Entscheidungsdatum
03.11.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1Spruch
W191 2142028-1/52E
W191 2142028-2/27E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerden von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan,
1) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.11.2016, Zahl 1078554510-150879395/BMI-BFA_STM_AST,
2) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.04.2019, Zahl 1078554510-150879395/BMI-BFA_STM_AST_01,
nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.07.2021 zu Recht:
Ad 1)
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. gemäß §§ 3 und 8 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte III. und IV. wird dahingehend stattgegeben, dass gemäß § 8 Abs. 3a in Verbindung mit § 9 Abs. 2 Asylgesetz 2005 und § 52 Abs. 9 Fremdenpolizeigesetz 2005 festgestellt wird, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan nicht zulässig ist.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Ad 2)
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I., IV. und V. gemäß § 10 Abs. 1 Asylgesetz 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz sowie §§ 52 und 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. wird dahingehend stattgegeben, dass gemäß § 8 Abs. 3a in Verbindung mit § 9 Abs. 2 Asylgesetz 2005 und § 52 Abs. 9 Fremdenpolizeigesetz 2005 festgestellt wird, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan nicht zulässig ist.
III. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird insofern stattgegeben, als die Dauer des Einreiseverbotes gemäß § 53 Fremdenpolizeigesetz 2005 auf fünf Jahre herabgesetzt wird.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
1. Verfahrensgang:
1.1. Verfahren nach Antrag des BF auf internationalen Schutz:
1.1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 17.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
1.1.2. In seiner Erstbefragung am 17.07.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, gab der BF im Wesentlichen an, er stamme aus XXXX , Kabul, sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Moslem und ledig. Er habe acht Jahre lang eine Grundschule sowie drei Jahre lang ein Gymnasium besucht und zuletzt als Mechaniker gearbeitet. Vor seiner Ausreise habe er zuletzt bei einem Onkel gewohnt; sowohl seine Mutter als auch sein Vater wären bereits verstorben.
Zum Fluchtgrund befragt gab er an, dass er in seinem Herkunftsstaat niemanden mehr habe und seine finanzielle Situation schlecht gewesen sei.
1.1.3. Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass der BF am 13.06.2015 in XXXX (Griechenland) erkennungsdienstlich behandelt worden war. Zudem führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) ein Konsultationsverfahren gemäß Dublin-Übereinkommen mit dem Mitgliedstaat Ungarn zur Frage der Zuständigkeit für das Asylverfahren des BF, das negativ verlief.
1.1.4. Das BFA hatte offenbar Zweifel an dem vom BF angegebenen Alter (Aktenvermerk Indikatoren für die Altersfeststellung vom 11.08.2015) und veranlasste eine sachverständige medizinische multifaktorielle Altersschätzung. Diese ergab, dass das vom BF angegebene Geburtsdatum aufgrund der erhobenen Befunde aus gerichtsmedizinischer Sicht nicht ausgeschlossen werden könne.
Das Land Steiermark, Amt für Jugend und Familie der Stadt Graz als gesetzlicher Vertreter bevollmächtigte daraufhin Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas als Vertreter des BF im Asyl- und Fremdenverfahren.
1.1.5. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 11.10.2016, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigte der BF im Wesentlichen die Richtigkeit seiner bisherigen Angaben.
Geboren sei er in Mazar-e Sharif, seine Familie stamme aus Ghazni, gelebt habe er jedoch in Kabul. Die Mutter des BF sei kurz nach seiner Geburt, sein Vater hingegen etwa drei Jahre vor seiner Ausreise verstorben. Er sei dann zu seinem Onkel gezogen und habe begonnen, nachmittags als Mechaniker zu arbeiten. Nähere Umstände zum Tod des Vaters oder der Berufstätigkeit des Onkels konnte der BF nicht nennen. Dieser Onkel habe ein Grundstück verkauft, um die Ausreise des BF zu finanzieren.
Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der BF zusammengefasst an, dass die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan schlecht sei. Seit dem Tod des Vaters habe er unter schwierigen Verhältnissen gelebt und neben dem Schulbesuch arbeiten müssen. Der Onkel des BF sei dann nach Pakistan gezogen und so habe der BF beschlossen, nach Europa auszureisen, da er gehört habe, man könne sich in Europa eine Existenz aufbauen.
Er habe keinen Kontakt mehr zum Onkel und keine weiteren Angehörigen im Herkunftsstaat.
Der BF brachte diverse Integrationsbelege (Teilnahmebestätigungen hinsichtlich Deutschkurs Niveau A2, Tagesgestaltung und Medienworkshop) in das Verfahren ein.
1.1.6. Mit Schreiben vom 17.10.2016 erstattete der BF eine Stellungnahme und verwies dabei insbesondere auf das völlige Fehlen einer Lebensgrundlage, von Bezugspersonen und von Anknüpfungspunkten in Kabul und auch sonst im Herkunftsstaat vor dem Hintergrund einer vorherrschenden prekären Sicherheits- und Versorgungslage. Darüber hinaus wurde auf die Lage der Volksgruppe der Hazara sowie die Gruppe „verlassener Kinder“ verwiesen und in diesem Zusammenhang Bezug auf diverse Berichte genommen. Eine Rückkehr des minderjährigen BF nach Afghanistan sei völlig unzumutbar und nicht mit Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK) zu vereinbaren; schließlich gehöre er als unbegleiteter Minderjähriger einer besonders vulnerablen Gruppe an.
1.1.7. Mit Bescheid vom 17.11.2016 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 17.07.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.) und erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt; gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (in der Folge BFA-VG) verband das BFA seine Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG) und stellte fest, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG behauptet. Dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr der Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention ausgesetzt wäre oder ihm als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts drohen würde, könne nicht festgestellt werden.
In Anbetracht der mit Jänner 2017 erreichten Volljährigkeit, des Heranwachsens in Kabul und des Umstandes, dass der BF einhergehend mit einer mehrjährigen Berufstätigkeit über soziale Kontakte verfügen müsse, sei der Aufenthaltsort des Onkels des BF nicht von zentraler Bedeutung und würden sich auch sonst keine Hinweise auf das Vorliegen eines Sachverhaltes ergeben, der zur Gewährung von subsidiären Schutz führen würde.
Der BF erfülle auch nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG; der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
1.1.8. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines Vertreters vom 28.11.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften sowie Rechtswidrigkeit des Inhaltes ein.
In der Beschwerdebegründung wurde zusammengefasst ausgeführt, dass die eingebrachten Länderfeststellungen unvollständig und teilweise veraltet seien. Sie würden sich kaum mit dem konkreten Fluchtvorbringen des BF und der Situation „verlassener Kinder“ auseinandersetzen, sondern lediglich allgemein gehaltene Aussagen beinhalten. Auch berücksichtige das BFA die prekäre Lage der Volksgruppe der Hazara nicht.
Eine Rückkehr nach Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif sei dem BF als unbegleiteten Minderjährigen aufgrund der schlechten Sicherheits- und Versorgungslage nicht möglich. Schließlich habe er als vulnerable Person Afghanistan aufgrund einer fehlenden Existenzgrundlage, der schlechten Sicherheitslage und latenten Bedrohung seiner persönlichen Sicherheit und Integrität verlassen.
Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.
1.2. Verfahren zur Rückkehrentscheidung und zum Einreiseverbot:
1.2.1. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 24.04.2018 wurde der BF wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 2a zweiter Fall, 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall, 27 Abs. 4 Z 1, § 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall sowie § 27 Abs. 2 Suchtmittelgesetz (in der Folge SMG) zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt (betreffend Tatzeitraum 28.03.2018). Ein Teil der verhängten Freiheitsstrafe im Ausmaß von sechs Monaten wurde unter Setzung einer Probezeit von drei Jahre bedingt nachgesehen und eine Vorhaft vom 28.03.2018 bis zum 24.04.2018 auf die verhängte Freiheitsstrafe angerechnet.
