TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/5 W260 2127031-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.10.2021
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Entscheidungsdatum

05.10.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
FPG §55 Abs4

Spruch


W260 2127031-2/31E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Markus BELFIN als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Mag. Robert BITSCHE, Rechtsanwalt in 1050 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz, vom 25.07.2019, Zl. 1000014601-181071016, nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 18.11.2019 und 08.06.2021 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 03.01.2014, als unbegleiteter Minderjähriger, einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Am selben Tag erfolgte seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes. Dabei gab er zu seinen persönlichen Umständen und zu seinem Fluchtgrund im Wesentlichen an, er wäre schiitischer Moslem, Tadschike, in Herat geboren und hätte ab seinem siebten Lebensjahr mit seiner Mutter und seinen Geschwistern im Iran gelebt. Dort hätte er als Hilfsarbeiter gearbeitet.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass sein Vater die Glaubensrichtung geändert hätte und Schiite geworden wäre. Deshalb wäre er von seinen Verwandten an die Taliban verraten und von diesen getötet worden. Der Beschwerdeführer und seine Familie wären aber weiterhin von ihren Verwandten, insbesondere einem Onkel, belästigt worden und sie hätten daher aus Angst Afghanistan verlassen und wären in den Iran gegangen.

2. Der Beschwerdeführer wurde am 13.05.2015 im Beisein seiner gesetzlichen Vertretung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (kurz: belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zu seinen persönlichen Umständen im Wesentlichen ergänzend an, dass er im Iran keine Dokumente gehabt hätte und daher keine offizielle Schule besuchen hätte können. Er hätte aber fünf Jahre lang eine afghanische Schule im Iran besucht. Die Mutter, zwei Schwestern und ein Bruder des Beschwerdeführers würden nach wie vor im Iran leben. In Afghanistan würden sein Onkel väterlicherseits sowie Cousins und Cousinen leben. Er hätte aber keinen Kontakten zu diesen Verwandten.

Zu seinem Fluchtgrund befragt gab er zusammengefasst an, dass seine Mutter Schiitin wäre. Sein Vater wäre Sunnite gewesen. Nach der Hochzeit wäre sein Vater Schiite geworden. Damit hätte er den Onkel des Beschwerdeführers gegen sich aufgebracht. Dieser hätte gewollt, dass der Vater wieder Sunnite werde. Er hätte die Taliban informiert und diese hätten den Vater des Beschwerdeführers getötet. Dann wäre die Mutter mit dem Beschwerdeführer und seinen Geschwistern in den Iran geflüchtet.

3. Mit Eingabe vom 19.04.2016 gab die gesetzliche Vertretung des minderjährigen Beschwerdeführers eine Stellungnahme ab.

4. Mit Bescheid vom 26.04.2016 wies die belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) ab, erkannte den Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) zu und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 26.04.2017 (Spruchpunkt III.).

Die Erteilung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten wurde im Wesentlichen mit der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers, des Fehlens eines sozialen Netzes in Afghanistan, sowie des jahrelangen Auslandsaufenthaltes des Beschwerdeführers im Iran begründet.

5. Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch seinen gesetzlichen Vertreter, mit Schriftsatz vom 27.05.2016 fristgerecht Beschwerde.

6. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.12.2016, GZ. W140 2127031-1/10E, wurde das Verfahren wegen Zurückziehung der Beschwerde eingestellt.

7. Mit Eingabe vom 22.02.2017 beantragte der Beschwerdeführer die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung. Die Gründe, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt hätten, hätten sich nicht geändert.

8. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 28.04.2017 wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 26.04.2019 verlängert.

9. Der Beschwerdeführer wurde am 15.03.2019 wegen des Verdachtes auf Raufhandel gemäß § 91 StGB, versuchte absichtlich schwere Körperverletzung gemäß § 15 iVm § 87 StGB und Widerstand gegen die Staatsgewalt gemäß § 269 Abs. 1 StGB in Untersuchungshaft genommen.

10. Am 28.03.2019 wurde durch die Staatsanwaltschaft XXXX , Zl. 11 St 86/19h-1, Anklage gegen den Beschwerdeführer erhoben.

11. Am 09.04.2019 vernahm die belangte Behörde den Beschwerdeführer zur Prüfung einer Aberkennung des gewährten subsidiären Schutzes.

12. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 24.05.2019, Zl. 37 Hv 44/19z, wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der versuchten absichtlichen Körperverletzung nach den §§ 15 Abs. 1, 87 Abs. 1 StGB, des Vergehens des Widerstandes gegen die Staatsgewalt gemäß § 269 Abs. 1 StGB, des Vergehens der versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt gemäß §§ 15 Abs. 1, 269 Abs. 1 StGB, der Vergehen der schweren Körperverletzung nach den §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB, des Vergehen der versuchten schweren Körperverletzung nach den §§ 15 Abs. 1, 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB und wegen des Vergehens nach § 50 Abs. 1 Z 2 WaffG zu einer Freiheitsstrafe von fünfzehn Monaten, davon zehn Monate bedingt, Probezeit drei Jahre, rechtskräftig verurteilt.

13. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 25.07.2019 erkannte die belangte Behörde den dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 26.04.2016 zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen ab (Spruchpunkt I.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt II.), es wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt IV.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt V.) und ein, auf Dauer von sieben Jahren, befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde zur Aberkennung des Schutzstatus im Wesentlichen ausgeführt, dass die Gründe für die seinerzeitige Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorliegen würden.

Der Status des subsidiär Schutzberechtigten sei ihm aufgrund des fehlenden familiären Netzwerkes, des damaligen jugendlichen Alters sowie des langjährigen Auslandsaufenthaltes im Iran zuerkannt worden.

Nunmehr seien ihm, als erwachsenen und jungen Mann, innerstaatliche Fluchtalternativen, wie Herat oder Mazar-e Sharif, zumutbar. Er hätte in Österreich die Schule besucht und Berufserfahrung als Friseur machen können und könne durch eigene Erwerbstätigkeit für seinen Lebensunterhalt aufkommen. Er verfüge in Österreich zwar über seinen jüngeren Bruder, der hier subsidiär schutzberechtigt, der Beschwerdeführer lebe aber weder mit seinem Bruder, noch mit seiner Freundin im gemeinsamen Haushalt. Er sei in Österreich mehrfach straffällig geworden und bereits zu insgesamt 15 Monaten Freiheitsstrafe, teilweise bedingt, verurteilt worden.

Unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände überwiege das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit eindeutig sein Familienleben und seine privaten Interessen am Verbleib in Österreich.

14. Mit Schreiben vom 23.08.2019 erhob der Beschwerdeführer gegen diesen Bescheid durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. Er brachte darin im Wesentlichen vor, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan über kein soziales oder familiäres Netzwerk verfügen würde und keine Familie oder Angehörigen hätte. Er würde die afghanische Kultur und Lebensweise nicht kennen, er wäre im Iran aufgewachsen. Er wäre zwar in Österreich straffällig geworden, bereue dies aber sehr. Die Sicherheitslage in Afghanistan wäre, entgegen der Annahme der belangten Behörde, katastrophal. Der Beschwerdeführer legte seiner Beschwerde ein Konvolut an Integrationsunterlagen bei.

15. Die belangte Behörde legte den Verwaltungsakt mit Schreiben vom 27.08.2019 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 28.08.2019 einlangte.

16. Mit Eingabe vom 14.10.2019 reichte die belangte Behörde eine Meldung des Stadtpolizeikommando XXXX vom 11.10.2019 über die Anzeigeerstattung gegen den Beschwerdeführer wegen Diebstahles nach.

17. Mit Eingabe vom 11.11.2019 reichte die belangte Behörde eine Verständigung der Behörde von der Einstellung des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft XXXX vom 11.10.2019 nach, wonach das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen § 127 StGB eingestellt wurde.

18. Mit Schreiben vom 15.11.2019 gab die ARGE Rechtsberatung bekannt, die Vollmacht niederzulegen.

19. Mit Schreiben vom 18.11.2019 gab der Beschwerdeführer bekannt, dass er einen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung beauftragt habe.

20. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 18.11.2019 in Anwesenheit des Beschwerdeführers, seines Rechtsvertreters und eines Vertreters der belangten Behörde eine mündliche Verhandlung durch.

Im Zuge derer wurde der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen und zur Situation im Falle einer Rückkehr befragt und wurde die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers, XXXX zeugenschaftlich einvernommen.

Den Parteien des Verfahrens wurde die Möglichkeit der schriftlichen Stellungnahme eingeräumt.

