TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/14 W119 1416139-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.09.2021
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Entscheidungsdatum

14.09.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §55
BFA-VG §18 Abs2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W119 1416139-3/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Eigelsberger als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 3.6.2020, Zl. 800611005/191107535, nach einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der Spruchpunkt III. des bekämpften Bescheides zu lauten hat:

III.    Es wird gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan gemäß § 50 Absatz 1 FPG unzulässig ist.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 12.7.2010 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 18.10.2010, Zl. 10 16.110-BAT, wurde dieser Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberichtigten als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt I), dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III).

Am XXXX , rechtskräftig am 9.11.2012, wurde der Beschwerdeführer vom Landesgericht XXXX , als junger Erwachsener gemäß §§ 27 Abs. 1 Z 1 erster Fall und zweiter Fall, 27 Abs. 2 SMG; § 12 dritter Fall StGB §§ 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall, 27 Abs. 3 SMG § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten bedingt, Probezeit drei Jahre, verurteilt.

Die gegen Spruchpunkt I des Bescheides vom 18.10.2010 erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 20.12.2012, Zl. C15 416139-I/2010/15E, als unbegründet abgewiesen.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt oder belangte Behörde) vom 11.10.2018, Zahl: 800611005/180965990, wurde dem Beschwerdeführer der ihm mit Bescheid vom 18.10.2010 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von amtswegen aberkannt (Spruchpunkt I), sein Antrag vom 27.6.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II) und die mit Bescheid vom 27.10.2016 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt III). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 nicht erteilt (Spruchpunkt IV). Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG wurde gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt und dem Beschwerdeführer gemäß § 58 Abs. 2 und 3 AsylG iVm § 55 AsylG eine Aufenthaltsberechtigung plus gemäß § 55 Abs. 1 AsylG erteilt (Spruchpunkt V).

Bezüglich Spruchpunkt V führte die belangte Behörde im Wesentlichen begründend aus, dass der Beschwerdeführer über passable Deutschkenntnisse verfüge und seit 1.10.2018 in einem näher genannten Lokal in Wien arbeite. Sein monatliches Gehalt liege über der Geringfügigkeitsgrenze. Zudem sei er mit einer österreichischen Staatsbürgerin verlobt und lebe mit dieser in einem gemeinsamen Haushalt. Auch verfüge er über soziale Kontakte zu Österreichern.

Die Erteilung der Aufenthaltsberechtigung plus wurde damit begründet, dass der Beschwerdeführer zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübe, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreicht und sogar überschritten werde.

Dieser Bescheid erwuchs in erster Instanz in Rechtskraft.

Am XXXX wurde das Bundesamt vom Landesgericht XXXX verständigt, dass der Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1 StGB § 15 StGB § 105 Abs. 1 StGB §§ 107 Abs. 1 und 2, 201 Abs. 1 StGB zu AZ: XXXX am XXXX in Untersuchungshaft genommen wurde.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX als Schöffengericht vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen wiederholten Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs. 1 und Abs. 2 vierter Fall StGB; der wiederholten Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB; Vergehen der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs. 1 StGB und dem Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB gegenüber seiner Lebensgefährtin zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt ( XXXX ).

In der Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass sich das Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Lebensgefährtin verändert habe, nachdem Ersterer im Oktober 2018 nach Afghanistan gereist sei. Der Beschwerdeführer habe sich zunehmend aggressiv verhalten und seiner Lebensgefährtin Vorwürfe über ihren Lebensstil gemacht.

Der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung wurde mit Urteil des Oberlandesgerichts XXXX , vom XXXX nicht Folge gegeben.

Mit Schreiben vom 22.4.2020, zugestellt am 6.5.2020, wurde dem Beschwerdeführer seitens der belangten Behörde zur geplanten Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes Parteiengehör gewährt.

Am 14.5.2020 langte beim Bundesamt die Stellungnahme des Beschwerdeführers hierzu ein. In dieser wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass er 2009 mit Hilfe von Schleppern von Afghanistan nach Österreich eingereist sei, bei welchem es sich um ein schönes und sicheres Land handle. Sein Bruder wäre 2018 von den Taliban getötet worden, ebenso wie zuvor sein Vater. Seine Mutter sei vor mehr als 15 Jahren gestorben.

