TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/12 W169 2176464-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.11.2021
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Entscheidungsdatum

12.11.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2
FPG §55 Abs1a

Spruch


W169 2176464-3/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Barbara MAGELE als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.10.2021, Zl. 1117670001-210514268, zu Recht erkannt und beschlossen:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 68 AVG als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. – VII. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und diese ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Erstes Asylverfahren:

1. Die Beschwerdeführerin stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 06.06.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag fand die niederschriftliche Erstbefragung statt, in der die Beschwerdeführerin angab, volljährig zu sein; Identitätsdokumente könne sie keine vorlegen. Sie sei in der Region Middle-Shabelle geboren, sei verheiratet und habe drei Kinder. Ihr Vater sei verstorben. Die Beschwerdeführerin habe Somalia im März 2016 schlepperunterstützt verlassen und sei über Äthiopien, den Sudan und Ägypten nach Europa gelangt. Bezahlt habe sie die Reise selber, die Kosten hätten USD 3.000,- betragen. Zu ihrem Fluchtgrund befragt gab die Beschwerdeführerin an, Mitglieder der Al Shabaab hätten sie an den Beinen verletzt, weshalb sie um ihr Leben fürchte.

2. In der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 29.09.2017 gab die Beschwerdeführerin an, keine Identitätsdokumente zu haben. Sie sei Schiitin und gehöre dem Clan der Abgaal an. Sie habe keine gesundheitlichen Probleme und nehme keine Medikamente.

Sie stamme aus einem Dorf in der Nähe von Jowhar, Middle-Shabelle. Ihre Mutter und andere Verwandte würden noch dort leben, ihr ehemaliger Mann und die Kinder würden nun in Jowhar leben. Sie sei zum zweiten Mal verheiratet. Sie hätte in ihrem Dorf einen Bauernhof bewirtschaftet. Sie habe regelmäßig Kontakt mit den Kindern und dem Mann, die Kinder würden zur Schule gehen, es ginge ihnen gut, sie würden in einem Haus leben.

Nach ihrem Fluchtgrund befragt gab die Beschwerdeführerin zusammengefasst an, dass die Al Shabaab Abgaben gefordert hätte. Als sie nicht habe bezahlten können, hätten zwei Männer sie am 01.02.2016 geschlagen und ihre Füße verbrannt. Nach einem fünfzehntägigen Krankenhausaufenthalt habe sie am 15.03.2016 beschlossen, das Land zu verlassen. Dazwischen habe sie in dem Haus der Mutter ihres ehemaligen Mannes gelebt, dort würden nun auch ihr jetziger Mann und die Kinder wohnen. Sie habe das Haus nicht verlassen. Sie habe Glück gehabt, dass man sie nicht gefunden habe. Die Schleppung habe sie mit ihrem Ersparten bezahlt. Den Mann und die Kinder habe sie nicht mitnehmen können, da das Geld nicht gereicht hätte. Sie habe sich nicht woanders niederlassen können, da man sie mehrmals bedroht und gesagt habe, man werde sie überall finden. Auf die Frage, wieso sie nicht mit ihrem Mann und den Kindern in Somalia leben könne, die ein normales Leben führen würden, gab sie an, sie sei in dem Dorf aufgewachsen, sie könne nur dort leben.

In weiterer Folge gab die Beschwerdeführerin an, sie hätte den Männern doch Geld gegeben, als man sie verbrannt habe, sie habe aber nicht mehr weiter zahlen wollen. Darüber hinaus habe sie keine Probleme gehabt.

Zu ihrer Integration in Österreich befragt gab die Beschwerdeführerin an, sie besuche keine Kurse und gehe keiner beruflichen Tätigkeit nach, sie versuche sich zu integrieren.