1.2.2. Mit einem weiteren Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 22.11.2018 wurde der BF wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 2a zweiter Fall, 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall sowie § 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt (betreffend Tatzeitraum 01.10.2018). Eine Vorhaft vom 01.10.2018 bis zum 22.11.2018 wurde auf die verhängte Freiheitsstrafe angerechnet. Von einem Widerruf der bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe (angeführt unterPunkt 1.2.1) wurde abgesehen und die diesbezügliche Probezeit auf fünf Jahre verlängert.
1.2.3. Dem BF wurde mit Verfahrensanordnung vom 25.03.2019 der Verlust des Aufenthaltsrechts wegen Straffälligkeit gemäß § 13 Abs. 2 AsylG mitgeteilt.
1.2.4. Mit Bescheid vom 08.04.2019 erließ das BFA in Spruchpunkt I. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. In Spruchpunkt III. wurde gegen den BF gemäß § 53 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von „7“ [sieben] Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage (Spruchpunkt IV.). Der BF habe gemäß § 13 Abs. 2 Z 3 AsylG das Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 28.04.2018 verloren (Spruchpunkt V.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF, zum bisherigen Gang des Verfahrens sowie zu den strafgerichtlichen Verurteilungen. Mit den Urteilen des Landesgerichts für Strafsachen in Graz vom 24.04.2018 und 22.11.2018 hätten sich somit neue Tatsachen gemäß § 53 Abs. 3 FPG ergeben, die wiederum eine Entscheidungsänderung bewirken würden.
Der BF habe gegen das Suchtmittelgesetz verstoßen und sei nicht gewillt, sich an österreichische Gesetze zu halten. Sein Fehlverhalten stelle eine erhebliche, tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit dar. Die Erlassung eines Einreiseverbotes sei daher unabdingbar. Das Aufenthaltsrecht habe der BF aufgrund der Verhängung der Untersuchungshaft sowie rechtskräftiger Verurteilungen verloren.
Beweiswürdigend führte das BFA zusammengefasst aus, dass der BF bei einer Rückkehr in keine ausweglose Lage geraten würde – auch würden ihm als jungen, arbeitsfähigen und gesunden Mann auch ohne Beziehungen oder familiäre Anknüpfungspunkte mehrere innerstaatliche Fluchtalternativen offenstehen.
Ein schützenswertes Familien- und Privatleben im Sinne des Art. 8 EMRK könne nicht festgestellt werden, da bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Hinweise auf familiäre Anknüpfungspunkte bestehen würden. Schon allein aufgrund des Fehlverhaltens des BF (Straffälligkeit) und des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes würde jedenfalls ein öffentliches Interesse an der Außerlandesbringung bestehen. Eine Abschiebung nach Afghanistan sei zulässig.
1.2.5. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines Vertreters vom 08.05.2019 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften ein. Obwohl das Beschwerdeverfahren des BF noch anhängig sei, habe das BFA eine erneute Rückkehrentscheidung trotz faktischem Abschiebeschutz ausgesprochen. Auch habe das BFA es verabsäumt, über einen Titel gemäß § 57 AsylG abzusprechen.
In der Beschwerdebegründung wurde zusammengefasst ausgeführt, dass der BF weder persönlich einvernommen worden wäre, noch eine Möglichkeit zur schriftlichen Stellungnahme erhalten habe. Mittlerweile hätten sich gravierende Änderungen im Privat- und Familienleben des BF ergeben. Er befinde sich in einer Lebensgemeinschaft und sei seine Lebensgefährtin im neunten Monat schwanger. Beim BF handle es sich um den Kindsvater und führe er seit drei Jahren eine Beziehung mit der Kindsmutter. Diese besuche den BF in der Justizvollzugsanstalt; er könne bei seiner Lebensgefährtin auch Unterkunft nehmen.
Die Dauer des Einreiseverbotes in Höhe von sieben Jahren stehe in keiner Relation zu den begangenen Straftaten, wenn man auf der anderen Seite das schützenswerte Privat- und Familienleben betrachte, das sich in Österreich entwickelt habe. Die Rückkehrentscheidung hätte dauerhaft für unzulässig erklärt werden müssen und das BFA eine Aufenthaltsberechtigung (plus) von Amts wegen erteilen müssen.