Er selbst verfüge über einen Daueraufenthaltstitel für Österreich, 2018 sei er für kurze Zeit in Pakistan gewesen, um seinen Bruder zu sehen, der durch die Taliban angeschossen und einige Tage darauf seinen Verletzungen erlegen wäre. Danach sei der Beschwerdeführer wieder nach Österreich zurückgekehrt.

Er habe keine Schulbildung und keine Berufsausbildung absolviert, im Bundesgebiet jedoch den Deutschkurs gemacht und als Küchenhelfer in einem Lokal und Teamleiter bei einem anderen Lokal gearbeitet. In Wien befänden sich drei Cousins, in Afghanistan lebten einige Bekannte von ihm. Er selbst habe in Teheran gewohnt. Wegen seiner Inhaftierung habe er keine Kranken- und Unfallversicherung. In der Heimat werde er nicht strafrechtlich oder politisch verfolgt.

In Österreich wolle er deshalb bleiben, weil er seit über zehn Jahren hier gelebt habe, ihn die Kultur interessiere und er in seiner Heimat kein freier Mensch wäre. Alles würde von den Taliban bestimmt. Zudem habe er viele Bekannte und Freunde im Bundesgebiet.

Der Beschwerdeführer sei ledig, sein im XXXX geborener Sohn lebe bei seiner Mutter (seiner ehemaligen Lebensgefährtin).

Zu seinen Integrationsschritten führte der Beschwerdeführer aus, dass er Deutsch gelernt habe, die Sprache gut spreche und verstehe und immer berufstätig gewesen wäre.

Mit dem gegenständlichen, im Spruch genannten Bescheid wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I). Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt II) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III). Einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-Verfahrensgesetz die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV) und gemäß § 55 Abs. 4 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt V). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1, 5 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI).

Begründend wurde im Wesentlichen festgestellt, dass der Beschwerdeführer ledig und Vater eines kleinen Kindes sei. Seine Muttersprache sei Dari, er spreche ferner Farsi und verfüge über passable Deutschkenntnisse. Im Bundesgebiet habe er vor seiner Haft Arbeitserfahrung in zwei näher genannten Lokalen gesammelt, wobei er im zweiten Lokal Teamleiter gewesen sei. Auch habe er zumindest einen A1 Deutschkurs absolviert.

Im Iran habe er den Beruf des Glasbläsers erlernt und dort auch sieben Jahre in einer Werkstatt als solcher gearbeitet. Zudem habe er im Iran Berufserfahrung als Mechaniker und Hilfsarbeiter auf einer Baustelle gesammelt. Gegenwärtig befinde er sich in einer vom AMS initiierten Ausbildung zum Glasbautechniker.

Der Beschwerdeführer leide nicht an lebensbedrohlichen oder anderwärtigen Krankheiten.

Im Bundesgebiet verfüge er über entfernte Verwandte in Form seiner drei Cousins, etwaige Abhängigkeiten oder besondere Bindungen bestünden nicht. Mit seiner Ex-Lebensgefährtin habe er einen gemeinsamen Sohn, wobei er weder über die Obsorge noch ein Besuchsrecht verfüge. Auch bestünden zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Sohn weder Bindungen noch Abhängigkeiten. In der Heimat lebten mehrere Tanten.

Laut seinen Angaben habe der Beschwerdeführer im Bundesgebiet Freunde und Bekannte. Seit 2012 sei er in Summe knapp sechs Jahre als Arbeiter angestellt gewesen. Derzeit verfüge er weder über eine Kranken- noch eine Unfallversicherung. Im Bundesgebiet wolle er deshalb bleiben, weil er die Kultur möge.

Mit Rechtskraft vom XXXX sei er wegen Körperverletzung, gefährlicher Drohung und Vergewaltigung zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt worden, die er derzeit verbüße.

