994, Zl. 94/20/0137, wurde dieser Bescheid wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung (infolge Aufhebung des Wortes "offenkundig" in § 20 Abs. 2 Asylgesetz 1991 mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Juli 1994, G 92, 93/94) aufgehoben, sodaß das Berufungsverfahren bei der belangten Behörde wiederum anhängig wurde.

Mit Schreiben vom 27. Jänner 1995 ermöglichte daraufhin die belangte Behörde dem Beschwerdeführer im Sinne des zuvor zitierten Erkenntisses, einfache Verfahrensmängel zu rügen und etwa daraus folgende Sachverhaltsergänzungen vorzunehmen. Unter einem wurde dem Beschwerdeführer die Annahme der belangten Behörde vorgehalten, daß er vor Einreise in das Bundesgebiet in Ungarn keiner direkten Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Der UNHCR habe in einem Gutachten vom 4. Juli 1994 (gegenüber dem deutschen Bundesverfassungsgericht) festgestellt, daß in Ungarn trotz des territorialen Vorbehaltes Ungarns anläßlich des Beitrittes zur Genfer Flüchtlingskonvention faktisch ein lückenloser Abschiebungsschutz auch für außereuropäische Flüchtlinge und Asylwerber bestehe. Die Verfahren betreffend außereuropäische Asylwerber würden gemäß einem "Arrangement" zwischen den ungarischen Behörden und dem UNHCR von letzterem durchgeführt. Bis zu "Finalisierung des Asylverfahrens" genieße der Asylwerber faktischen Schutz vor Abschiebung in sein Heimatland.

In der vom Beschwerdeführer eingebrachten Berufungsergänzung beantragte er die Einvernahme von drei namentlich angeführten Zeugen, die bestätigen könnten, daß er schweren Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sei. Im übrigen wendete er sich gegen die Annahme der erlangten Verfolgungssicherheit in Ungarn unter Hinweis darauf, daß auch nach dem Vorhalt der Behörde der erwähnte Abschiebungsschutz nur auf einem "good will" der ungarischen Behörden beruhe. Seine Abschiebungssicherheit sei rechtlich nicht gewährleistet.

Mit dem nunmehr angefochtenen (Ersatz)bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers (neuerlich) gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab und sprach aus, Österreich gewähre ihm kein Asyl. Die belangte Behörde verwies zur Frage der Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers auf ihre Ausführungen im vorerwähnten Bescheid vom 21. April 1993 und machte diese dadurch zum Inhalt auch des nunmehr angefochtenen Bescheides. Es bestehe nämlich kein Anlaß, von der genannten Bescheidbegründung abzuweichen.

Zusätzlich stützte sich die belangte Behörde nunmehr auch auf § 2 Abs. 2 Z. 3 Asylgesetz 1991, weil der Beschwerdeführer über Ungarn nach Österreich eingereist sei. Die angenommene Verfolgungssicherheit begründete die belangte Behörde in Einklang mit ihrem "Manuduktionsschreiben vom 27. Jänner 1995" damit, daß hinsichtlich der in Ungarn durch die mit Vorbehalt erfolgte Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention von dieser nicht erfaßten Asylwerber aus der Türkei sich aus dem Gutachten des UNHCR vom 4. Juli 1994 für das deutsche Bundesverfassungsgericht ergebe, daß auch für außereuropäische Flüchtlinge und Asylwerber ein faktisch lückenloser Abschiebungsschutz bestehe. Entgegen der in der Stellungnahme des Beschwerdeführers vorgebrachten Auffassung genüge es, wenn aufgrund eines derartigen "gentlemen-agreements mit internationalen Organen" ein faktischer, wenn auch international rechtlich nicht gesicherter, Schutz vor Abschiebung bestehe.