1.2.6. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 10.05.2019 wurde der BF wegen des Verbrechens der versuchten schweren Körperverletzung nach §§ 15, 84 Abs. 4 Strafgesetzbuch (in der Folge StGB) und des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten verurteilt (betreffend Tatzeitraum 17.03.2019). Eine Vorhaft vom 17.03.2019 bis zum 10.11.2019 wurde auf die verhängte Freiheitsstrafe angerechnet. Von einem Widerruf der bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe wurde abgesehen, die gewährte bedingte Entlassung hingegen widerrufen. Der Beschwerde des BF gegen dieses Strafurteil wurde vom Oberlandesgericht Graz nicht Folge gegeben.
1.2.7. Die vom BVwG für 27.01.2021 anberaumte öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung wurde wieder abberaumt; mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des BVwG wurde die gegenständliche Rechtssache der vormals zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und am 29.04.2021 der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.
1.2.8. Am 09.07.2021 legte die BBU GmbH die im Beschwerdeverfahren erteilte Vollmacht vom 07.01.2021 nieder.
1.2.9. Mittels Telefonat gab der BF am 29.07.2021 bekannt, dass er aufgrund einer Katzenhaarallergie nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen könne. Ihm wurde mitgeteilt, dass ein Nichterscheinen bei Vorlage einer ärztlichen Bestätigung – die Auskunft über die Erkrankung und damit verbundenen Gründe/Hindernisse für ein berechtigtes Fernbleiben gebe – entschuldigt sei. In diesem Zusammenhang übermittelte der BF eine Zeitbestätigung eines Ambulatoriums ohne Angabe einer Diagnose sowie ein Rezept für „Infectoscab 5% CR“.
1.2.10. Das BVwG führte am 30.07.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, zu der der BF nicht erschien. Das BFA verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an einer Beschwerdeverhandlung.
Zusätzliche Angaben zum Verfahren vor dem BFA, zur Lebenssituation des BF in Österreich, zur Identität und zu den Lebensumständen sowie Gefährdungen des BF im Herkunftsstaat erfolgten weder durch den BF noch durch das BFA. Zusätzliche Bescheinigungsmittel wurden nicht vorgelegt.
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt. Es hat keine Stellungnahme dazu abgegeben.
1.2.11. Zur Wahrung des Parteiengehörs wurde dem BF mittels schriftlicher Aufforderung die Möglichkeit einer Stellungnahme, insbesondere zu seinen Lebensumständen in Österreich und näheren Angaben zum Verhältnis zu Kind und Lebensgefährtin, eingeräumt. Zur Stellungnahme und Vorlage von Bescheinigungsmitteln wurde eine Frist von vier Wochen eingeräumt, andernfalls nach Aktenlage zu entscheiden sei. Der BF wurde am 17.08.2021 über die Hinterlegung des behördlichen Dokuments verständigt, und hat er nachfolgend keine inhaltliche Stellungnahme innerhalb dieser Frist – bis dato – erstattet.