Im Bundesgebiet führte der Beschwerdeführer ein durchschnittliches Privat- und Familienleben und sei strafrechtlich massiv in Erscheinung getreten. Etwaige Bindungen oder Abhängigkeiten hätten nicht festgestellt werden können, die einzigen Indikationsmerkmale seien die passablen Deutschkenntnisse (A eins) und seine knapp sechsjährige Berufstätigkeit während seines knapp zehnjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet.

Der Beschwerdeführer stelle eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit sowie die Allgemeinheit dar. Er sei in bewusster Missachtung der Rechtsordnung seines Aufnahmestaates sowie der menschlichen Würde straffällig geworden, habe das Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs. 1 StGB begangen, wobei er seine ehemalige Lebenspartnerin einmal vor und einmal nach der Geburt ihres Kindes mit Gewalt zur Duldung einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung genötigt habe. Weiters habe er seine Partnerin gefährlich bedroht, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen. Ebenfalls habe er seine damalige Partnerin mit Gewalt zu einer Handlung zu nötigen versucht und sie anschließend vorsätzlich am Körper verletzt, indem er sie am Hals gewürgt habe. Der Beschwerdeführer habe vor Gericht zunächst versucht, seine Verantwortung zu leugnen und haltlose Schutzbehauptungen aufgestellt. Schließlich sei er aufgrund seiner heimtückischen Handlungsweise, wegen des Zusammentreffens mehrerer Straftaten und des bisherigen ordentlichen Lebenswandels zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sieben Jahren rechtskräftig verurteilt worden.

Der Beschwerdeführer habe eine hohe kriminelle Energie in Bezug auf Körpergewalt entwickelt und es sei ihm ein negatives Persönlichkeitsbild zuzuschreiben. Wegen der kürzlich begangenen Straftat im Zusammenhang mit der Brutalität könne von keiner positiven Zukunftsprognose ausgegangen werden, um vom Wegfall oder der Minderung der von ihm ausgehenden Gefährlichkeit für die Allgemeinheit in Bezug auf die körperliche sowie sexuelle Integrität Dritter auszugehen. Seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet sei notwendig, um zu verhindern, dass er weitere Straftaten begehe bzw. weiterhin eine Belastung für die öffentliche Hand sei.

Dagegen wurde rechtzeitig Beschwerde erhoben und im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer die deutsche Sprache fließend zumindest auf B2 Niveau beherrsche. Die Feststellungen, wonach er den Beruf des Glasbläsers erlernt habe, sieben Jahre als solcher gearbeitet sowie Berufserfahrung als Mechaniker und Hilfsarbeiter gesammelt habe, entspreche nicht den Tatsachen.

Zudem lebe er seit über zehn Jahren im Bundesgebiet, habe einen einjährigen Sohn im Land sowie drei Cousins. Drei Halbbrüder befänden sich in Holland und die übrigen Familienmitglieder in Deutschland. Zudem gebe es viele Freunde, ehemalige Kollegen und Bekannte in Österreich.

Am 31.5.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

Dabei legte der Beschwerdeführer einen Lebenslauf sowie ein persönliches Schreiben vor, welches er im Laufe der Verhandlung vortrug.

Zunächst brachte er vor, dass es Kontakt zu seinen Angehörigen, seiner Schwester und seinen Brüdern, in der Heimat gegeben habe. Er habe Kontakt zu seiner Schwägerin, sein Bruder sei im Jahr 2018 als Märtyrer verstorben. Zudem stehe er in Kontakt zu dessen sechs Kindern und seiner Schwester. Europaweit habe der Beschwerdeführer viele Familienmitglieder, auch in Österreich. Auch zu diesen stünde er in Kontakt und telefoniere mit ihnen in der Justizanstalt. Zudem habe er seinem Cousin in Europa einen Brief geschrieben. Er habe drei Cousins in Österreich, zwei in Amerika, einen in Norwegen, und sehr viele in Deutschland. Den Brief geschrieben habe er dem, der sich in Deutschland befinde, und dem, der sich in Österreich befinde. Den Cousins in Amerika habe er eine Vollmacht gegeben. Nachgefragt, wofür diese Vollmacht wäre, antwortete der Beschwerdeführer, er respektiere das Gericht in Österreich, aber hier sollte nichts akzeptiert werden, dann müsste er zum Gerichtshof. Deswegen hätten sie seine Unterlagen.

