Entscheidungsdatum
20.10.2021Norm
AsylG 2005 §55Spruch
W189 2246724-1/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch den Abwesenheitskurator RA XXXX , dieser vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU-GmbH), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführerin (in der Folge: die BF) wurde nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am XXXX und Stellung eines Asylantrags am XXXX sowie am XXXX mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX , Zl. XXXX , in Österreich gemäß § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt und festgestellt, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
2. Mit Schreiben vom XXXX teilte die Österreichische Botschaft XXXX dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: das BFA) mit, dass die BF vorgesprochen habe, um Unterstützung bei der Rückreise nach Österreich zu erhalten, wobei sie ihren Konventionsreisepass und ihren in Russland ausgestellten russischen Reisepass in Vorlage gebracht und mitgeteilt habe, sich bis jetzt in XXXX bei ihrem Ehemann aufgehalten zu haben. Dem Schreiben angehängt wurden Passkopien.
3. Mit Schreiben vom XXXX forderte das BFA den Lebensgefährten der BF in Österreich auf, den Aufenthalt der BF bekanntzugeben.
4. Am XXXX langte eine E-Mail beim BFA ein, wonach die Absenderin die BF sei und sie nach XXXX gezogen und dort gemeldet sei, da ihr Sohn an Autismus leide und sie eine Involvierung des Jugendamtes vermeiden habe wollen.
5. Auf Anregung des BFA bestellte das Bezirksgericht XXXX mit Beschluss vom XXXX einen Abwesenheitskurator für die BF. Dem zugrunde lag eine negative Melderegisterabfrage und der Bericht über eine polizeiliche Nachschau an der ehemaligen Wohnadresse der BF am XXXX , die per ehemaliger Unterkunftgeberin ergeben habe, dass die BF seit ca. XXXX Jahren nicht mehr dort wohne, sondern in die XXXX gezogen sei.
6. Mit Schreiben vom XXXX ersuchte der Abwesenheitskurator der BF das BFA darzulegen, aufgrund welcher Erhebungen der Absender der unter Punkt I.4. genannten E-Mail als mit der BF ident betrachtet werde.
7. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom XXXX erkannte das BFA der BF den Status der Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ab und stellte fest, dass der BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Der BF wurde der Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde eine Rückkehrentscheidung gegen die BF erlassen (Spruchpunkt IV.), die Zulässigkeit ihrer Abschiebung in die Russische Föderation festgestellt (Spruchpunkt V.) und ihr eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für eine freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass die BF sich wieder dem Schutz ihres Herkunftsstaates unterstellt habe, weshalb ihr der Status der Asylberechtigten abzuerkennen sei. Eine refoulementschutzrechtlich relevante Gefährdung im Falle einer Rückkehr nach Russland sei nicht gegeben. Die BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe ihr Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens im Bundesgebiet, zumal aufgrund ihres bereits längeren Abwesenheit, nicht entgegen. Angesichts der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung der BF nach Russland. Die Frist für die freiwillige Ausreise von vierzehn Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die die BF bei der Regelung ihrer persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
8. Gegen diesen Bescheid brachte die BF durch ihren wiederum vertretenen Abwesenheitskurator fristgerecht Beschwerde ein und wurde insbesondere moniert, dass das BFA keine hinreichenden Ermittlungen über den Aufenthalt der BF angestellt habe und somit die Abwesenheit der BF nicht feststehe.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt)
1.1 Zur Person der BF
1.1.1. Die BF ist russische Staatsangehörige und gehört der Volksgruppe der XXXX sowie der Religionsgemeinschaft der XXXX an. Sie ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Sie spricht XXXX , Russisch und Deutsch.
Die BF wurde in XXXX , XXXX , geboren und hat bis zu ihrer Ausreise im XXXX in XXXX gelebt. Sie hat von XXXX bis XXXX in XXXX die Grundschule besucht.
Die BF reiste im XXXX gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten und ihrem Sohn in Österreich ein und stellte im XXXX einen Asylantrag, welchen sie damit begründete, dass sie selbst keine Fluchtgründe habe, sondern wegen der Probleme ihres Lebensgefährten ausgereist sei. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der BF gemäß § 7 AsylG 1997 in Österreich Asyl gewährt und festgestellt, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
Die BF ließ sich am XXXX einen russischen Auslandsreisepass ausstellen. Am XXXX wurde die BF bei der Österreichischen Botschaft XXXX vorstellig, um aufgrund des abgelaufenen Konventionsreisepasses ihres jüngeren Sohnes Unterstützung bei der Rückreise nach Österreich zu erlangen.
Seit XXXX ist die BF vom Bezug der bedarfsorientierten Mindestsicherung abgemeldet. Seit XXXX verfügt die BF über keine Wohnsitzmeldung in Österreich. Die BF ist nicht in Österreich aufhältig, sondern lebt jedenfalls seit XXXX in Russland. Der Lebensgefährte der BF verfügt über einen aufrechten Wohnsitz in Österreich. Der ältere Sohn und die Tochter der BF haben seit XXXX , der jüngere Sohn seit XXXX keine Wohnsitzmeldung in Österreich. Den Kindern der BF wurde im XXXX vom BFA der Status der Asylberechtigten rechtskräftig aberkannt. Es sind keine besonderen, aktuellen Anknüpfungspunkte der BF zum Bundesgebiet hervorgekommen.