4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies mit dem Bescheid vom 02.10.2017, 1117670001-160789194, den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und den Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia gemäß § 8 Abs.1 iVm §2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.). Der Beschwerdeführerin wurde gemäß § 57 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin gemäß § 46 FPG nach Somalia zulässig sei (SpruchpunktIII.). Die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführerin betrage gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

5. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde. Sie sei von der Al Shabaab verfolgt worden, überdies sei sie beschnitten. Auf die seinerzeit herrschende Dürre wurde hingewiesen. Die Länderfeststellungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden nicht bestritten.

6. Das Bundesverwaltungsgericht führte in der gegenständlichen Rechtssache am 26.06.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Beschwerdeführerin und ihre gewillkürte Vertreterin persönlich teilnahmen. Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Beschwerdeführerin wurde in Somali befragt.

Zu ihrer Person befragt widerholte die Beschwerdeführerin die bisher im Verfahren gemachten Angaben, Identitätsdokumente könne sie keine vorlegen.

Sie wiederholte im Wesentlichen auch den vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgebrachten Fluchtgrund. Sie habe eine Plantage gehabt und Mitglieder der Al Shabaab wären fast täglich zu ihr gekommen und hätten einenTeil der Ernte und Geld verlangt. Das habe sie sich nicht leisten können. Man habe sie gezwungen zu bezahlen und habe dann ihre Füße verbrannt. Während sie im Krankenhaus gewesen sei, seien ihr Mann und ihre Kinder bedroht worden. Man habe den Mann befragt, wo sich die Beschwerdeführerin aufhalte, er habe es aber nicht verraten. Dann wären sie nach Jowhar gezogen, wo die Großmutter des Ehemannes gelebt habe. Auch die Beschwerdeführerin habe dann einen Monat bei der Großmutter gewohnt, diese habe sie gepflegt.

Sie könne nach Somalia zurückgehen, wenn diese Probleme nicht wären. Sie habe Kontakt mit den Kindern, es gehe ihnen gut, sie würden nun bei einer Verwandten leben. Der Mann sei geflüchtet, als die Al Shabaab ihn auch bedroht hätte. Den Bauernhof habe die Al Shabaab beschlagnahmt. Ihre Mutter lebe noch im Dorf; später bei der Befragung gab die Beschwerdeführerin an, die Mutter und der Bruder hätten außerhalb des Dorfes gelebt, weshalb niemand da gewesen sei, als die Al Shabaab gekommen sei. Der Bruder sei bei einem Selbstmordanschlag in Mogadischu getötet worden. Zuletzt gab die Beschwerdeführerin an, die Familie würde nun in einem Flüchtlingslager in Mogadischu leben.

Die aktuellen Länderfeststellungen (Stand 12.01.2018) wurden ins Verfahren eingebracht und waren der Vertretung bekannt. Eine innerhalb von zwei Monaten angekündigte Stellungnahme wurde nicht erstattet.

Zu ihrer Integration gab die Beschwerdeführerin an, sie wolle lernen und arbeiten gehen, als Reinigungskraft etwa oder den Menschen helfen. Vorgelegt wurden Teilnahmebestätigungen an einem Werte- und Orientierungskurs, einem Deutschkurs Niveau A1 aus 2016 und einem VHS-Kurs Lesen-Schreiben-Rechnen. Die Beschwerdeführerin konnte bei der Verhandlung einige deutsche Worte sprechen.

7. Mit rechtskräftigem Erkenntnis vom 09.05.2019, W175 2176464-1/10E, wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 Z 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG und §§ 52, 55 FPG als unbegründet ab.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Beschwerdeführerin somalische Staatsangehörige sei und aus der Umgebung von Jowhar, der Hauptstadt der Region Middle Shabelle, knapp 100 km nördlich von Mogadischu, stamme. Sie gehöre dem Clan der Abgaal an und bekenne sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, ihre Muttersprache sei Somali. Die Beschwerdeführerin sei zum zweiten Mal verheiratet, habe drei Kinder und besitze einen Bauernhof, den sie bewirtschaftet habe. Ihre Mutter und weitere Verwandte leben nach wie vor in ihrem Heimatdorf nahe Jowhar, ihr Mann lebe mit ihren Kindern in Jowhar im Haus einer Verwandten. Die Kinder würden zur Schule gehen bzw. der älteste Sohn gehe arbeiten.