21. Der Beschwerdeführer gab durch seinen Rechtsanwalt mit Eingabe vom 03.12.2019 eine Stellungnahme ab.

22. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 08.06.2021 in Anwesenheit des Beschwerdeführers und seines Rechtsvertreters eine weitere mündliche Verhandlung durch.

Im Zuge derer wurde der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen und zur Situation im Falle einer Rückkehr befragt wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

23. Der Beschwerdeführer gab durch seinen Rechtsanwalt mit Eingabe vom 21.06.2021 eine Stellungnahme ab. Die belangte Behörde gab keine Stellungnahme ab.

24. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 04.10.2021 eine neuerliche Abfrage im Strafregister durch. Neue Verurteilungen waren nicht ersichtlich.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX . Er wurde am XXXX geboren und stammt aus der Provinz Herat. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und schiitischer Muslim. Er spricht Farsi, Dari und Deutsch. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Vater des Beschwerdeführers ist verstorben. Die Mutter und zwei Schwestern des Beschwerdeführers leben im Iran. Der jüngere Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , geb. XXXX , lebt als subsidiär Schutzberechtigter in Österreich. Der Beschwerdeführer hat regemäßig telefonischen Kontakt zu seiner Mutter und seinen Schwestern im Iran. Er hat auch regelmäßig Kontakt zu seinem Bruder, der bei einer österreichischen Pflegefamilie lebt.

Der Beschwerdeführer lebte ab seinem siebten Lebensjahr im Iran. Dort konnte er mangels legalem Aufenthalt keine iranische Schule besuchen. Er besuchte eine afghanische Schule und arbeitete als Hilfsarbeiter.

Er hat einen Onkel väterlicherseits und weitere Verwandte in Afghanistan. Zu diesen hat er keinen persönlichen Kontakt.

Er stellte am 03.01.2014 als unbegleiteter, minderjähriger Flüchtling einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

1.2.    Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Mit Bescheid der belangten Behörde vom 26.04.2016 wurde sein Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen und ihm wurde subsidiärer Schutz erteilt. Er erhielt eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 26.04.2017.

Am 22.02.2017 stellte er einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung und wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid der belangten Behörde vom 28.04.2017 bis zum 26.04.2019 verlängert.

Der Beschwerdeführer befand sich seit seiner Antragstellung im Jänner 2014 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 und befindet sich seit April 2016 aufgrund einer Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet.

Der Beschwerdeführer hat im Schuljahr 2017/2018 und 2018/2019 die Berufsschule für den Friseurberuf absolviert und als Friseurlehrling gearbeitet. Von Oktober 2020 bis Dezember 2020 hat der Beschwerdeführer den Kurs „Vorbereitung außerordentliche Lehrabschlussprüfung für Friseure“ absolviert.

Derzeit ist der Beschwerdeführer arbeitslos und bezieht Leistungen des AMS.

In Österreich lebt der Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , geb. XXXX , als subsidiär Schutzberechtigter. Der Beschwerdeführer lebt mit seinem Bruder nicht im gemeinsamen Haushalt und besteht auch kein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Geschwistern.

Der Beschwerdeführer war mit einer österreichischen Staatsbürgerin verlobt. Die Verlobung wurde aber mittlerweile gelöst.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 24.05.2019, Zl. 037 Hv 44/2019z, rechtskräftig seit 27.05.2019, wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der versuchten absichtlich schweren Körperverletzung nach den §§ 15 Abs. 1, 87 Abs. 1 StGB, wegen des Vergehens des Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach § 269 Abs. 1 StGB, wegen des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach den §§ 15 Abs. 1, 269 Abs. 1 StGB, wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB, wegen des Vergehens der versuchten schweren Körperverletzung nach § 15 Abs. 1 und 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB und wegen des Vergehens nach § 50 Abs. 1 Z 2 WaffG unter Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB und des § 19 Abs. 1 JGG nach dem Strafsatz des § 87 Abs.1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten, davon Freiheitsstrafe 10 Monate bedingt, Probezeit drei Jahre, verurteilt. Gemäß § 38 Abs. 1 Z 1 StGB wurde die Vorhaft vom 15.03.2019, 14.15 Uhr bis 24.05.2019, 17.20 Uhr angerechnet und gemäß §§ 50, 52 StGB Bewährungshilfe für die Dauer der Probezeit angeordnet.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 04.06.2019, Zl. 024 BE 87/2019y, wurde der Beschwerdeführer am 25.06.2019 aus der Freiheitstrafe entlassen, bedingt, Probezeit drei Jahre, und Bewährungshilfe angeordnet.