Es ist keine lebensbedrohliche Erkrankung der BF hervorgekommen.
Sie ist strafgerichtlich unbescholten.
Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX wurde RA XXXX zum Abwesenheitskurator der BF im gegenständlichen Verfahren bestellt.
1.1.2. Die BF unterliegt in der Russischen Föderation keiner aktuellen Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.
Der BF ist die Rückkehr in die Russische Föderation zumutbar, zumal sie bereits dort lebt.
Im Falle einer Rückkehr würde sie in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es würde ihr nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen werden. Sie läuft nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.
Im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat ist die BF nicht in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.
Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr ausschließen, konnten nicht festgestellt werden.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation
1.2.1. Sicherheitslage im Nordkaukasus
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 4.2017).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgen nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sogenannten IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. 2018 wurde laut dem Inlandsgeheimdienst FSB die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen mehr als halbiert. Auch 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Jedoch stellt ein Sicherheitsrisiko für Russland die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020).
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 6.2020). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.1.2020).
Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (Caucasian Knot 2.7.2020a, Caucasian Knot 2.7.2020b, Caucasian Knot 27.10.2020, Caucasian Knot 24.12.2020, Caucasian Knot 20.2.2021).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
? ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (19.6.2019): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen
? Caucasian Knot (2.7.2020a): In January 2020, there were no victims of armed conflict in Northern Caucasus
? Caucasian Knot (2.7.2020b): In February and March 2020, four people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus
? Caucasian Knot (27.10.2020): In Quarter 2 of 2020, 11 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus
? Caucasian Knot (24.12.2020): 15 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus in Q3 2020
? Caucasian Knot (20.2.2021): In Quarter 4 of 2020, 26 persons fell victim to armed conflict in North Caucasus
? Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden
? ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus
1.2.2. Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein
Die tschetschenische Führung setzt ihren Angriff auf alle Formen von abweichender Meinung und Kritik fort (HRW 13.1.2021). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen Kritiker und Journalisten, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020). Ramsan Kadyrow versucht, dem Terrorismus und möglicher Rebellion in Tschetschenien unter anderem durch Methoden der Kollektivverantwortung zu begegnen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher (AA 2.2.2021; vgl. FH 3.3.2021). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021). Auch Familienangehörige, Freunde und Bekannte oder andere mutmaßliche Unterstützer von Untergrundkämpfern können zur Verantwortung gezogen und bestraft werden (ÖB Moskau 6.2020). Verwandte von terroristischen Kämpfern stehen häufig unter dem Verdacht, diese zu unterstützen, und sind daher von Grund auf eher der Gefahr öffentlicher Demütigungen, Entführungen, Misshandlungen und Folter ausgesetzt (sog. Sippenhaft). Die Mitverantwortung wurde sogar durch Bundesgesetze festgelegt, so z.B. ein 2013 verabschiedetes Gesetz, das Familienangehörige von Terrorverdächtigen verpflichtet, für Schäden, die durch einen Anschlag entstanden sind, aufzukommen, und die Behörden in diesem Zusammenhang auch zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten der Familien ermächtigt. Es kommt vor, dass Personen, welchen die Unterstützung von Terroristen vorgeworfen wird, von Sicherheitskräften drangsaliert werden. Familienangehörige von mutmaßlichen Terroristen können ihre Arbeitsstelle verlieren, Kinder können Schwierigkeiten bei der Aufnahme in die Schule haben, jugendliche und erwachsene Söhne können Schwierigkeiten mit den tschetschenischen Sicherheitsorganen bekommen (inkl. unrechtmäßiger Festnahmen, Prügel, etc.) (ÖB Moskau 6.2020). Weiters hat Ramsan Kadyrow im Jänner 2017 die Sicherheitskräfte angewiesen, ohne Vorwarnung auf Rebellen zu schießen, um Verluste in den Reihen der Sicherheitskräfte zu vermeiden, und auch denen gegenüber keine Nachsicht zu zeigen, die von den Rebellen in 'die Irre geführt wurden' (Caucasian Knot 25.1.2017).
Angehörigen von Aufständischen bleiben laut Tanja Lokschina von Human Rights Watch in Russland nicht viele Möglichkeiten, um Kontrollen oder Druckausübung durch Behörden zu entkommen. Eine Möglichkeit ist es, die Republik Tschetschenien zu verlassen, was sich jedoch nicht jeder leisten kann, oder man sagt sich öffentlich vom aufständischen Familienmitglied los. Vertreibungen von Familien von Aufständischen kommen vor (Meduza 31.10.2017). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken. Die freie Wahl des Wohnorts gilt für alle Einwohner der Russischen Föderation, auch für jene des Nordkaukasus. Wird jemand allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es den Sicherheitsorganen möglich, diesen zu finden. Dies gilt nach Einschätzung von Experten auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können. Auf das Potential zur Instrumentalisierung dieser im Einzelfall bestehenden Gefährdungslage wird allerdings auch dann zurückgegriffen, wenn sozio-ökonomische Motive hinter dem Versuch der Migration nach Westeuropa stehen, wie auch von menschenrechtlicher Seite eingeräumt wird. Analysten weisen überdies auf den dynamischen Wandel des politischen Machtgefüges in Tschetschenien sowie gegenüber dem Kreml hin. Prominentes Beispiel dafür ist der Kadyrow-Clan selbst, der im Zuge der Tschetschenienkriege vom Rebellen- zum Vasallentum wechselte (ÖB Moskau 6.2020).