Der Kontakt zur Familie bestünde auch in der Justizanstalt weiterhin, seine Familie helfe ihm immer. Sie sähen sich seine Unterlagen an und kontrollierten, ob die österreichische Regierung ihn zu Recht verhaftet habe oder nicht. Sie unterstützten den Beschwerdeführer auch finanziell. Beispielsweise hätten die Angehörigen die Anwaltskosten für das Strafverfahren des Beschwerdeführers übernommen und schickten ihm auch Geld. Aus Afghanistan bekomme er keine finanzielle Unterstützung, nur von den Angehörigen in Europa, konkret seinem Cousin und dem Onkel aus Deutschland, sowie in Amerika. 80 % der Familie des Beschwerdeführers befinde sich in Europa und in Amerika, in Afghanistan habe er nur seine Schwester, die Schwägerin und die Kinder seines Bruders. Die Angehörigen seien aus Maidan Wardak geflohen und lebten nun in Kabul. Im Iran habe der Beschwerdeführer noch einen Cousin.

In der Heimat habe der Beschwerdeführer nur in Maidan Wardak gelebt, dann in Österreich und einmal sei er im Jahr XXXX in Pakistan gewesen, weil sein verletzter Bruder dorthin gebracht worden sei. Anschließend sei er nach Österreich zurückgekehrt.

Zu seiner Rückkehrbefürchtung erklärte der Beschwerdeführer, es wäre offensichtlich, dass sein Bruder von den Taliban getötet worden wäre. Sie wären auf der Suche nach ihm. Zudem würde die Situation immer schlechter und sei auch immer schlecht gewesen. Vorgehalten, der Beschwerdeführer habe in seiner Stellungnahme vom 11.5.2020 angegeben, er würde in Afghanistan weder strafrechtlich noch politisch verfolgt, erwiderte er, er habe keine Probleme mit der Regierung, die Taliban gehörten jedoch nicht zu ihr. Da sein Bruder für die Regierung gearbeitet hätte, wäre die ganze Familie bedroht.

Er selbst könne sich wegen seiner demokratischen Einstellung nicht vorstellen, in Afghanistan zu leben. Menschen müssten dort täglich beten und er sei nicht so eine Person.

Im Gefängnis habe er vor Corona Besuch bekommen, derzeit nicht. Sein Cousin befinde sich in Wien, er selbst sei woanders inhaftiert.

In der Justizanstalt arbeite der Beschwerdeführer in der Bäckerei und habe diesbezüglich auch einen Lohnzettel vorgelegt. Er erhalte auch Geld dafür. Seitens des anwesenden Justizwachebeamten wurde darauf hingewiesen, es gehe aus dem Auftrag zur Ausführung hervor, dass der Beschwerdeführer im Betrieb „Lebensmittel“ tätig sei.

Der Beschwerdeführer erklärte weiters, die Hälfte des verdienten Geldes lande in der Rücklage und er erhalte es erst bei Freilassung. Mit der anderen Hälfte kontaktiere er seine Familie oder kaufe sich Sachen. Seinen Sohn könnte er zwar finanziell unterstützen, habe jedoch keinen Kontakt zu ihm. Dies sei von der Justizanstalt aus verboten. Seit Juni 2019 habe er das Kind nicht mehr gesehen. Im Jahr 2019 habe der Beschwerdeführer einen Brief geschickt und daraufhin ein Schreiben des Bezirksgerichts erhalten, dass er keinen Kontakt zu den Kind aufnehmen dürfe.

Derzeit führe der Beschwerdeführer keine Beziehung. Nachgefragt, ob er irgendwelche Aktivitäten betreibe, erklärte er, er arbeite im Gefängnis, das sei schon eine Aktivität. Er habe mit niemanden zu tun und keiner habe mit ihm zu tun. Er habe außerdem schon immer gearbeitet.

Vor der Haft sei er in einem näher genannten Restaurant tätig gewesen und zwar als Teamleiter, er habe dort kochen gelernt und zudem habe er in ein paar anderen Restaurants gearbeitet.