1.2.12. Laut Abschluss-Bericht der Landespolizeidirektion Steiermark vom 27.08.2021 wurde der BF beschuldigt, den Begleiter seiner ehemaligen Lebensgefährtin (und Mutter des gemeinsamen Kindes) am 25.08.2021 verletzt zu haben. Der BF habe im Zuge einer Diskussion mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin ihrem Begleiter einen Schlag auf die rechte Kopfseite versetzt und sei mit beiden Beinen gegen dessen Rücken gesprungen. Der Sprung sei durch einen Rucksack abgefedert worden, jedoch habe der Begleiter für etwa fünf bis zehn Sekunden nichts mehr gehört und leichte Schmerzen verspürt (Gehörtrauma). Der BF gab nach telefonischer Kontaktaufnahme durch die Polizeiinspektion und darauffolgendem persönlichen Erscheinen an, den Begleiter lediglich „geschupft“ und nicht verletzt zu haben.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
? Einsicht in die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 09.01.2016 und der Einvernahme vor dem BFA am 07.05.2018, die strafgerichtlichen Urteile (des Landesgerichts und Oberlandesgerichts Graz), die angefochtenen Bescheide sowie die gegenständlichen Beschwerden
? Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im behördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA, Bescheidseiten 8 bis 121 im unnummerierten Verhandlungsakt)
? Einsicht in die Gerichtsakten sowohl der vormals zuständigen, als auch der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung des BVwG
? Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 30.07.2021
? Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 30.07.2021 zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA betreffend die Covid-19 Pandemie, regierungsfeindliche Gruppierungen und Lage der Hazara (Stand 02.04.2021)
o Sonderkurzinformation der Staatendokumentation des BFA vom 17.08.2021 zur aktuellen Lage in Afghanistan
o Sonderkurzinformation der Staatendokumentation des BFA vom 20.08.2021 zu aktuellen Entwicklungen und Informationen in Afghanistan
o UNHCR Position zur Rückkehr nach Afghanistan (August 2021)
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er kommt aus einer schiitisch-muslimischen Familie. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht darüber hinaus etwas Paschtu, Englisch und mittlerweile auch Deutsch.
Der BF ist in Mazar-e Sharif geboren und in Kabul aufgewachsen. Er besuchte dort acht Jahre lang eine Grundschule und nachfolgend drei Jahre lang ein Gymnasium. Vor seiner Ausreise arbeitete der BF als Fahrzeugmechaniker. Die Mutter des BF verstarb in seiner frühen Kindheit, der Vater als der BF etwa 13 Jahre alt war.
3.1.2. Der BF verließ Afghanistan aus angegebenen Gründen und reiste nach Europa, wo er am 17.07.2015 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
3.2. Zum Fluchtgrund des BF:
3.2.1. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat nicht inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst Probleme. Er war nicht politisch tätig und gehörte nicht einer politischen Partei an.
3.2.2. Der BF hat mit seinem Vorbringen – wonach er sich als 16-Jähriger mangels Lebensgrundlage, Bezugspersonen und Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat vor dem Hintergrund einer vorherrschenden prekären Sicherheits- und Versorgungslage außerhalb seines Herkunftsstaats befinde – eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht.
3.3. Zur Straffälligkeit des BF:
3.3.1. Der BF wurde mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 24.04.2018 wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 2a zweiter Fall, 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall, 27 Abs. 4 Z 1, § 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall sowie § 27 Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Ein Teil der verhängten Freiheitsstrafe im Ausmaß von sechs Monaten wurde unter Setzung einer Probezeit von drei Jahre bedingt nachgesehen.
Mit einem weiteren Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 22.11.2018 wurde der BF wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 2a zweiter Fall, 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall sowie § 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Von einem Widerruf der zuvor bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe wurde abgesehen und die diesbezügliche Probezeit auf fünf Jahre verlängert.
Am 10.05.2019 wurde der BF mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz wegen des Verbrechens der versuchten schweren Körperverletzung nach §§ 15, 84 Abs. 4 StGB und des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten verurteilt. Von einem Widerruf der bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe wurde abgesehen, die gewährte bedingte Entlassung hingegen widerrufen.
3.3.2. In einem Abschluss-Bericht der Landespolizeidirektion Steiermark vom 27.08.2021 wird der BF beschuldigt, den Begleiter seiner ehemaligen Lebensgefährtin (und Mutter des gemeinsamen Kindes) nach einer Diskussion am 25.08.2021 körperlich verletzt zu haben.
3.3.3. Das Vorliegen schwerwiegender Verwaltungsübertretungen ist nicht bekannt.
3.4. Zum Privat- und Familienleben sowie zur Integration des BF in Österreich:
Es kann nicht festgestellt werden, dass sich der BF in einer aufrechten Lebensgemeinschaft befindet und ob – beziehungsweise auch in welchem Ausmaß – er Kontakt zu einem leiblichen oder adoptierten Kind unterhält. Allfällige freundschaftliche Beziehungen in Österreich sind erst zu einem Zeitpunkt entstanden, an dem sich der BF seiner unsicheren aufenthaltsrechtlichen Stellung bewusst sein musste.