Mit Beschluss des Landesgerichtes XXXX vom 18.05.2021, 24 BE 87/19y-15, wurde die anlässlich der bedingten Entlassung am 25.06.2019 angeordnete Bewährungshilfe gemäß §§ 50, 52 StGB aufgehoben, da der Beschwerdeführer von XXXX nach Wien übersiedelt ist.

Trotz dieser Verurteilung ist aktuell keine Gefahr der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Beschwerdeführer gegeben.

Der Beschwerdeführer hat den unbedingten Teil seiner Freiheitsstrafe verbüßt.

Im Anschluss daran hat er Bewährungshilfe erhalten und sich im Rahmen der Bewährungshilfe auch einer Psychotherapie unterzogen.

Der Beschwerdeführer hat sich von seinem früheren „falschen“ Freundeskreis distanziert, wozu auch seine ehemalige österreichische Verlobte gehörte und übersiedelte im Februar 2021 von XXXX nach Wien.

Er hat Kurse absolviert, bezieht derzeit Leistungen des AMS und lebt in einer Privatwohnung.

Seit seiner Verurteilung im Mai 2019 scheint kein weiterer Eintrag im Strafregister auf.

1.3.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Beschwerdeführers und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, insbesondere in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat-Stadt, wird festgestellt, dass sich jene Umstände, die zur Gewährung subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid vom 26.04.2016 nicht wesentlich und nachhaltig verändert haben.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist völlig gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Dem Beschwerdeführer ist eine Rückkehr nach Afghanistan nicht möglich.

Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheits- und Menschenrechtslage und der Machtübernahme durch Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Im Falle einer Niederlassung des Beschwerdeführers in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif oder sonst irgendwo in Afghanistan droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Es kann nicht mit der notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan landesweit dem realen Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist.

Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar, sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht, nachdem die Städte Herat, Mazar-e Sharif und Kabul ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden.

Somit ist aus den getroffenen Länderfeststellungen im Vergleich zu den bei Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten herangezogenen Länderberichten insbesondere keine Verbesserung der Sicherheits- oder Versorgungslage in Afghanistan, eingetreten. Unter Berücksichtigung der Folgen der Machtübernahme durch die Taliban und daraus resultierenden unsicheren staatlichen Struktur ist sogar eine Verschlechterung der Versorgungslage und Sicherheitslage ersichtlich.

Beim Beschwerdeführer kam es zu einer teilweisen Änderung seiner individuellen Situation. Er war zum Zeitpunkt, als ihm subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, 17 Jahre alt. Nunmehr ist er volljährig und hat in Österreich gearbeitet und begonnen, eine Berufsausbildung zu absolvieren. Nach wie vor verfügt der Beschwerdeführer aber über kein soziales Netzwerk in Afghanistan und hat sich auch nach wie vor nichts daran geändert, dass er bereits seit seinem siebten Lebensjahr nicht mehr in Afghanistan gelebt hat und daher aufgrund des langen Auslandsaufenthaltes kein nennenswerter Bezug mehr zu Afghanistan besteht. Es ist daher auch keine maßgebliche Änderung der individuellen Situation des Beschwerdeführers eingetreten.

1.4.    Zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Version 5, 16.09.2021 (LIB),

The Danisch Immigration Service, Country of Origin Information, Afghanistan “Recent developments in the security situation, impact on civilians and targeted individuals, September 2021 (Danish Immigration Service).

1.4.1   Politische Lage - Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte. Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich. Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal. Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung, die schließlich nicht zustande kam Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets. Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (LIB).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (LIB).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als QuettaShura. Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war, ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war. Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada, ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (LIB).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen. Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (LIB).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (LIB).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt, Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten. So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt. Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (LIB).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen. Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen. China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offengehalten (LIB).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen. Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (LIB).

1.4.2   Friedensverhandlungen und Abzug der internationalen Truppen - Letzte Änderung: 16.09.2021

1.4.2.1  Friedensverhandlungen

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan Konflikts zur Beendigung des Krieges statt. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden. Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass „irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen“ (LIB).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (LIB).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (LIB).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden. Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (LIB).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar. In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen. Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (LIB).