Gegen diesen nunmehr angefochtenen Bescheid wendet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Insoweit der Beschwerdeführer beanstandet, die belangte Behörde stütze sich in dem nunmehr angefochtenen Bescheid neuerlich auf die Begründung des wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehobenen (Vor-)Bescheides, was für sich alleine genommen schon einen Verfahrensmangel bedeute, ist dem Beschwerdeführer entgegenzuhalten, daß die Ermöglichung der Geltendmachung einfacher Verfahrensmängel im Sinn des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Juni 1994 nicht gleichzusetzen ist mit einer Ergänzung oder Wiederholung des Verfahrens im Sinn des § 20 Abs. 2 Asylgesetz 1991. Liegen nach dem ergänzenden Vorbringen des Beschwerdeführers Verfahrensmängel nicht vor, denen Entscheidungswesentlichkeit zukommt, kann nämlich die belangte Behörde, ohne ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit zu belasten, von der Wiederholung und Ergänzung des Ermittlungsverfahrens im Sinn des § 20 Abs. 2 leg. cit. (neue Fassung) absehen. Sie kann diesfalls - ausgehend von den Ermittlungsergebnissen des Verfahrens erster Instanz gemäß § 20 Abs. 1 leg. cit. - die seinerzeitigen Erwägungen übernehmen. Nach der hg. Judikatur genügt die Berufungsbehörde ihrer Begründungspflicht im allgemeinen mit einer kurzen Verweisung auf die Gründe im Bescheid der Vorinstanz, falls sie bezüglich des als erwiesen angenommenen Sachverhaltes und dessen rechtlicher Beurteilung mit ihr einer Meinung ist und ihr keine durch die Begründung der Vorinstanz offen gelassene Frage vorgelegt worden ist (vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes zum heutigen Tage, Zl. 95/20/0501, und das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 4. Oktober 1995, Zl. 95/01/0045, mwN). Dieselben Grundsätze kommen auch hier zur Anwendung, wenn nach Aufhebung des (Vor-)Bescheides der belangten Behörde im weiteren Verfahren maßgebliche Verfahrensmängel nicht geltend gemacht worden sind (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 9. Mai 1996,

Zlen. 95/20/0336, 0337, insbesondere hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 95/20/0501).

Der Beschwerdeführer weist zutreffend darauf hin, daß die im Bescheid vom 21. April 1993 gebrauchten Argumente zur Dartuung der Unglaubwürdigkeit seiner Angaben nicht schlüssig sind.

Der Beschwerdeführer hat sowohl bei seiner Ersteinvernahme, die zu seinen Fluchtgründen nach Umfang der darüber aufgenommenen Niederschrift sehr kursorisch durchgeführt worden war, als auch bei seiner ergänzenden Einvernahme angegeben, er sei zu einer Haftstrafe in der Dauer von 8 Jahren verurteilt worden, wovon er ca. 4 Jahre in Teilen verbüßt habe. Die Behauptung der belangten Behörde, es sei unglaubwürdig, daß der Beschwerdeführer seine Haftstrafe in Teilen zu verbüßen hatte, ist ohne Durchführung von Ermittlungen zur Überprüfung dieser Angaben des Beschwerdeführers ebensowenig nachvollziehbar wie die Ausführungen, daß aufgrund des Urteilsdatums vom 21. Mai 1984 die vom Beschwerdeführer bei seiner ergänzenden Einvernahme detailliert geschilderten Haftzeiten teilweise davor lägen und demgemäß dieser Verurteilung nicht zugeordnet werden könnten. Der Beschwerdeführer hat erklärt, daß die Verurteilung im Jahr 1984 insbesondere auf seine Mitgliedschaft in der politischen Organisation "Devrimci Yol" und auf seine politischen Aktivitäten im Jahr 1979 zurückzuführen sei, weshalb er auch immer wieder bis zu seiner Verurteilung inhaftiert worden sei.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß auf die im Jahr 1984 ausgesprochene Freiheitsstrafe diese (Vor-)Haftzeiten (wie dies etwa bei anzurechnenden Verwahrungs- und Untersuchungshaftzeiten auch nach österreichischem Recht (u.a. § 38 StGB) der Fall ist) angerechnet worden sind, womit sich die Aussage der Verbüßung der insgesamt ausgesprochenen Freiheitsstrafe in Teilen als durchaus zutreffend erweisen würde. Ebenso erscheint es möglich, daß der Beschwerdeführer nach Verbüßung eines Teiles der Haftstrafe nach seiner Verurteilung im Jahr 1984 im Hinblick auf das von ihm eingelegte Rechtsmittel und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer zur ausgesprochenen Strafe vorläufig wieder auf freien Fuß gesetzt worden sein könnte bzw. bei Einlegung einer Strafberufung zunächst nur einen Teil der Strafe hätte antreten müssen.