Nachgefragt, wie er fast zwei Jahre nach Begehung seiner Straftaten zu diesen stehe, antwortete der Beschwerdeführer, die österreichische Regierung habe ihn, ohne Beweise zu haben, aufgrund einer Aussage verhaftet. Das wäre nicht rechtmäßig. Als er 2018 nach Österreich zurückgekehrt sei, hätten sie ihn verhaftet, anstatt ihm zu helfen. Er wisse, warum er verhaftet worden sei, aber es gebe keine Beweise. Die Aussagen seiner ehemaligen Lebensgefährtin wären nicht korrekt. Die sieben Jahre Haft wären zu Unrecht verhängt worden.

In der Folge zitierte der Beschwerdeführer Passagen aus den von ihm vorgelegten Schreiben und brachte darin im Wesentlichen vor, er wäre nicht kriminell, aber die österreichische Justiz unternehme alles Mögliche, um ihn zu kriminalisieren. Die Justiz blockiere alles, nehme ihm die Rechte und Menschenwürde. Die Lage in Afghanistan sei nach dem US-Abzug gefährlich, sein Leben sei in Gefahr. Er habe immer von ganzem Herzen die Wahrheit gesagt, nie gelogen, lügen tue nur die Justiz.

Auch habe er die deutsche Sprache gelernt, gelernt wie man arbeite und diese Kultur ganz übernommen.

Am 14.6.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht die Stellungnahme des Beschwerdeführers zu den im Rahmen der Verhandlung ausgehändigten Länderfeststellungen ein.

Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer lebe seit annähernd elf Jahren in Österreich und habe diese Zeit genutzt, um umfassende Integrationsschritte zu setzen. Er verfüge über ein Privat- und Familienleben in Österreich, beherrsche die deutsche Sprache und habe auch jahrelang bis zu seiner Inhaftierung gearbeitet. Nach der Haftentlassung könne er zu seiner ehemaligen Arbeitsstelle zurückkehren.

Zum derzeitigen Zeitpunkt würde sich eine Rückkehrentscheidung als unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK erweisen.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1. Der volljährige Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger. Er stammt aus Maidan Wardak und gehört dem moslemischen Glauben an. Seine Muttersprache ist Dari.

Der Beschwerdeführer reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 12.7.2010 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 18.10.2010, Zl. 10 16.110-BAT, wurde dieser Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberichtigten als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt I), dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III).

Die gegen Spruchpunkt I des Bescheides vom 18.10.2010 erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 20.12.2012, Zl. C15 416139-I/2010/15E, als unbegründet abgewiesen.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 11.10.2018, Zahl: 800611005/180965990, wurde dem Beschwerdeführer der ihm mit Bescheid vom 18.10.2010 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von amtswegen aberkannt (Spruchpunkt I), sein Antrag vom 27.6.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II) und die mit Bescheid vom 27.10.2016 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt III). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 nicht erteilt (Spruchpunkt IV). Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG wurde gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt und dem Beschwerdeführer gemäß § 58 Abs. 2 und 3 AsylG iVm § 55 AsylG eine Aufenthaltsberechtigung plus gemäß § 55 Abs. 1 AsylG erteilt (Spruchpunkt V).

Zum Zeitpunkt der Erteilung seines Aufenthaltstitels war der Beschwerdeführer mit einer österreichischen Staatsbürgerin verlobt und lebte mit dieser in einem gemeinsamen Haushalt. Auch verfügte er über soziale Kontakte zu Österreichern. Er übte zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit aus, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreicht und sogar überschritten wurde. Seit 23.5.2016 war der Beschwerdeführer in einem Restaurantbetrieb tätig gewesen und zuvor vom 23.7.2012 bis 14.8.2012, vom 11.9.2012 bis 28.4.2014, vom 3.5.2014 bis 19.9.2015 sowie vom 12.4.2016 bis 25.4.2016 als Arbeiter gemeldet, wobei er zwischenzeitlich auch Arbeitslosengeld bezogen hatte. Er verfügte über gute Deutschkenntnisse.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX als Schöffengericht vom XXXX wurde der Beschwerdeführer in weiterer Folge wegen wiederholten Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs. 1 und Abs. 2 vierter Fall StGB; der wiederholten Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB; Vergehen der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs. 1 StGB und dem Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB gegenüber seiner (damaligen) Lebensgefährtin zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt ( XXXX ).

Im Strafregister der Republik Österreich - geführt von der Landespolizeidirektion Wien - scheinen folgende Verurteilungen auf:

01) XXXX

§ 83 (1) StGB

§ 15 StGB § 105 (1) StGB

§§ 201 (1), 201 (2) 4. Fall StGB

§ 107 (1) StGB

Datum der (letzten) Tat XXXX

Freiheitsstrafe 7 Jahre

Im Bundesgebiet hat der Beschwerdeführer mit seiner Ex-Lebensgefährtin, dem Opfer seiner Taten, einen gemeinsamen Sohn, wobei er weder über die Obsorge noch ein Besuchsrecht verfügt und diesen auch nicht finanziell unterstützt. Zudem wurde ihm bereits XXXX seitens des zuständigen Bezirksgerichts der Kontakt verboten. Wie er selbst im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Richterin angab, hat hat der Beschwerdeführer das Kind seit Juni XXXX nicht mehr gesehen.

Ansonsten verfügt der Beschwerdeführer in Österreich lediglich über entfernte Verwandte in Form von Cousins, etwaige Abhängigkeiten oder besondere Bindungen bestehen nicht, finanziell wurde er laut eigenen Angaben in der Verhandlung von nicht im Bundesgebiet lebenden Angehörigen unterstützt. Besuch erhielt er in der Haft seit Ausbruch der Pandemie keinen.

Festgestellt wird daher, dass der Beschwerdeführer im Bundesgebiet kein Familienleben mehr führt.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit XXXX in Haft. In der Justizanstalt ist er in der Bäckerei (Betrieb „Lebensmittel“) tätig.

Der Beschwerdeführer verfügt über gute Deutschkenntnisse, nahm jedoch seit seinem ÖSD Deutschkurs A1/A2 im Jahr 2012 an keinen weiteren Ausbildungen teil. Er ist nicht ehrenamtlich tätig und nicht Mitglied in Vereinen.

Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen kamen nicht hervor.

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Abschiebung nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheits- und Menschenrechtslage und dem Vorstoß der Taliban derzeit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der jetzigen instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan zurzeit nicht ausgeschlossen werden. Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend derzeit auch nicht möglich und nicht zumutbar, sich im Abschiebungsfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht, nachdem die Städte Herat, Mazar-e Sharif und Kabul ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden.

Im Übrigen werden die Ausführungen im Verfahrensgang der Entscheidung zugrunde gelegt.

Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Aktuelle Lage in Afghanistan:

Kurzinformation vom 20.8.2021

Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).

Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a). Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b). Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c). Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).

Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021). Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SRVerlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).

Exkurs: Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban Führer auch nach außen auf. Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia-Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird.

Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die TalibanEinsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht. Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).
Quellen: bbc.com (o.D.a): Afghan women to have rights within Islamic law, Taliban say, https://www.bbc.com/news/world-asia-58249952 bbc.com (o.D.b): Flag-waving protesters defy Taliban in Afghan city, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 18.8.2021 bbc.com (o.D.c): Afghanistan: Who's who in the Taliban leadership, https://www.bbc.com/news/world-asia-58235639, Zugriff 18.8.2021 bbc.com (o.D.d): Taliban step up hunt for collaborators - UN report, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 19.8. orf.at (o.D.a): Sorge um afghanische Ortskräfte wächst, https://orf.at/stories/3225305/, Zugriff 18.8.2021 orf.at (o.D.b): Die Anführer des Taliban-Netzwerks, https://orf.at/stories/3225195/, Zugriff 18.8.2021 orf.at (o.D.c): Erneut Tote bei Kundgebung gegen Taliban, https://orf.at/stories/3225444/, Zugriff 19.8.2021 zdf.de (18.8.2021): Die aktuelle Entwicklung in Afghanistan, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-taliban-blog-100.html, Zugriff 18.8.2021 UN Bericht – Ständige Vertretung Österreichs bei den VN (18.8.2021): Briefing zur Lage in AF in NY 17.8.2021, per Email

Sonderkurzinformation der Staatendokumentation 17.8.2021

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021). Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021). Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a). Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021). Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b). Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021). Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).

Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a). IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021). Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021). Quellen: • BAMF (16.8.2021): Briefing Notes, per Email • bbc.com (o.D.): Afghanistan: US takes control of Kabul airport to evacuate staff from countryhttps://www.bbc.com/news/world-asia-58227029, Zugriff 16.8.2021 • Die Presse (17.8.2021): Die Türkei schottet sich mit Mauer gegen Flüchtlinge ab, https://www.diepresse.com/6021855/die-turkei-schottet-sich-mit-mauer-gegenfluchtlinge-ab, Zugriff 17.8.2021 • IOM (16.8.2021): Aussetzung der Freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, per Email • orf.at (16.8.2021): Krieg in Afghanistan ist vorbei, https://orf.at/stories/3225020/, Zugriff 16.8.2021 • orf.at (16.8.2021a): Verzweifelte Fluchtversuche aus Kabul, https://orf.at/stories/3225106/, Zugriff 17.8.2021 • orf.at (16.8.2021b): Nachbarländer in großer Unruhe, https://orf.at/stories/3225071/, Zugriff 17.8.2021• orf.at (17.8.2021): Ein Alptraum für Frauen, https://orf.at/stories/3225041/, Zugriff 17.8.2021 • tagesschau.de (15.8.2021): Präsident Ghani ins Ausland geflohen, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-kabul-ghani-101.html, Zugriff 16.8.2021 • UNHCR (8.2021): UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Refworld | UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Zugriff 17.8.2021 • VB – Verbindungsbeamtin des BM.I für Thailand/Pakistan [Österreich] (17.8.2021): Auskunft des VB, per Email • VB – Verbindungsbeamter des BM.I für Türkei [Österreich] (17.8.2021a): Auskunft des VB, per Email

2.       Beweiswürdigung:

Der oben unter Punkt I. angeführte sowie festgestellte Verfahrensgang ergibt sich aus den unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalten der vorgelegten Verwaltungsakten des Bundesasylamtes und des Bundesamtes sowie der Gerichtsakten des Asylgerichtshofes und des Bundesverwaltungsgerichtes.

Die Feststellungen zur Person, Herkunft und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers gründen sich auf seine diesbezüglich plausiblen und glaubhaften Angaben in den Verfahren vor der belangten Behörde und dem erkennenden Gericht. Das Bundesverwaltungsgericht sieht keine Veranlassung, an diesen Angaben zu zweifeln, weil sie im gesamten Verfahren gleichgeblieben sind und mit den Länderberichten im Einklang stehen.

Die Feststellungen zur persönlichen Situation sowie zur Integration in Österreich ergeben sich aus der gerichtlichen Einsichtnahme in den Sozialversicherungsdatenauszug, das zentrale Melderegister, aus den Angaben des Beschwerdeführers in den Verfahren, vor allem in der Einvernahme im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 31.5.2021, und aus den vorgelegten Dokumenten sämtlicher Verfahren.

Die rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers entsprechen dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichtes durch Einsichtnahme in das Strafregister der Republik Österreich sowie in die entsprechenden vorliegenden Strafurteile.

Die Feststellung, dass derzeit eine Abschiebung nach Afghanistan nicht möglich ist, folgt aus den unter Punkt II.1.2. festgestellten notorischen Ereignissen seit 6.8.2021. Vor diesem Hintergrund – insbesondere auch der Einnahme sämtlicher wichtiger Städte durch die Taliban und der derzeit aufgrund des Umbruchs nicht beurteilbaren Sicherheits- und Versorgungslage – würde eine Abschiebung nach Afghanistan für den Beschwerdeführer zum aktuellen Zeitpunkt eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen, zumal auch im Hinblick auf die unvorhersehbaren weiteren Entwicklungen, den fraglichen Weiterbestand staatlicher Ordnung und den notorischen Erfahrungen der Ausgestaltung von Ordnung unter den Taliban in den Jahren 1996 bis 2001 in Afghanistan.

Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan beruhen auf den angeführten Quellen. Bei den Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender Institutionen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Afghanistan ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Darstellung zu zweifeln.

3.       Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 Abs. 1 AsylG (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides)

Gemäß § 58 Abs. 1 Z 5 AsylG hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG von Amts wegen zu prüfen, wenn ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt. Über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gem. § 57 AsylG hat das Bundesamt gem. § 58 Abs. 3 AsylG im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.

§ 57 AsylG lautet auszugsweise:

„Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz

§ 57. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:

1.       wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,

2.       zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3.       wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

…“

Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 Abs. 1 AsylG liegen nicht vor, weil der Aufenthalt des Beschwerdeführers weder seit mindestens einem Jahr gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet ist - er zudem von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt wurde - noch zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig ist noch der Beschwerdeführer Opfer von Gewalt iSd § 57 Abs. 1 Z 3 FPG wurde. Weder hat der Beschwerdeführer das Vorliegen eines der Gründe des § 57 FPG behauptet, noch kam ein Hinweis auf das Vorliegen eines solchen Sachverhaltes im Ermittlungsverfahren hervor.

Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides)

§ 10 AsylG, § 52 Fremdenpolizeigesetz (FPG), § 9 Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Verfahrensgesetz (BFA-VG), und § 55 AsylG lauten auszugsweise:

„Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme (AsylG)

§ 10…
(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

...“

„Rückkehrentscheidung (FPG)

§ 52 …

(1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich

1. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält

(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist.

(11) Der Umstand, dass in einem Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung deren Unzulässigkeit gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festgestellt wurde, hindert nicht daran, im Rahmen eines weiteren Verfahrens zur Erlassung einer solchen Entscheidung neuerlich eine Abwägung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmen, wenn der Fremde in der Zwischenzeit wieder ein Verhalten gesetzt hat, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde.“

„Schutz des Privat- und Familienlebens (BFA-VG)

§ 9 (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1.         die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2.         das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3.         die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4.         der Grad der Integration,
5.         die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6.         die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7.         Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8.         die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9.         die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

…“


„Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK (AsylG)

§ 55 (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn,

1.       dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2.       der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.

…“

Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien vorzunehmen. Dabei sind die Umstände des Einzelfalles unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen.

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Vom Prüfungsumfang des Begriffes des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR vom 14.03.1980, B 8986/80; EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (EKMR vom 06.10.1981, B 9202/80; EuGRZ 1983, 215; VfGH vom 12.03.2014, U 1904/2013). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt.

Unter „Privatleben“ im Sinne von Art. 8 EMRK sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554).

Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zu (VwGH vom 25.04.2018, Ra 2018/18/0187). Liegt eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so muss die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich sein, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (VwGH vom 18.09.2019). Die Kombination aus Fleiß, Arbeitswille, Unbescholtenheit, dem Bestehen sozialer Kontakte in Österreich, dem verhältnismäßig guten Erlernen der deutschen Sprache sowie dem Ausüben einer Erwerbstätigkeit stellt bei einem Aufenthalt von knapp vier Jahren im Zusammenhang mit der relativ kurzen Aufenthaltsdauer keine außergewöhnliche Integration dar (VwGH vom 18.09.2019, Ra 2019/18/0212). Es ist im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (VwGH vom 28.02.2019, Ro 2019/01/003).

Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht alleine maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 12.11.2019, Ra 2019/20/0422).

Bei der Beurteilung der Frage, ob die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme aus dem Blickwinkel des Art. 8 MRK zulässig ist, kann auch ein langjähriger Aufenthalt des Fremden in Österreich u.a. durch sein massives strafrechtliches Fehlverhalten relativiert sein (Hinweis E vom 10. November 2015, Ro 2015/19/0001, mwN). (VwGH 18.10.2018, Ra 2017/19/0109)

Für den konkreten Fall bedeutet dies:

Der Beschwerdeführer reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 12.7.2010 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 18.10.2010 wurde dem Beschwerdeführer

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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