1.4.2.2 Abzug der Internationalen Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen - etwa 2.500 - 3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“, allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen. Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der „Bruch“ des Doha-Abkommens „öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat“. Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab. Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (LIB).

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte, während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen „Besatzungstruppen“ gearbeitet hätten, „irregeführt“ worden seien und „Reue“ für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem „Verrat“ am Islam und an Afghanistan gleichkämen (LIB).

1.4.3   Sicherheitslage Letzte Änderung: 16.09.2021

Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu, aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil. Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in. Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in „halsbrecherischer Geschwindigkeit“, innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte. Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog. Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein. Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif. Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück. Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird, auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (LIB).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt, formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten. Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen. Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein, während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei. Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (LIB).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen. Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (LIB).

1.4.4 Erreichbarkeit - Letzte Änderung: 16.09.2021

Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen. Seit dem Fall der ersten Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (LIB).

1.4.4.1 Internationale Flughäfen in Afghanistan

In Afghanistan gab es [vor der Machtübernahme der Taliban] insgesamt vier internationale Flughäfen; alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnete die afghanische Luftfahrtindustrie einen zahlenmäßigen Anstieg ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul - Herat und Kabul - Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, wurden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt (LIB).

1.4.4.1.1 Internationaler Flughafen Hamid Karzai [Internationaler Flughafen Kabul]

Ehemals bekannt als internationaler Flughafen Kabul, wurde er im Jahr 2014 in „Internationaler Flughafen Hamid Karzai“ umbenannt. Er liegt 16 km außerhalb des Stadtzentrums von Kabul. In den letzten Jahren wurde der Flughafen erweitert und modernisiert. Ein neues internationales Terminal wurde hinzugefügt und das alte Terminal wird nun für nationale Flüge benutzt (LIB).

Die Taliban haben Katar um technische Hilfe bei der Wiederaufnahme des Flughafenbetriebs auf dem Hamid-Karzai-Flughafen gebeten, der bei der überstürzten Evakuierung von mehr als 120.000 Menschen nach dem Abzug der amerikanischen Truppen am 30. August schwer beschädigt worden war. Vertreter aus Katar erklärten Anfang September, der Flughafen von Kabul sei zu 90 % wieder betriebsbereit (LIB).

Nationale (Kam Air, Ariana Afghan Airlines) und internationale Fluggesellschaften (z.B. Air India, Air Arabia, Fly Dubai…) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von der Türkei, China, Indien, Aserbaidschan, Usbekistan, Pakistan, Saudi-Arabien, Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Kabul an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Kabul (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen von Kandahar, Bost (Helmand, nahe Lashkargah), Tarinkot, Faizabad, Zaranj, Kunduz, Farah, Herat und Mazar-e Sharif (LIB).

1.4.4.1.2 Internationaler Flughafen Mazar-e Sharif

Im Jahr 2013 wurde der internationale Maulana Jalaluddin Balkhi Flughafen in Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh, eröffnet. Nationale Airlines (Kam Air, Ariana Air) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von Indien und der Türkei nach Mazar-e Sharif an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Mazar-e Sharif (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (LIB).

1.4.4.1.3 Internationaler Flughafen Herat

Der Flughafen Herat befindet sich etwa 10 km südlich von Herat-Stadt entfernt. Vor der Machtübernahme der Taliban wurden auf dem Flughafen jährlich etwa 350.000 Passagiere abgefertigt und die Verwaltung des Flughafens sowie die Instandhaltung des Flugplatzes wurden [vor ihrem Abzug] von den NATO-Streitkräften unter italienischem Kommando durchgeführt. Nationale Airlines (Kam Air und Ariana Afghan Airlines) flogen Herat international aus Saudi-Arabien an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Herat (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (LIB).

1.4.4.2 Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021

Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan oder über den Grenzübergang Islam Kala in den Iran geflohen. Der Grenzübergang Torkham - neben Chaman der wichtigste Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan - war zeitweilig geschlossen, wurde Mitte September 2021 nach Angaben eines pakistanischen Behördenvertreters für Fußgänger jedoch wieder geöffnet. Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte Anfang September 2021, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (LIB)

1.4.5   Zentrale Akteure - Letzte Änderung: 16.09.2021

In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (LIB).

Die Geschichte Afghanistans ist seit langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfen, die in den 1990er Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. „re-hatting“: wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen. Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001 -15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (LIB).