Der Beschwerdeführer hat durchaus nachvollziehbar dargelegt, daß es im Zuge der Übernahme der Regierung durch das Militär zu Beginn der 80er Jahre zu Massenverhaftungen und Großprozessen gekommen war, im Zuge derer er selbst zu einer erheblichen Freiheitsstrafe verurteilt worden sei. Dafür spricht der vom Beschwerdeführer vorgelegte Auszug aus dem einen Massenprozeß betreffenden Strafurteil. Ohne weitere Erhebungen darf es nicht zum Nachteil des Beschwerdeführers gereichen, wenn es ihm nicht möglich war, von den Heimatbehörden das Original dieses Strafurteils zu erhalten; daß ihm die Aushändigung weiterer Urkunden verweigert wurde, kann nicht von der Hand gewiesen werden.

Der Umstand, daß im Protokoll über die Ersteinvernahme Schilderungen über erlittene Mißhandlungen während der Haft, insbesondere während der 13-tägigen Anhaltung bei der Sicherheitsdirektion Usak nicht aufscheinen, kann zwar nicht ohne weiteres damit erklärt werden, daß es zu Mißverständnissen zwischen dem Beschwerdeführer und dem damals beigezogenen Dolmetscher gekommen war. Jedoch ist nicht zu übersehen, daß die Niederschrift über die Ersteinvernahme äußerst kursorisch ist und sich auch die belangte Behörde selbst veranlaßt sah, im ersten Rechtszug gemäß § 20 Abs. 2 Asylgesetz 1991 eine ergänzende Einvernahme des Beschwerdeführers durchzuführen, bei welcher erstmals eine detaillierte und ausführliche Befragung erfolgte. Die bei der ergänzenden Einvernahme geschilderten Mißhandlungen stehen insoweit auch nicht im Widerspruch zu dem Protokoll über die seinerzeitige Befragung des Beschwerdeführers. Dort wurde nicht festgehalten, daß der Beschwerdeführer keine Mißhandlungen erlitten hätte, und dem Protokoll kann auch nicht entnommen werden, daß danach gefragt worden wäre. Die weiters von der belangten Behörde georteten Widersprüche hinsichtlich des Zeitpunktes der Einberufung zum Militärdienst (April anstatt März 1982) sowie die Anzahl der Demonstrationsteilnehmer (etwas mehr als 15.000 anstatt 30.000) sind nicht von derartiger Wesentlichkeit, daß sie "insgesamt betrachtet" zur Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers führen können, zumal zwischen den beiden Einvernahmen ein sehr erheblicher Zeitraum (von ca. 2 1/2 Jahren) lag.

Aufgrund der nicht schlüssig begründeten Annahme der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdeführers über die geschilderte Verurteilung im Zusammenhang mit seiner politischen Gesinnung und den deshalb gesetzten Aktivitäten hat sich die belangte Behörde bislang mit der wesentlichen Rechtsfrage, ob die in der Vergangenheit gesetzten Verfolgungshandlungen überhaupt zum Zeitpunkt seiner Flucht aus der Türkei eine wohlbegründete Flucht vor asylrechtlich relevanter Verfolgung glaubhaft machen können, nicht auseinandergesetzt. Für die Beurteilung dieser Frage wird u.a. wesentlich sein, ob der Beschwerdeführer nach der Entlassung aus seiner Haft weiterhin politisch aktiv war, ob er weitere Verfolgungshandlungen aufgrund seiner zuvor gesetzten politischen Aktivitäten, die zu seiner Verurteilung führten, zu erwarten hatte (in dieser Hinsicht hatte der Beschwerdeführer vorgebracht, daß ein heimisches Gericht einen Prozeß über die "Neuorganisation von Dev-Yol-Sympathisanten" anstrebe) sowie ob für den Beschwerdeführer die Gefahr bestand, auch noch den Rest der noch offenen Freiheitsstrafe (bislang hatte der Beschwerdeführer nach seinen Angaben erst ca. 3 1/2 bis 4 Jahre in Haft verbracht) verbüssen zu müssen.

Trotz vorliegender Flüchtlingseigenschaft wäre jedoch für den Beschwerdeführer nichts zu gewinnen, wenn einer der Ausschlußgründe des § 2 Abs. 2 Z. 3 Asylgesetz 1991 vorläge, wonach einem Flüchtling kein Asyl gewährt wird, wenn er bereits in einem anderen Staat vor Verfolgung sicher war. Der Beschwerdeführer hat zwar durch das Schreiben der belangten Behörde vom 27. Jänner 1995 die Möglichkeit eingeräumt erhalten, gegen die zur Stützung der "Verfolgungssicherheit" in Ungarn gebrauchten Annahme sachgerechte Einwendungen im Berufungsverfahren zu erheben. Der Beschwerdeführer macht aber zutreffend geltend, daß ihm dieses "Gutachten des UNHCR vom 4.7.1994" nicht zur Kenntnis gebracht worden ist und im Akt auch nicht einliegt. Der Beschwerdeführer hat der Annahme der Verfolgungssicherheit entgegengehalten, daß diese Annahme offensichtlich nur auf einem "good will" der ungarischen Behörde beruhe, womit der Beschwerdeführer offenbar zum Ausdruck bringen wollte, daß es der Willkür der Behörde überlassen blieb, ob ein außereuropäischer Asylwerber im Zeitpunkt der Durchreise des Beschwerdeführers durch Ungarn im Jahr 1990 ohne Prüfung seiner Fluchtgründe in seinen Heimatstaat zurückgeschoben wurde oder nicht. In einem solchen Fall könnte tatsächlich nicht von einem "faktischen Abschiebungsschutz" gesprochen werden, weil dann von einer rechtsstaatlich gesicherten (wenn auch völkerrechtlich nicht abgesicherten) Behördenpraxis nicht gesprochen werden könnte. Die Begründung der Annahme der erlangten Sicherheit vor Verfolgung in Ungarn ist auch deshalb nicht nachvollziehbar, weil unüberprüfbar ist, ob der Beschwerdeführer damals (im Jahr 1990) Sicherheit vor Verfolgung in Ungarn erlangen konnte. Es kann nämlich (auch mangels Vorhandenseins dieses "Gutachtens") nicht nachvollzogen werden, ob sich das darin festgelegte "Arrangement zwischen dem UNHCR und der ungarischen Regierung" bereits auf den Zeitraum Oktober 1990 bezogen hat. Die Begründung der Verfolgungssicherheit in Ungarn im Jahr 1990 mit einem im Juli 1994 erstatteten "Gutachten des UNHCR für das deutsche Bundesverfassungsgericht" ist in dieser Form unschlüssig, welcher Verfahrensmangel angesichts der vorzunehmenden Beurteilung der faktischen Sicherheit im Durchreisezeitpunkt ("Willkür der ungarischen Behörden") aufzugreifen war.

Der angefochtene Bescheid war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1996:1995200177.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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