Salafisten werden als aktive oder potenzielle Extremisten und Terroristen wahrgenommen. Die Verfolgung von Salafisten passiert zu einem großen Teil über außergesetzliche Mechanismen, vor allem in Tschetschenien, wo seit Anfang der 2000er Jahre zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen und außergerichtlichen Hinrichtungen von Vertretern eines 'nicht traditionellen Islam' stattfanden, der jedoch oft keine Verbindung zum terroristischen Untergrund hatte (Memorial 10.2020). Die Anzahl der Rebellen in Tschetschenien ist schwer zu konkretisieren. Die Anzahl der tschetschenischen Rebellen ist sicherlich geringer als jene z.B. in Dagestan, wo der islamistische Widerstand sein Zentrum hat. Sie verstecken sich in den bergigen und bewaldeten Gebieten Tschetscheniens und bewegen sich hauptsächlich zwischen Tschetschenien und Dagestan, weniger oft auch zwischen Tschetschenien und Inguschetien. Von tschetschenischen Sicherheitskräften werden Entführungen begangen. In Tschetschenien selbst ist der Widerstand nicht sehr aktiv, sondern hauptsächlich in Dagestan. Die Kämpfer würden im Allgemeinen auch nie einen Fremden um Vorräte, Nahrung, Medizin oder Unterstützung bitten, sondern immer nur Personen fragen, denen sie auch wirklich vertrauen, so beispielsweise Verwandte, Freunde oder Bekannte (DIS 1.2015).
Nach dem terroristischen Anschlag auf Grosny am 4.12.2014 nahm Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow die Verwandten der Attentäter in Sippenhaft. Kadyrow verlautbarte auf Instagram kurz nach der Tat, dass, wenn ein Kämpfer in Tschetschenien einen Mitarbeiter der Polizei oder einen anderen Menschen töte, die Familie des Kämpfers sofort ohne Rückkehrrecht aus Tschetschenien ausgewiesen werde. Ihr Haus werde zugleich bis auf das Fundament abgerissen. Tatsächlich beklagte einige Tage später der Leiter der tschetschenischen Filiale des 'Komitees gegen Folter', dass den Angehörigen der mutmaßlichen Täter die Häuser niedergebrannt worden sind (Standard.at 14.12.2014; vgl. Meduza 31.10.2017). Es handelte sich um 15 niedergebrannte Häuser (The Telegraph 17.1.2015; vgl. Meduza 31.10.2017). Ein weiterer Fall ist das 2016 niedergebrannte Haus von Ramasan Dschalaldinow. Er hatte sich in einem Internetvideo bei Präsident Putin über Behördenkorruption und Bestechungsgelder beschwert (RFE/RL 18.5.2016; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Ebenso wurden im Jahr 2016 nach einem Angriff von zwei Aufständischen auf einen Checkpoint in der Nähe von Grosny die Häuser ihrer Familien niedergebrannt (US DOS 3.3.2017). Auch Human Rights Watch berichtet im Jahresbericht 2016, dass Häuser niedergebrannt wurden [damit sind wohl die eben angeführten Fälle gemeint] (HRW 12.1.2017). Die Jahresberichte für das Jahr 2014 von Amnesty International (AI), US Department of States (US DOS), Human Rights Watch (HRW) und Freedom House (FH) berichten vom Niederbrennen von Häusern als Vergeltung für die oben genannte Terrorattacke auf Grosny vom Dezember 2014. 2017, 2018, 2019 und 2020 gab es in den einschlägigen Berichten keine Hinweise auf das Niederbrennen von Häusern (AI 22.2.2018, US DOS 20.4.2018, HRW 18.1.2018, FH 1.2018, US DOS 13.3.2019, HRW 17.1.2019, FH 4.2.2019, HRW 14.1.2020, FH 4.3.2020, US DOS 11.3.2020, HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, AA 2.2.2021).
Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen. Laut einer Analyse des Journalisten Vadim Dubow aus dem Jahr 2016 emigrierten die meisten Tschetschenen aus rein ökonomischen Gründen: Tschetschenien ist zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht erstreckt sich allerdings nicht über die Grenzen Tschetscheniens hinaus. Dieser Analyse wird von anderen Experten widersprochen. Wirtschaftliche Gründe spielten demnach eine untergeordnete Rolle bei der Entscheidung, Tschetschenien zu verlassen. Andere Kommentatoren verweisen wiederum auf die Rivalität zwischen verschiedenen islamischen Strömungen in Tschetschenien, insbesondere zwischen dem traditionellen Sufismus und dem als Fremdkörper kritisierten Salafismus. Menschenrechtsaktivisten wiederum sehen in der Darstellung von Asylwerbern aus Tschetschenien als Wirtschaftsflüchtlinge eine Strategie des regionalen Oberhaupts Kadyrow (ÖB Moskau 6.2020). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020). Beispielsweise wurde im August 2019 der ethnische Tschetschene Selimchan Changoschwili aus dem georgischen Pankisi-Tal in Berlin auf offener Straße ermordet. Er hat im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft und dürfte nicht, wie teilweise in den Medien kolportiert, Islamist gewesen sein, sondern ein Kämpfer in der Tradition der Republik Itschkeria. Auch soll er damals enge Verbindungen zu dem damaligen moderaten Präsidenten Aslan Maschadow gehabt haben (Tagesschau.de 28.8.2019). Der sehr prominente tschetschenische Separatistenpolitiker im Exil, Achmad Sakaew [Ministerpräsident der tschetschenischen Exilregierung und Vertreter von Itschkeria], gab 2020 eine Erklärung ab, in der er Folterungen in Tschetschenien verurteilte. Die tschetschenischen Behörden zwangen Sakaews Verwandte sofort, sich öffentlich von ihm loszusagen (HRW 13.1.2021).
Ramsan Kadyrow droht öffentlich und ungestraft damit, Bloggerwegen der Verbreitung von 'Zwietracht und Klatsch' einzuschüchtern, ins Gefängnis zu stecken und zu töten (AI 16.4.2020). Ein Beispiel hierfür ist der wohl populärste Kritiker Kadyrows. Der Blogger Tumso Abdurachmanow wird häufig von hochrangigen Leuten aus Kadyrows Umfeld bedroht und angegriffen (Deutschlandfunk.de 11.3.2019). Mitte 2019 erklärte der Vorsitzende des tschetschenischen Parlaments und enger Vertrauter von Ramsan Kadyrow, Magomed Daudov (auch bekannt als 'Lord'), dem Blogger die Blutfehde (BBC 27.2.2020), nachdem Abdurachmanow den verstorbenen Vater von Ramsan Kadyrow, Achmad Kadyrow, als Verräter bezeichnet hatte (RFE/RL 27.2.2020). Im Februar 2020 wurde Abdurachmanow in seiner Wohnung von einem mit einem Hammer bewaffneten Mann angegriffen. Er konnte den Angreifer abwehren und hat überlebt (BBC 27.2.2020; vgl. RFE/RL 27.2.2020). Ein anderer Blogger wurde Anfang des Jahres 2020 mit 135 Stichwunden tot in einem Hotel im französischen Lille gefunden (SZ 4.2.2020; vgl. Zeit.de 5.7.2020). Der aus Tschetschenien stammende Imran Aliew war als Blogger unter dem Namen 'Mansur Stary' bekannt (Caucasian Knot 28.5.2020). Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Caucasian Knot hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Auf Youtube hatte der Tschetschene Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020). Im Juli 2020 wurde in Gerasdorf bei Wien ein weiterer politischer Blogger getötet. Der Mann, der sich Ansur aus Wien nannte, hat auf Youtube mehrere Videos veröffentlicht, in denen er den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow kritisierte. Die Angehörigen in Tschetschenien haben sich - vermutlich unter Druck - in einem Video von ihrem Verwandten distanziert. Gleichzeitig haben sie die Verantwortung für seine Tötung übernommen (Kurier.at 23.7.2020). Im September 2020 wurde Salman Tepsurkaew, Moderator eines Tschetschenien-kritischen Telegram-Kanals aus der Region Krasnodar vermutlich gewaltsam nach Tschetschenien verbracht. Anschließend wurde im Internet ein Video zirkuliert, auf dem er sich – offenbar unter Zwang – selbst sexuell erniedrigt. Er ist seitdem verschwunden, und tschetschenische Behörden verweigern bislang eine Aufklärung des Falls (AA 2.2.2021). Ein weiteres Beispiel ist der prominente Menschenrechtsaktivist und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien, Ojub Titiew, der nach Protesten aus dem In- und Ausland inzwischen unter Auflagen aus der Haft entlassen wurde. Er war wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes im März 2019 zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Er selbst und Familienangehörige haben nach Angaben von Memorial Tschetschenien verlassen (AA 2.2.2021).