Der BF besucht in Österreich keine Kurse oder Schulen und kann nach längerem Aufenthalt bereits etwas Deutsch. Er hat eine erlaubte regelmäßige Erwerbstätigkeit weder angegeben noch belegt.
Eine Integration des BF in Österreich in besonderem Ausmaß liegt nicht vor.
3.5. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
3.5.1. Dem BF steht in Österreich kein Aufenthaltsrecht außerhalb des Asylrechtes zu, und er hatte niemals ein anderes als das vorübergehende Aufenthaltsrecht als Asylwerber in Österreich.
3.5.2. Nach dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens besteht die reale Gefahr, dass dem BF im Falle seiner Verbringung in den Herkunftsstaat aufgrund seiner individuellen Situation im Zusammenhang mit der Lage in seiner Herkunftsregion ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 EMRK droht.
Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig.
Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land, und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.
Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.
3.6. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
3.6.1. Sonderkurzinformation der Staatendokumentation [des BFA] vom 17.08.2021 zur aktuellen Lage in Afghanistan (Schreibfehler teilweise korrigiert):
„Anbei eine Zusammenfassung zur derzeitigen Lage in Afghanistan. Diese kann sich aufgrund der derzeit sehr volatilen Lage im Land jederzeit rasch ändern!
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme, und keine Racheakte an irgendjemandem zu begehen (tagesschau.de 15.08.2021).
Am 15.08.2021 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insaßen befreit worden (BAMF 16.08.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.08.2021).
Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.08.2021a).
Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 07.07.2021 und dem 09.08.2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).
Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.08.2021b).
Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.08.2021).
Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet, und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen, ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.08.2021).
Laut Treffen mit Frontex kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf, die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.08.2021a).
IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.08.2021).
Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.08.2021).“
3.6.2. Kurzinformation der Staatendokumentation [des BFA] vom 20.08.2021 zu aktuellen Entwicklungen und Informationen in Afghanistan (Schreibfehler teilweise korrigiert):
„Aktuelle Lage
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a). Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).
Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.08.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).
Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).
Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach „Kollaborateuren“. In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens zwölf Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d). Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.08.2021).
Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es, die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (£ Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SR- Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17.09.2021 (VN 18.08.2021).
Exkurs:
Die Anführer der Taliban
Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf.
Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu‘minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia-Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban-Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht.
Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban-Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an.
Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).
Stärke der Taliban-Kampftruppen
Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b). [...]“
3.6.3. UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021:
„Einleitung
1. Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern. UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghaninnen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen.
2. Aufgrund des Konflikts sind seit Anfang 2021 Schätzungen zufolge über 550.000 Afghaninnen innerhalb des Landes neu vertrieben worden, davon 126.000 neue Binnenvertriebene allein zwischen 7. Juli und 9. August 2021. Während es bis dato noch keine genauen Zahlen gibt, wie viele Afghaninnen das Land aufgrund der Kampfhandlungen und Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, haben Berichten zufolge zehntausende Afghaninnen in den letzten Wochen die Landesgrenzen überschritten.
Zugang zum Staatsgebiet und zu internationalem Schutz
3. Da die Situation in Afghanistan instabil und unsicher bleibt, fordert UNHCR alle Länder dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen. UNHCR weist auf die Notwendigkeit hin zu gewährleisten, dass das Recht, Asyl zu beantragen, nicht eingeschränkt wird, dass Grenzen offengehalten werden und dass Personen, die internationalen Schutzbedarf haben, nicht in Gebiete innerhalb ihres Herkunftslands zurückgedrängt werden, die möglicherweise gefährlich sind. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Staaten auch gemäß Völkergewohnheitsrecht verpflichtet sind, die Grenzen für die vor dem Konflikt fliehende Zivilbevölkerung offen zu halten und Flüchtlinge nicht zwangsweise zurückzuführen. Der Non-Refoulement-Grundsatz beinhaltet auch die Nicht-Zurückweisung an der Grenze.