1.4.5.1 Verbleibende und neue Akteure in Afghanistan

Obwohl die Taliban die Kontrolle über ganz Afghanistan haben - mit Ausnahme des Panjshir-Tals und anderer kleiner Widerstandsnester - ist anzumerken, dass die Taliban nicht der einzige Akteur im Land sind (Danish Immigration Service).

Im Panjshir -Tal hatten die Überreste der ehemaligen afghanischen Regierung und lokaler Milizen die National Resistance Front (NRF) unter der Führung des ehemaligen Vizepräsidenten der Republik Amrullah Saleh und Ahmad Massoud gebildet. Die NRF soll vor der Eroberung von Panjshir durch die Taliban aus mehreren Tausend Mann mit Ausrüstung der afghanischen Armee bestehen. In den Tagen nach der Eroberung von Panjshir durch die Taliban gelobte Massoud, dass die NRF den Taliban weiterhin Widerstand leisten werde (Danish Immigration Service).

Al-Qaida besteht aus rund 500 Mitgliedern und ist nach Einschätzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (UNSC) in mindestens 15 der 34 Provinzen Afghanistans vor allem in den östlichen, südlichen und südöstlichen Regionen tätig. Der UNSC erklärt weiter, dass die Gruppe weiterhin eng mit den Taliban verbunden ist (Danish Immigration Service)

Es wird geschätzt, dass der Islamische Staat der Provinz Khorasan (ISKP) eine Kerngruppe von etwa 1.500 bis 2.200 Kämpfern hauptsächlich in kleinen Gebieten der östlichen Provinzen Kunar und Nangarhar hält, aber auch in geringerer Zahl in nördlichen Provinzen wie Balkh und Badakhshan präsent ist , Kunduz und Sar-e Pul. Die Gruppe erlitt im Jahr 2020 erhebliche Gebiets- und Personalverluste, erleichtert jedoch weiterhin Angriffe in ganz Afghanistan, einschließlich größerer Städte wie Dschalalabad und Kabul (Danish Immigration Service)

Unter anderen in Afghanistan noch präsenten Akteuren ist die Islamische Bewegung Usbekistans (IMU), die aus etwa 700 Kämpfern besteht, die in den Provinzen Faryab, Sar-e Pul und Jawzjan ansässig sind, wo sie auf lokale Zweige der Taliban zur finanziellen Unterstützung angewiesen sind (Danish Immigration Service)

1.4.5.2 Taliban - Letzte Änderung: 14.09.2021

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha, im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben, wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen. Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte. Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (LIB).

Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (LIB).

1.4.5.3 Struktur und Führung der Taliban - Letzte Änderung: 16.09.2021

Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (LIB).

Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an. Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001. Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat, sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (LIB).

Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als „Ministerien“ fungierten. Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (LIB).

Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada. Er ist seit 2016 der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“, ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde. Er hat drei Stellvertreter: 1.) der Stellvertreter für Politisches ist Mullah Abdul Ghani Baradar, der Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha; 2.) der Stellvertreter für die südlichen Provinzen und Leiter der militärischen Operationen bzw. der einflussreichen Kommission für militärische Angelegenheiten ist Mullah Mohammad Yaqoob; 3.) der Stellvertreter für die östlichen Provinzen ist Sirajuddin Haqqani, der auch der Anführer des Haqqani-Netzwerks und der Miran Shah-Schura ist. Im September 2021 wurde angekündigt, dass Baradar in der „Übergangsregierung“ die Position des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats einnehmen wird, Yaqoob soll Verteidigungsminister werden, Sirajuddin Haqqani Innenminister. Haibatullah Akhunzada wird sich als „Oberster Führer“ auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (LIB).

Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban. Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet, was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (LIB).

Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation. Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40 - 45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (LIB).

1.4.5.4 Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten - Letzte Änderung: 16.09.2021

Nach der Machtübernahme der Taliban wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände. Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (LIB).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren. Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben. Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden. Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (LIB).

Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus. Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (LIB).

Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE („Handheld Interagency Identity Detection Equipment“)-Geräte]. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenministeriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (LIB).

Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E- Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine „wahre Fundgrube an Informationen“ für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien „wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber“ (LIB).

Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros zudem keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (LIB).

Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen von Ausländern und afghanischen Ortskräften nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine „Todesliste“ gesetzt, wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (LIB).

1.4.5.4.1 Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden. Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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