Ein Sicherheitsrisiko für Russland stellt die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen. Der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB informierte im Dezember 2019, dass ca. 5.500 russische Bürger sich im Ausland einer terroristischen Organisation angeschlossen und an Kriegshandlungen teilgenommen haben und dass gegenüber 4.000 in Russland eine Strafverfolgung eingeleitet wurde. Von 337 zurückgekehrten Kämpfern sind 224 bereits verurteilt und 32 festgenommen worden. Etwa 3.000 der insgesamt 5.000 Kämpfer stammten aus dem Nordkaukasus. Laut einem Bericht des Conflict Analysis & Prevention Center vom März 2020 wurde von den Tausenden Kämpfern, die aus dem Nordkaukasus nach Syrien oder in den Irak zogen, der Großteil getötet. In den letzten Jahren repatriiert Russland aktiv die Kinder und zum Teil auch die Ehefrauen dieser Kämpfer zurück nach Russland. Laut einer Pressemeldung vom August 2020 wurden bisher 122 russische Kinder aus dem Irak und 35 aus Syrien nach Russland zurückgebracht, die Rückholung weiterer Kinder ist geplant. Der Umgang mit Familienangehörigen von (ehemaligen) Kämpfern variiert von Region zu Region. Die Maßnahmen reichen von Beobachtung, über soziale Diskriminierung bis zu strafrechtlichen Verurteilungen (ÖB Moskau 6.2020).
Laut einem Experten für den Kaukasus kehren nur sehr wenige IS-Anhänger nach Russland zurück. Bei einer Rückkehr aus Gebieten, die unter Kontrolle des sogenannten IS stehen, werden sie strafrechtlich verfolgt. Nachdem der sogenannte IS im Nahen Osten weitgehend bezwungen wurde, besteht die Möglichkeit, dass überlebende IS-Kämpfer nordkaukasischer Provenienz abgesehen von einer Rückkehr nach Russland entweder in andere Konfliktgebiete weiterziehen oder sich der Diaspora in Drittländern anschließen könnten. Daraus kann sich auch ein entsprechendes Sicherheitsrisiko für Länder mit umfangreichen tschetschenischen Bevölkerungsanteilen ergeben (ÖB Moskau 6.2020).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
? AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation
? AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019)
? BBC (27.2.2020): Chechen blogger Tumso Abdurakhmanov 'survives hammer attack'
? CACI – Central Asia-Caucasus Analyst (25.2.2020): Kadyrov Continues to Target Enemies Abroad
? Caucasian Knot (28.5.2020): Ramzan Kadyrov offers forgiveness to Ichkeria supporters amid killings in Europe
? Caucasian Knot (25.1.2017): ??????? ???????? ????????? ????????? ???????? ??? ?????????????? [Kadyrow hat den tschetschenischen Sicherheitskräften erlaubt, ohne Vorwarnung zu schießen]
? Deutschlandfunk.de (11.3.2019): Youtube-Blogger Abdurachmanov droht Abschiebung
? DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014
? FH – Freedom House (1.2018): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2017 - Russland
? FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland
? FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland
? FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland
? HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Russia
? HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia
? HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland
? HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland
? HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland
? Kleine Zeitung (3.2.2020): Gewalttat vermutet, Blogger aus Tschetschenien lag tot in Hotelzimmer
? Kurier.at (23.7.2020): Mord in Gerasdorf: Verwandte des Opfers übernehmen Verantwortung
? Meduza (31.10.2017): Guilty by blood
? ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation
? RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (27.2.2020): 'Blood Feud': Chechen Blogger Who Criticized Kadyrov Says He Was Attacked Following Official's Threats
? RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (18.5.2016): Fearing Reprisals, Chechnya Whistle-Blower Keeps Family's Location Secret
? Standard.at (14.12.2014): Tschetschenien: NGO-Büro in Grosny angezündet
? Tagesschau.de (28.8.2019): Islamistischer Gefährder oder Patriot?
? The Telegraph (17.1.2015): Chechen leader targets families as insurgents swear loyalty to leader of Islamic State
? US DOS – United States Department of State [USA] (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices for 2016 – Russia
? US DOS – United States Department of State [USA] (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia
? US DOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland
? US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland
? Zeit.de (5.7.2020): Tschetschene nahe Wien erschossen
1.2.3. Bewegungsfreiheit
In der Russischen Föderation herrscht laut Gesetz Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 11.3.2020).
Quellen:
? US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2020 – Russland
1.2.4. Grundversorgung
Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen. Staatliche Hilfe können Menschen mit Beeinträchtigungen, Senioren und Kinder unter drei Jahren erwarten. Fast 14% der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminimum von derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €] entspricht. Die russische Akademie der Wissenschaften veranschlagt das tatsächliche erforderliche Existenzminimum dagegen bei 33.000 Rubel [ca. 366 €]. Vollbeschäftigte erhalten den Mindestlohn (derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €]), der jährlich zum 1.1. auf die Höhe des Existenzminimums im 2. Quartal des Vorjahres angehoben wird. Für Einkommen unter dem Existenzminimum besteht die Möglichkeit der Aufstockung bis zur Höhe des Existenzminimums. Trotz der wiederholten Anhebungen der durchschnittlichen Bruttolöhne sind die real zur Verfügung stehenden Einkommen seit sechs Jahren rückläufig. Expertenschätzungen zufolge gibt es derzeit mindestens 25 Mio. illegal Beschäftigte. Die Verarmungsentwicklung ist vorwiegend durch niedrige Löhne verursacht, die insbesondere eine Folge der auf die Schonung der öffentlichen Haushalte zielenden Lohnpolitik sind (zwei Drittel aller Einkommen werden von staatlichen Unternehmen oder vom Staat bezahlt, der die Löhne niedrig hält). Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15 - 20% für abhängig Beschäftigte ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen der Arbeitgeber aufgrund fehlender Fortbildungen als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote (21,6%) bei den über 50-Jährigen verstärkt. Auch Migranten verdienen oft nur den Mindestlohn (AA 2.2.2021).
Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern, vor allem Großfamilien, Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren, wie beispielsweise Moskau oder St. Petersburg, ist die offizielle Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (knapp 14%), wohingegen beispielsweise in Regionen des Nordkaukasus jeder fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muss. Auch ist prinzipiell die Armutsgefährdung am Land höher als in den Städten. Die soziale Absicherung ist über Pensionen, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen (beispielsweise Kriegsveteranen, Menschen mit Beeinträchtigungen, Veteranen der Arbeit) und Mutterschaftsbeihilfen organisiert [bitte vergleichen Sie hierzu Kapitel Sozialbeihilfen] (Russland Analysen 21.2.2020a).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
? Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382
1.2.5. Grundversorgung im Nordkaukasus
Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 1.2021a; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Die Arbeitslosigkeit im Nordkaukasus ist laut Experten unter den höchsten in Russland. Im Zuge eines Austausches der österreichischen Botschaft mit dem Nordkaukasus-Ministerium im Oktober 2018 wurden von russischer Seite die umfassenden Anstrengungen zur sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus geschildert, insbesondere im Bereich der Landwirtschaft und des Tourismus. Bei einer Sitzung zur Entwicklung der Region Nordkaukasus im Juni 2020 gab der Vertreter der russischen Regierung allerdings an, dass trotz föderaler Programme zur Unterstützung der Region diese bisher zu keiner entscheidenden Veränderung der sozio-ökonomischen Entwicklung geführt haben (ÖB Moskau 6.2020). Trotzdem ist zu sagen, dass sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert haben (AA 2.2.2021).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
? GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat
? ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation
1.2.6. Sozialbeihilfen
Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2019).
Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 1.2021c).
Vor allem auch zur Förderung einer stabileren demografischen Entwicklung gibt es ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien, vor allem mit Kindern unter drei Jahren: z.B. eine Aufstockung des Existenzminimums ab 2020 bis auf das Zweifache, das sogenannte Mutterschaftskapital in Form einer bargeldlosen, zweckgebundenen Leistung sowie besondere Leistungen zur Corona-Krise wie etwa eine einmalige Auszahlung an Kinder im Alter von drei bis 16 Jahre in Höhe von 10.000 Rubel [ca. 111 €], monatliche Auszahlungen an Kinder bis drei Jahre in Höhe von 5.000 Rubel [ca. 55 €] (dreimal für April, Mai und Juni ausgezahlt), monatliche Auszahlungen in Höhe von 3.000 Rubel [ca. 33 €] an Kinder bis 18 Jahre, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (AA 2.2.2021).
Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Staatliche Zuschüsse werden durch die Pensionskasse bestimmt (IOM 2019). Das europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, welchen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden:
? Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern);
? Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten [Wasser, Gas, Elektrizität, etc.]);
? Familien mit geringem Einkommen;
? Studierende, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien (BDA 31.3.2015).
Familienbeihilfe: Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei 3.142 Rubel (ca. 43 €). Beim zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei 6.284 Rubel (ca. 86 €). Der maximale Betrag liegt bei 26.152 Rubel (ca. 358 €) (IOM 2019). Seit 2018 gibt es für einkommensschwache Familien für Kleinkinder (bis 1,5 Jahre) monetäre Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums (Russland Analysen 21.2.2020a).
Arbeitslosenunterstützung: Personen können sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin bietet die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz an. Sollten Bewerber diesen zurückweisen, werden sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Die Mindestarbeitslosenunterstützung pro Monat beträgt 1.500 Rubel (ca. 21 €) und die Maximalunterstützung 8.000 Rubel (ca. 111 €). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht, an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2019).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
? BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI
? GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft
? IOM – International Organisation for Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation
1.2.7. Rückkehr
Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation über die Rückübernahme. Bei Ankunft in der Russischen Föderation müssen sich alle Rückkehrer am Ort ihres beabsichtigten Wohnortes registrieren. Dies gilt generell für alle russischen Staatsangehörigen, wenn sie innerhalb von Russland ihren Wohnort wechseln (ÖB Moskau 6.2020).
Zur allgemeinen Situation von Rückkehrern, insbesondere im Nordkaukasus, kann festgestellt werden, dass sie vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Dies betrifft etwa bürokratische Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten, die oft nur mithilfe von Schmiergeldzahlungen überwunden werden können. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, vor allem für junge Mädchen, wenn diese in einem westlichen Umfeld aufgewachsen sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf eine mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt (ÖB Moskau 6.2020).
Nach einer aktuellen Auskunft eines Experten für den Kaukasus ist allein die Tatsache, dass im Ausland ein Asylantrag gestellt wurde, noch nicht mit Schwierigkeiten bei der Rückkehr verbunden (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien aber für jene ergeben, die schon vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB Moskau 6.2020).
Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten noch immer von willkürlichem Vorgehen der Polizei. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (auch ohne Durchsuchungsbefehle) finden bei diesen Personen häufiger statt (AA 2.2.2021).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
? ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation
2. Beweiswürdigung
2.1. Zur Person der BF
2.1.1. Die Feststellungen zur Staats-, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit der BF sowie zu ihren Sprachkenntnissen, ihrem Geburts- und Aufenthaltsort im Herkunftsstaat, ihrer Schulbildung, ihrer Einreise ins Bundesgebiet und ihren Ausreisegründen aus ihrem Herkunftsstaat beruhen auf ihren unbestrittenen Aussagen im Zuerkennungsverfahren (Akt I, AS 3 bis 7, 11 f und 29 bis 35).
Die Feststellung über die Gewährung von Asyl in Österreich gründet sich auf den Bescheid des Bundesasylamtes zur festgestellten Zahl (Akt I, AS 37 ff).
Dass sich die BF zum festgestellten Datum einen russischen Auslandsreisepass ausstellen ließ und zum ebenso festgestellten Datum bei der Österreichischen Botschaft in XXXX um Unterstützung bei der Rückreise nach Österreich ansuchte, folgt aus dem unbestrittenen, im Akt befindlichen Schreiben des österreichischen Botschafters in XXXX und den angehängten Reisepasskopien (Akt II, AS 3 ff).
Die Feststellung über die Abmeldung der BF von der Mindestsicherung ergibt sich aus dem im Akt aufliegenden AJ-WEB-Auszug (Akt II, AS 79), jene über die Abmeldung ihres Wohnsitzes in Österreich aus einem eingeholten Melderegisterauszug (Akt II, AS 21). In Zusammenschau mit der vom Bezirksgericht XXXX beauftragten polizeilichen Nachschau an der vormaligen Meldeadresse der BF, die die Abwesenheit der BF bestätigte und darüber hinaus die Auskunft der vormaligen Unterkunftgeberin hervorbrachte, wonach die BF seit – zum damaligen Zeitpunkt – ca. XXXX nicht mehr in Österreich lebe (Akt II, AS 43) sowie der Kontaktaufnahme der BF mit der Österreichischen Botschaft in XXXX im XXXX und den übermittelten Reisepasskopien samt den darin vorhandenen Ein- und Ausreisestempeln insbesondere an russischen Grenzorten (Akt II, AS 3 ff) besteht – auch unabhängig von der E-Mail der BF (Akt II, AS 32) – kein Zweifel daran, dass die BF nicht mehr in Österreich aufhältig ist, sondern seit spätestens XXXX in Russland lebt. Die Feststellungen über die Wohnsitzmeldung des Lebensgefährten der BF respektive den Abmeldungen der Kinder der BF stützen sich ebenso auf eingeholte Melderegisterauszüge. Dass den Kindern der BF der Status der Asylberechtigten vom BFA rechtskräftig aberkannt wurde, geht aus dem angefochtenen Bescheid (Akt II, AS 83) sowie einer Einsichtnahme in das Zentrale Fremdenregister hervor. Sonstige besondere, aktuelle Anknüpfungspunkte der BF zum Bundesgebiet ergeben sich gerade auch vor diesem Hintergrund aus dem Akteninhalt nicht und wurden auch nicht behauptet.
Eine lebensbedrohliche Erkrankung der BF ergibt sich ebenso wenig aus dem Akteninhalt und wurde auch nicht behauptet.
Dass die BF strafgerichtlich unbescholten ist, folgt aus einem Auszug aus dem österreichischen Strafregister.
Die Feststellung über die Bestellung eines Abwesenheitskurators gründet sich auf den im Akt aufliegenden Beschluss des Bezirksgerichts XXXX (Akt II, AS 51).
2.1.2. Dass die BF in der Russischen Föderation aus Konventionsgründen verfolgt wäre, hat sie nie vorgebracht. Vielmehr gab sie bereits im Zuerkennungsverfahren an, lediglich ihrem Lebensgefährten nach Österreich gefolgt zu sein (Akt I, AS 33). Der Umstand, dass die BF sich einen russischen Reisepass ausstellen ließ und zumindest seit XXXX freiwillig wieder in ihrem Herkunftsstaat lebt, zudem sie auch weder bei der Österreichischen Botschaft in XXXX im XXXX noch in ihrer E-Mail vom XXXX eine Verfolgung behauptete, lässt in Zusammenschau damit keinen Zweifel daran, dass sie in der Russischen Föderation keiner Verfolgung unterliegt.
Sonstige Umstände, aufgrund derer sich eine Rückkehr der BF in die Russische Föderation als unzumutbar gestalten würden, sind folglich nicht hervorgekommen. Der Umstand, dass die BF aus freien Stücken in ihren Herkunftsstaat zurückgekehrt ist und dort zumindest seit XXXX lebt, zeigt ebenso, dass es ihr möglich war, sich dort wiedereinzugliedern und, dass sie dort über eine Existenzgrundlage verfügt, zumal sie dort auch sozialstaatliche Leistungen in Anspruch nehmen kann.