4. Alle Anträge auf internationalen Schutz von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan sollten in fairen und effizienten Verfahren im Einklang mit internationalem und regionalem Flüchtlingsrecht behandelt werden. UNHCR ist besorgt, dass die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan zu einem Anstieg des internationalen Schutzbedarfs von Personen, die aus Afghanistan fliehen, führen - sei es als Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention oder regionalen Flüchtlingsabkommen, sei es als anderweitig international Schutzberechtigte. Das gleiche gilt für diejenigen, die sich bereits vor der jüngsten Eskalation der Gewalt in Afghanistan in Abnahmeländern befanden. Vor dem Hintergrund der volatilen Situation in Afghanistan begrüßt UNHCR den Schritt einiger Aufnahmeländer, Entscheidungen über den internationalen Schutzbedarf von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und zuverlässige Informationen über die Sicherheits- und Menschenrechtslage verfügbar sind, um den internationalen Schutzbedarf der einzelnen Antragsteller*innen zu prüfen. Aufgrund der Unbeständigkeit der Situation in Afghanistan hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsperspektive zu verwehren.
5. Bei Personen, deren Asylgesuch vor den jüngsten Geschehnissen abgelehnt wurde, kann die aktuelle Situation in Afghanistan zu einer Änderung der Umstände führen, die im Rahmen eines Folgeantrags zu berücksichtigen sind.
6. Es kann Personen geben, die mit Taten in Verbindung stehen, aufgrund derer sie unter die Ausschlussklauseln von Artikel 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. In diesen Fällen wird es notwendig sein, Fragen betreffend die persönliche Verantwortung für Verbrechen, die einen Ausschluss vom Flüchtlingsschutz begründen können, sorgfältig zu prüfen. Um den zivilen Charakter von Asyl zu bewahren, sollten Staaten zudem die Situation der Ankommenden sorgfältig prüfen, um bewaffnete Elemente zu identifizieren und diese von der geflüchteten Zivilbevölkerung zu trennen.
Empfehlung eines Abschiebestopps
7. Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der sich abzeichnenden humanitären Notlage fordert UNHCR die Staaten dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen - auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Ein Moratorium für zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan sollte bestehen bleiben, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und geprüft wurde, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würden. Die Hemmung von zwangsweisen Rückführungen stellt eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben muss, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert haben, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.
8. In Übereinstimmung mit den Zusagen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen im Rahmen des Globalen Flüchtlingsforums, die Verantwortung für den internationalen Flüchtlingsschutz gerecht aufzuteilen, hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanische Staatsangehörige und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan zwangsweise in Länder in der Region zurückzuführen, auch in Anbetracht der Tatsache, dass Länder wie der Iran und Pakistan jahrzehntelang großzügig die überwiegende Mehrheit der Gesamtzahl afghanischer Flüchtlinge weltweit aufgenommen haben.
9. UNHCR wird die Situation in Afghanistan weiterhin beobachten, um den internationalen Schutzbedarf, der sich aus der aktuellen Situation ergibt, zu prüfen.“
3.6.4. Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 02.04.2021 (Schreibfehler teilweise korrigiert):
„COVID-19
Letzte Änderung: 31.03.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation, bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.01.2021; cf. UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.02.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.03.2021; vgl. HRW 14.01.2021).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 08.02.2021; cf. IOM 18.03.2021).
Die Infektionen steigen weiter an, und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.03.2021; WHO 17.03.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.03.2021)
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.03.2021; vgl. WB 28.06.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.03.2021; vgl. IOM 1.2021).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.03.2021).
Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße, und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.03.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus, und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.03.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 08.02.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).
Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. Guardian 02.05.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Mio. Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021).
Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Mio. Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021, IOM 18.03.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.01.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).
Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.02.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.02.2021 begonnen (IOM 18.03.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 300-500 Afghani (AFN) (IOM 18.03.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.01.2021, AA 16.07.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 08.02.2021).
Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.03.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.03.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 18.02.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähn