TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/11 W204 2187910-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.11.2021
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Entscheidungsdatum

11.11.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54 Abs1 Z2
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
BFA-VG §9 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

Spruch


W204 2187910-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt und erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER über die Beschwerde des A XXXX M XXXX M XXXX , geb. XXXX 1993, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Mag.a Hela AYNI-RAHMANZAI, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.01.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Das Verfahren wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. wegen Zurückziehung der Beschwerde eingestellt.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

A XXXX M XXXX M XXXX wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm §§ 54 Abs. 1 Z 2, 55 Abs. 1, 2 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf (12) Monaten ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses erteilt.

III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III., V. und VI. wird stattgegeben und diese werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein afghanischer Staatsbürger, reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am 20.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Tags darauf wurde der BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Salzburg niederschriftlich erstbefragt. Befragt nach seinen Fluchtgründen führte der BF aus, er sei von den Taliban bedroht und gesucht worden, weil aufgrund seiner Hinweise Männer festgenommen worden seien, die mit den Taliban kooperierten.

I.3. In einem vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten vom 11.05.2016 wurde auf Grundlage einer am 20.04.2016 durchgeführten multifaktoriellen Untersuchung zur Altersdiagnose festgehalten, dass der BF zum Zeitpunkt der Untersuchung ein Mindestalter von 18,7 Jahren aufwies.

I.4. Am 04.12.2017 wurde der BF von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des BFA in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson unter anderem zu seinem Gesundheitszustand, seiner Identität, seinen Lebensumständen in Afghanistan, seinen Familienangehörigen und seinen Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die den BF bewogen, seine Heimat zu verlassen, gab er an, er habe Männer beobachtet, die eine Landmine eingegraben hätten. Er habe das einem Kommandanten gemeldet und werde deswegen von den Taliban bedroht.

I.5. Mit Bescheid vom 24.01.2018, dem BF am 31.01.2018 zugestellt, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das BFA aus, das Vorbringen des BF könnte sich so ereignet haben, allerdings stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Der Status eines Asylberechtigten könne daher nicht gewährt werden. Dem BF sei eine Rückkehr nach Kabul möglich. Auch der Status des subsidiär Schutzberechtigten könne daher nicht gewährt werden. Gemäß § 57 AsylG sei auch eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz nicht zu erteilen, weil die Voraussetzungen nicht vorlägen. Letztlich hätten auch keine Gründe festgestellt werden können, wonach bei einer Rückkehr des BF gegen Art. 8 Abs. 2 EMRK verstoßen werde, weswegen auch eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.

I.6. Mit Verfahrensanordnung vom 29.01.2018 wurde dem BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.7. Gegen den unter I.5. genannten Bescheid richtet sich die Beschwerde des BF vom 16.02.2018, in der beantragt wurde, dem BF den Status des Asylberechtigten in eventu jenen des subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren, in eventu festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und dem BF einen Aufenthaltstitel zu erteilen, oder den Bescheid zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen und eine Beschwerdeverhandlung durchzuführen.

Entgegen der Annahme des BFA bestehe keine innerstaatliche Fluchtalternative für den BF, wozu mehrere Länderberichte auszugsweise zitiert wurden. Ihm sei daher der Status des Asylberechtigten zu gewähren. Jedenfalls stehe aber die Sicherheits- und Versorgungslage einer Rückkehr entgegen. Auch die Interessensabwägung des BFA sei verfehlt, die privaten Interessen des BF würden die öffentlichen überwiegen, sodass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei.

I.8. Das BFA legte dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde und den Verwaltungsakt am 02.03.2018 vor.

I.9. Am 15.11.2019 und am 02.09.2021 legte der BF diverse Integrationsunterlagen vor.

I.10. Am 10.09.2021 legte der BF Befunde zu einem erlittenen Bandscheibenvorfall vor.

I.11. Am 13.09.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der der BF und seine Rechtsvertretung teilnahmen. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde der BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari u.a. zu seiner Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, seinen Familienangehörigen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt.

I.12. Am 27.10.2021 legte der BF eine Kopie seines Reisepasses vor.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-        Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend den BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle;

-        Befragung des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 13.09.2021;

-        Einsicht in die im Rahmen des Verfahrens vorgelegten Unterlagen und Stellungnahmen;

-        Einsicht in die in das Verfahren eingeführten Länderinformationen;

-        Einsicht in das Strafregister, in das Grundversorgungssystem und in das Zentrale Melderegister.

II. Feststellungen:

II.1. Zur Person des BF:

Der BF heißt A XXXX M XXXX M XXXX und ist am XXXX 1993 geboren. Seine Identität steht fest. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zum sunnitischen Islam. Seine Muttersprache ist Dari. Außerdem beherrscht der BF Paschtu. Der BF ist ledig und kinderlos.

Der BF ist in Kabul geboren und aufgewachsen. Er hat neun Jahre die Schule besucht und als Hirte und Installateur gearbeitet. Die Eltern des BF und seine Schwester leben in Kabul. Seine drei Brüder leben mittlerweile im Iran. Der Familie in Afghanistan und im Iran geht es gut. Der BF hat Kontakt zu seiner Familie.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert. Er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der BF befindet sich nach einem Bandscheibenvorfall aufgrund lumboischalgiformer Schmerzen in Behandlung. Außerdem leidet der BF unter anderem an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die medikamentös behandelt wird, sowie einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und einer Schlafstörung. Von 12.07.2021 bis 06.08.2021 war der BF aufgrund seiner Probleme in stationärer Krankenhausbehandlung. Ein weiterer Aufenthalt im Rahmen des Schmerzbewältigungsmoduls ist vorgesehen. Der BF ist trotz seiner Beschwerden weitgehend arbeitsfähig.

II.2. Zum (Privat-)Leben des BF in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein. Er hält sich zumindest seit dem 20.01.2016 durchgehend in Österreich auf und ist seit seinem Antrag auf internationalen Schutz vom selben Tag in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF besuchte mehrere Deutschkurse bis zum Niveau B1. Die A2-Prüfung hat er am 22.11.2017 bestanden. Er hat einen Werte- und Orientierungskurs sowie einen Kurs zur Demokratie und Diversität besucht.

Von 23.08.2016 bis 28.02.2017 betätigte sich der BF in einem Textilprojekt ehrenamtlich. Von 2018 bis Mai 2019 betätigte sich der BF gemeinnützig in einem Alten- und Pflegeheim. Ebenso war der BF mehrmals gemeinnützig in seiner Wohngemeinde tätig. Der BF ist derzeit freiwilliger Helfer beim Roten Kreuz.

Der BF ist seit September 2018 mithilfe einer Organisation auf Arbeitssuche. Nachdem dem BF Beschäftigungsbewilligungen erteilt worden waren, arbeitete er von 03.06.2019 bis März 2020 und von 15.05.2020 bis 09.09.2021 in verschiedenen Gastronomiebetrieben. Er hat zwei verbindliche Arbeitszusagen.

Der BF hat durch seine ehrenamtlichen Tätigkeiten und durch seine Erwerbstätigkeiten einen großen Freundeskreis aufgebaut. Zu seinen Freunden zählen zwei Afghanen. Seine restlichen Freunde kommen aus Österreich, Albanien, Ungarn und anderen Nationen. Es besteht eine besonders enge, familienähnliche Beziehung zu einer Frau, die der BF im Rahmen einer Veranstaltung kennenlernte. Der BF ist mit ihr regelmäßig in Kontakt und sie besuchen sich gegenseitig. Der BF wird von ihr bei Behördengängen unterstützt. Ebenso unterstützte sie den BF während dessen Krankheit. Durch die verschiedenen Kontakte hat sich der BF an das Leben in Österreich angepasst.

Der BF bewohnt eine eigene Wohnung, deren Miete er selbst begleicht. Er bekommt seit 11.06.2019 keine Leistungen aus der Grundversorgung.

Der BF ist strafgerichtlich unbescholten.

III. Beweiswürdigung:

III.1. Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und dem Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts.

III.2. Zu den Feststellungen zur Person des BF:

Die Feststellungen zum BF, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinen Sprachkenntnissen wie auch zu den Umständen seines Aufwachsens in Afghanistan legte im Wesentlichen bereits das BFA aufgrund der glaubhaften Aussage des BF seiner Entscheidung zugrunde. Es haben sich daran im Beschwerdeverfahren keine Zweifel ergeben, zumal er seine diesbezüglichen Aussagen in der Beschwerdeverhandlung im Wesentlichen bestätigte. Die Feststellungen zur Identität waren aufgrund seiner glaubhaften Angaben, den Ausführungen des Dolmetschers in der Beschwerdeverhandlung zur Schreibweise des Namens des BF und der vorgelegten Reisepasskopie zu treffen.

Die Feststellungen zur Familie des BF in Afghanistan und im Iran waren gleichfalls aufgrund der glaubhaften Angaben des BF zu treffen (S. 10 VP).

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen des BF in der Beschwerdeverhandlung (S. 4f VP) in Verbindung mit den vorgelegten Befunden. Dass der BF trotzdem arbeitsfähig ist, ergibt sich einerseits daraus, dass er auch bisher im Bundesgebiet berufstätig war, und andererseits, dass der BF bestätigte, dass er sich selbst arbeitsfähig fühlt und ihm die Arbeit in Bezug auf seine gesundheitlichen Beschwerden sogar guttut (S. 5 VP).

III.3. Zu den Feststellungen zum (Privat-)Leben des BF in Österreich:

Die Feststellungen zum Leben des BF in Österreich, insbesondere zur Aufenthaltsdauer, zu seinen Deutschkenntnissen, seinen ehrenamtlichen und gemeinnützigen Tätigkeiten wie auch zu seinen Arbeitstätigkeiten, beruhen auf den glaubhaften Angaben des BF im Verfahren und den vorgelegten Dokumenten, an denen kein vernünftiger Grund zu zweifeln besteht. Aufgrund der beinahe durchgängigen und umfassenden Tätigkeiten des BF im österreichischen Bundesgebiet ist auch die Aussage des BF zu seinem Freundeskreis glaubhaft (S. 8 VP). Die in der Verhandlung anwesende Vertrauensperson bestätigte auch die Aussage des BF, dass zu ihr ein besonders enges, familienähnliches Verhältnis besteht (S. 10 VP). Dies war auch am Rande der Verhandlung durch den vertrauten Umgang der beiden miteinander feststellbar.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister, die zum fehlenden Bezug der Grundversorgung aus einem GVS-Auszug.

IV. Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist, was im gegenständlichen Verfahren nicht der Fall ist.

IV.1. Zu Spruchpunkt A)

IV.1.1. Zu Spruchpunkt A) I.:

Das Verfahren war aufgrund der unmissverständlichen Äußerung des BF, der davor von seiner Vertretung rechtlich beraten worden war (S. 9 VP), mit Beschluss einzustellen, weil damit dem Bundesverwaltungsgericht die diesbezügliche Zuständigkeit entzogen wurde.

IV.1.2. Zu Spruchpunkt A) II. und III.:

IV.1.2.1. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG nicht erteilt wird.

Ist die Rückkehrentscheidung wie hier, wie noch zu zeigen sein wird, auf Dauer unzulässig, entfällt die amtswegige Prüfung hinsichtlich eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG (VwGH 27.04.2020, Ra 2020/21/0121). Der Spruchpunkt III. ist daher ersatzlos zu beheben.

IV.1.2.2.Gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

Der BF ist als Staatsangehöriger von Afghanistan kein begünstigter Drittstaatsangehöriger und es kommt ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Es ist daher grundsätzlich eine Rückkehrentscheidung zu erlassen.

Wird durch eine Rückkehrentscheidung in das Privat- oder Familienleben eingegriffen, ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Dabei ist unter Bedachtnahme auf die in § 9 Abs. 2 BFA-VG aufgezählten Kriterien begründet abzusprechen, ob diese zulässig ist. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung ist somit eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien, vorzunehmen. Dabei sind die Umstände des Einzelfalles unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen.

Es leben keine Familienangehörigen des BF im Bundesgebiet. Die Rückkehrentscheidung kann daher von vornherein nicht in das von Art. 8 EMRK geschützte Familienleben eingreifen. Es ist daher noch zu prüfen, ob der Eingriff in das Privatleben nach Art. 8 EMRK gerechtfertigt ist.

Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516 und VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479).

Die Dauer des Aufenthaltes des BF im Bundesgebiet seit Jänner 2016 wird dadurch relativiert, dass der Aufenthalt bloß aufgrund der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung als Asylwerber rechtmäßig war. Dies musste dem BF bewusst gewesen sein, weswegen eingegangene Bindungen im Bundesgebiet grundsätzlich nicht besonders schwer wiegen können. Zudem war sein Aufenthalt ab der erstinstanzlichen Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz durch das zuständige BFA gemäß der Judikatur des EuGH illegal im Sinne der Richtlinie 2008/115, dies unabhängig vom Vorliegen einer Bleibeberechtigung bis zur Entscheidung über die gegenständliche Beschwerde (EuGH 19.06.2018, Gnandi, C-181/16, Rn 59).

Bei Aufenthalten von unter fünf Jahren muss nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs eine außergewöhnliche Konstellation vorliegen, um die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu rechtfertigen. Eine solche liegt etwa auch dann nicht vor, wenn der BF besondere Bemühungen bei der Erlangung von Deutschkenntnissen und eines Lehrverhältnisses gezeigt hat, er keine Leistungen aus der Grundversorgung bezieht und auch Anstrengungen zur sozialen Integration in seiner Heimatgemeinde unternommen hat. Alleine dadurch besteht noch keine derartige Verdichtung der persönlichen Interessen, dass bereits von außergewöhnlichen Umständen gesprochen werden kann, sodass ihm schon unter diesem Gesichtspunkt ein Aufenthaltstitel aus den Gründen des Art. 8 EMRK zu erteilen wäre, zumal diesem das öffentliche Interessen an einem geordneten Fremdenwesen gegenübersteht (VwGH 02.09.2019, Ra 2019/01/0088; 22.08.2019, Ra 2019/21/0149; 10.04.2019, Ra 2019/18/0058 mH auf VwGH 28.02.2019, Ro 2019/01/0003, wonach eine Lehre in einem Mangelberuf nicht bereits ihrerseits als besonderes öffentliches Interesse zu berücksichtigen ist).

Mit der Dauer des Aufenthalts nimmt grundsätzlich das persönliche Interesse des Fremden zu, allerdings ist die bloße Aufenthaltsdauer alleine nicht maßgeblich, sondern es ist vor allem anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit die in Österreich verbrachte Zeit genützt worden ist, sich beruflich und sozial zu integrieren. Das gilt auch bei einem etwas mehr als fünfjährigen Aufenthalt (VwGH 07.10.2020, Ra 2020/14/0414; 05.10.2020, Ra 2020/19/0330; 28.09.2020, Ra 2020/20/0348).

Der mittlerweile beinahe sechsjährige Aufenthalt des BF ist daher, zumal er auch auf einem Verschulden der Behörden beruht (§ 9 Abs. 2 Z 9 BFA-VG), zu seinen Gunsten zu werten. Diesen langen Aufenthalt hat der BF einerseits auch genutzt, um sich sprachlich zu integrieren. So besuchte er Deutschkurse bis zum B1-Niveau und eine Unterhaltung auf Deutsch ist mit ihm problemlos möglich. Der BF war andererseits beinahe durchgehend entweder ehrenamtlich oder gemeinnützig beschäftigt, bis er eine bezahlte Erwerbstätigkeit aufnahm. Dadurch war der BF nicht nur bereits lange Zeit wirtschaftlich selbstständig, sondern hat sich auch umfassend in die Gesellschaft integriert. Das zeigt sich besonders an seinem Freundeskreis, der nur zu einem kleinen Teil aus Landsleuten besteht. Die meisten seiner Freunde kennt der BF aufgrund seiner Berufstätigkeiten, es handelt sich daher bei diesen um im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigte Personen. Hervorzuheben ist hier die Beziehung zur in der Verhandlung anwesenden Vertrauensperson, die, wie beide glaubhaft übereinstimmend schilderten, besonders eng und familienähnlich ist. Der BF hat sich damit sprachlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich in die österreichische Gesellschaft integriert. Zu Gunsten des BF ist auch zu berücksichtigen, dass er sich im Bundesgebiet bei der Leistung von Arbeiten auf einer Baustelle verletzte und an diesen Folgen zumindest teilweise noch immer leidet (VwGH 18.05.2020, Ra 2019/18/0356).

In Bezug auf § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG ist hervorzuheben, dass die Bindungen des BF zu Afghanistan nach wie vor groß sind. Das ist vor allem dadurch bedingt, dass Teile seiner Familie nach wie vor in Afghanistan wohnen und er mit ihr in ständigem Kontakt steht. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann allerdings im Rahmen der Interessensabwägung unter dem Gesichtspunkt der Bindungen zum Heimatstaat auch der Frage Bedeutung zukommen, ob sich der Fremde bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine Existenzgrundlage schaffen kann (VwGH 07.06.2021, Ra 2021/18/0167). Die Situation hat sich in Afghanistan unstrittig verschlechtert, was auch eine Erschwerung der Schaffung der Existenzgrundlage zur Folge hat. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer Schmerzmittel benötigt, wobei auch hier von Versorgungsengpässen berichtet wird. Diese erschwerte Situation der Existenzsicherung relativiert jedenfalls die Beziehungen des BF zu seinem Herkunftsstaat.

Im Rahmen der Abwägung spricht daher für den BF dessen langer Aufenthalt im Bundesgebiet, seine während dieser Zeit erlangte Integration in allen Lebensbereichen, seine lange Selbsterhaltungsfähigkeit im Bundesgebiet, die Schwierigkeiten bei der Sicherung der Existenzgrundlage in Afghanistan, der Umstand und dass die Länge des Aufenthalts des BF (zumindest teils) auf ein Verschulden der Behörden zurückzuführen ist und seine – wenn auch späte – Einsicht und Akzeptanz des erstinstanzlichen Bescheides sowie die aufgrund der Arbeitstätigkeit erlittene gesundheitliche Beeinträchtigung. Dagegen, dem BF den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen, spricht das hohe öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen, der Umstand, dass sich der BF der Unsicherheit seines Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, die Bindungen des BF zu seinem Herkunftsstaat durch dessen dortiges Aufwachsen und den Aufenthalt seiner Familie in Afghanistan, der Aufenthalt des BF in Afghanistan während seiner prägenden Jugendjahre (EGMR 01.06.2017, 30441/09, Külecki v Austria; 02.04.2015, 27945/10, Sarközi and Mahran v Austria), die illegale Einreise des BF und die Möglichkeit, die privaten Bindungen im Bundesgebiet via soziale Medien aufrecht zu erhalten.

Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts führt diese Abwägung daher dazu, dass die privaten Interessen des BF die öffentlichen überwiegen. Die Rückkehrentscheidung ist daher als unzulässig zu erklären. Die drohenden Verletzungen des Privat- und Familienlebens beruhen auf Umständen, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides war daher stattzugeben und festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

Es ist daher nach § 58 Abs. 2 AsylG von Amts wegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG zu prüfen. Nach dessen Abs. 1 ist eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG), erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist nach § 55 Abs. 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen

Der BF ist derzeit nicht erwerbstätig. Er bezieht daher auch kein Einkommen, sodass § 55 Abs. 1 Z 2 2. Fall AsylG nicht erfüllt sein kann. Auch § 55 Abs. 1 Z 2 1. Fall AsylG ist nicht erfüllt. Dafür müsste der BF nämlich gemäß § 9 Abs. 4 Z 1 iVm § 11 Abs. 2 IntG eine Prüfung über Sprach- und Werteinhalte auf dem Niveau A2 erfolgreich absolviert haben. Der BF hat zwar ein Zeugnis über die erfolgreich abgeschlossene A2-Prüfung vorgelegt, diesem ist aber zu entnehmen, dass die Prüfung nur Sprach- und keine Wertinhalte zum Inhalt hatte. Nach § 11 Abs. 2 IntG muss zur erfolgreichen Absolvierung der Prüfung allerdings sowohl das Wissen über Sprach- sowie über Werteinhalte nachgewiesen werden. Auch die Teilnahme des BF an einem Werte- und Orientierungskurs des ÖIF reicht daher nicht aus, das Modul 1 der Integrationsvereinbarung als erfüllt anzusehen, da dieser nicht mit einer Prüfung abgeschlossen hat.

Nach § 81 Abs. 36 NAG gilt das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG auch als erfüllt, wenn Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 68/2017 vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 68/2017 erfüllt haben oder von der Erfüllung ausgenommen waren. Dazu hätte das vom BF vorgelegte Zeugnis über die absolvierte A2 Prüfung ausgereicht (§ 14a Abs. 4 Z 1 NAG idF vor BGBl. I Nr. 68/2017 iVm § 7 IV-V), allerdings hat der BF diese Prüfung erst am 22.11.2017 abgelegt, während das BGBl. I Nr. 68/2017 in den hier wesentlichen Teilen am 01.10.2017 in Kraft getreten ist (§ 27 Abs. 1, 4 IntG). Der BF hat das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG idF vor BGBl. I Nr. 68/2017 nicht vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens erfüllt. Er war auch nicht von der Erfüllung ausgenommen. Es liegt damit nur die Voraussetzung des § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG vor, sodass nach dessen Abs. 2 dem BF der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen ist.

Aufgrund der auf Dauer unzulässigen Rückkehrentscheidung und dem erteilten Aufenthaltstitel liegen die Voraussetzungen für die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und eine Fristsetzung für eine freiwillige Ausreise aus dem österreichischen Bundesgebiet nicht mehr vor. Die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheids waren daher ersatzlos aufzuheben.

IV.2. Zu Spruchpunkt B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Bei Interessenabwägungen nach Art. 8 EMRK handelt es sich um einzelfallbezogene Beurteilungen, die im Allgemeinen nicht revisibel sind (VwGH 29.09.2021, Ra 2021/01/0294).

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung Aufenthaltsdauer Interessenabwägung Privat- und Familienleben Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Teileinstellung teilweise Beschwerderückziehung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W204.2187910.1.01

Im RIS seit

05.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

05.01.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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