Dass im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat die BF in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre, ist anhand der Länderberichte nicht objektivierbar.
Sonstige außergewöhnliche Gründe, die einer Rückkehr entgegenstehen, hat die BF nicht angegeben und sind auch vor dem Hintergrund der zitierten Länderberichte nicht hervorkommen.
2.2. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation
Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat ergeben sich aus den im Länderinformationsblatt wiedergegebenen und zitierten, im angefochtenen Bescheid enthaltenen Länderberichten. Diese gründen sich auf den jeweils angeführten Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, zumal ihnen nicht substantiiert entgegengetreten wurde. Die konkret den Feststellungen zugrundeliegenden Quellen wurden unter Punkt II.1.2. zitiert.
3. Rechtliche Beurteilung
Zum Spruchteil A)
3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides
3.1.1. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status des Asylberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn einer der in Art. 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) angeführten Endigungsgründe eingetreten ist.
Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 kann das Bundesamt einem Fremden, der nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3), den Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 nicht aberkennen, wenn die Aberkennung durch das Bundesamt – wenn auch nicht rechtskräftig – nicht innerhalb von fünf Jahren nach Zuerkennung erfolgt und der Fremde seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hat. Kann nach dem ersten Satz nicht aberkannt werden, hat das Bundesamt die nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zuständige Aufenthaltsbehörde vom Sachverhalt zu verständigen. Teilt diese dem Bundesamt mit, dass sie dem Fremden einen Aufenthaltstitel rechtskräftig erteilt hat, kann auch einem solchen Fremden der Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 aberkannt werden.
Gemäß Art. 1 Abschnitt C der GFK wird dieses Abkommen auf eine Person (…) nicht mehr angewendet werden, wenn sie 1. sich freiwillig wieder unter den Schutz ihres Heimatlandes gestellt hat (…).
Art. 1 Abschnitt C Z 1 der GFK ist als Äquivalent zur Definition des Flüchtlingsbegriffes, der die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Staates des Heimatlandes fordert, geschaffen. Dabei sind es in der Regel zwei Handlungstypen des Flüchtlings, die in der Praxis relevant sind. 1. Der Flüchtling reist in sein Heimatland, und 2. Er lässt sich einen Reisepass seines Heimatlandes ausstellen. Für beides gilt, dass der Flüchtling freiwillig gehandelt haben muss, d.h. ohne Einwirkung von psychischem oder physischem Zwang. In Betracht käme etwa mangelnde Freiwilligkeit, Einreise in den Herkunftsstaat aus zwingenden Gründen unter Umgehung der Grenzkontrollen unter Vermeidung jedes Behördenkontaktes, die illegale (etwa durch Bestechung) Beschaffung eines Reisepasses oder das Verlangen des Aufnahmestaates, zur Vorlage von Identitätspapieren. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes muss weiters auch der Wille, die Beziehungen zum Herkunftsstaat zu normalisieren und sich wieder unter dessen Schutz zu stellen, vorliegen. Aus dieser Voraussetzung folgt auch das Erfordernis einer gewissen Nachhaltigkeit der Zuwendung zum Heimatstaat. Aufgrund dieses Erfordernisses der dauerhaften Wiederherstellung der Beziehungen sind zB Krankenbesuche im Heimatland als Unterschutzstellung auszuschließen (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht (2016), S. 654, K3 und K4 zu § 7 AsylG).
3.1.2. Wie schon beweiswürdigend ausgeführt wurde und im Übrigen auch nicht bestritten wurde, ließ sich fallgegenständlich die BF freiwillig einen russischen Auslandsreisepass ausstellen. Darüber hinaus verwendete sie diesen Reisepass auch, um auf offiziellen Wege in die Russische Föderation einzureisen und lebt nun dort, wodurch ihr Wille zur Normalisierung der Beziehungen zu ihrem Herkunftsstaat zum Ausdruck kommt. Das BFA ging daher zu Recht davon aus, dass die BF sich freiwillig wieder unter den Schutz ihres Heimatlandes gestellt hat, weshalb auch die Bestimmung des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 1 der GFK anwendbar ist.
Zwar erfolgte die Aberkennung des Status der Asylberechtigten mehr als fünf Jahre nach Zuerkennung, doch verfügt die BF über keinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet, weshalb ihr der Status auch ohne vorherige Zuerkennung eines Aufenthaltstitels durch die zuständige Aufenthaltsbehörde iSd § 7 Abs. 3 AsylG 2005 aberkannt werden konnte.
Die Aberkennung des Status der Asylberechtigten der BF durch die belangte Behörde aus dem Grund des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 1 der GFK erfolgte somit zu Recht.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides war daher abzuweisen.
3.2. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides
3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ist einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Gemäß Art. 2 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
Unter realer Gefahr ist eine ausreichend echte, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (vgl. VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573). Es müssen stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre. Weiters müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade die betroffene Person einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus.
Die Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen, die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu gelangen.
Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persö