Ein konkreter Anlass für das Verlassen des Herkunftsstaates habe nicht festgestellt werden können. Es habe auch nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer wie auch immer gearteten Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein werde.

Bei einer Rückkehr nach Somalia in ihr Heimatdorf oder die Stadt Jowhar drohe der Beschwerdeführerin kein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit, sie laufe nicht Gefahr, in der Region um Jowhar grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Die Beschwerdeführerin sei in dieser Region aufgewachsen, habe dort einen Bauernhof bewirtschaftet und ihre Kinder versorgt und sei in einen Familienverband eingebunden gewesen. Die Kernfamilie der Beschwerdeführerin und weitere Verwandte halten sich in und um Jowhar auf. Es bestehe nach wie vor Kontakt zu ihrer Familie. Es seien keine Gründe ersichtlich, weshalb die Beschwerdeführerin nicht wieder von ihrer Familie aufgenommen werden sollte.

Die Beschwerdeführerin sei volljährig, gesund und arbeitsfähig. Sie habe in Österreich keine familiären Beziehungen. Sie habe einen Werte- und Orientierungskurs, einen Deutschkurs Niveau A1 und einem VHS-Kurs Lesen-Schreiben-Rechnen besucht, aber kein Zeugnis erworben. Sie gehe keiner Erwerbstätigkeit nach und habe freundschaftliche Kontakte.

8. Eine gegen dieses Erkenntnis gerichtete Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof wurde mit Beschluss vom 26.06.2019 abgelehnt. Eine außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde mit Beschluss vom 15.10.2019 zurückgewiesen.

2. Erster Folgeantrag:

1. Am 07.11.2019 stellte die Beschwerdeführerin einen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag fand die Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Zu den Gründen ihrer neuerlichen Antragstellung gab sie zu Protokoll, dass ihre bisherigen Fluchtgründe nach wie vor aufrecht seien und es keine neuen Fluchtgründe gebe. Frauen hätten keine Rechte in ihrer Heimat und die Beschwerdeführerin als Frau habe Angst, auf die Straße zu gehen. Sie habe Angst um ihr Leben. Nur weil sie eine Frau sei, könne vieles über sie behauptet werden. Diese Fluchtgründe bestünden seit ihrer Flucht.

Im Zuge der Antragstellung legte die Beschwerdeführerin auch eine mit 06.11.2019 datierte Stellungnahme ihrer Rechtsvertretung vor, in welcher im Wesentlichen vorgebracht wurde, dass die Beschwerdeführerin über kein Unterstützungsnetzwerk in ihrer Heimat verfüge, da der Kontakt zu ihren Angehörigen abgebrochen sei, weshalb sie nur in einem Lager für Binnenflüchtlinge unterkommen könnte. Die Versorgungslage in Somalia sei katastrophal. Zudem habe sich der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin verschlechtert. Sie leide unter Herz- und Schilddrüsenproblemen und brauche dringend medizinische Behandlung. Darüber hinaus befürchte die Beschwerdeführerin aufgrund ihres Aufenthaltes in Europa von Al Shabaab als westliche Spionin betrachtet zu werden.

2. Am 25.11.2019 wurde die Beschwerdeführerin durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Zu ihrem Gesundheitszustand gab sie an, dass sie seit September 2019 unter Unterleibsschmerzen leide, nachdem sie eine Treppe hinuntergefallen sei. Probleme mit der Schilddrüse habe sie schon davor gehabt. Sie nehme nur Schmerztabletten.

Sie habe keinen Kontakt zu ihren Angehörigen in Somalia und wisse nicht, wo diese sich befänden. Sie habe zuletzt im März 2019 ihren Sohn telefonisch erreichen können. Ihre Kinder hätten sich damals in Mogadischu aufgehalten. Zu ihrem Ehemann habe sie das letzte Mal im November 2017 Kontakt gehabt, als er in Jowhar aufhältig gewesen sei.

Befragt, ob sie neue Fluchtgründe habe, gab die Beschwerdeführerin an, dass sie nicht wisse, wo ihre Kinder seien und sie sie vermisse. Sie wisse nicht, ob ihre Kinder noch leben würden. Es herrsche Krieg. Ihre Kinder würden in einem Flüchtlingslager in Mogadischu leben und viele Mädchen würden dort vergewaltigt werden. Auf Nachfrage habe die Beschwerdeführerin in ihrem Erstverfahren nicht angegeben, dass sie keinen Kontakt zu ihren Angehörigen habe, da sie nicht gewusst habe, dass dies wichtig sei.

3. Mit Schreiben vom 29.11.2019 gab die Beschwerdeführerin eine Stellungnahme zu den Länderberichten (Stand: 20.11.2019) ab.

4. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.01.2020, Zl. 1117670001-191137472, wurde der Folgeantrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich des Status der Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde der Beschwerdeführerin nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin gemäß § 46 FPG nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG wurde keine Frist für eine freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.). Weiters wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG gegen die Beschwerdeführerin ein einjähriges Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

5. Die gegen diesen Bescheid fristgerecht erhobene Beschwerde wurde mit rechtskräftigem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.03.2020, W184 2176464-2/2E, gemäß § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG iVm § 68 Abs. 1 AVG, §§ 3, 8, 10, 57 AsylG 2005, §§ 52, 53, 55 FPG und § 9 BFA-VG als unbegründet abgewiesen. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Vorbringen der Beschwerdeführerin zu ihrem Folgeantrag keinen glaubhaften asylrelevanten Kern enthalte, der sich auf den Zeitraum nach Abschluss des ersten Asylverfahrens beziehe. Mit der Sicherheits- und Versorgungslage sowie einer Bedrohung aufgrund des Geschlechts habe sich das Bundesverwaltungsgericht bereits im zum ersten Asylverfahren ergangenenen Erkenntnis auseinandergesetzt. Das nunmehr von der Beschwerdeführerin behauptete völlige Fehlen von Angehörigen im Herkunftsstaat enthalte keinen glaubhaften Kern.

6. Eine gegen dieses Erkenntnis an den Verwaltungsgerichtshof gerichtete außerordentliche Revision wurde nach Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung am 31.08.2020 mit Beschluss vom 23.09.2020 zurückgewiesen.

3. Gegenständlicher (zweiter) Folgeantrag:

1. Am 19.04.2021 stellte die Beschwerdeführerin den gegenständlichen (zweiten) Folgeantrag auf internationalen Schutz und wurde am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.

Nach dem Grund für ihre neuerliche Antragstellung befragt, führte die Beschwerdeführerin auss, dass sie seit der negativen Entscheidung im Herbst 2020 psychische Probleme bekommen habe. Außerdem sei sie obdachlos, alleinstehend und Mutter dreier Kinder. Ihre Kinder seien in Somalia und würden verhungern. Sie habe aber schon lange keinen Kontakt zu den Kindern. Die Beschwerdeführerin befürchte als alleinstehende Frau in Somalia vergewaltigt oder getötet zu werden. Außerdem habe sie Angst vor der Al Shabaab.

Im Zuge der Antragstellung legte die Beschwerdeführerin eine mit dem selben Tag datierte Stellungnahme ihrer Rechtsvertretung vor, in welcher im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass die unsicheren Lebensverhältnisse dazu geführt hätten, dass die Beschwerdeführerin nun an einer ausgeprägten posttraumatischen Belastungsstörung und einer rezidivierenden schweren depressiven Störung leide, weshalb sie dringend eine psychiatrische Betreuung benötige. Zum Beweis wurden ein klinisch-psychologischer Befundbericht vom 17.02.2020 und eine Bestätigung des Vereins „Hemayat“ vom 23.03.2021 vorgelegt. In Somalia würde der Beschwerdeführerin gesellschaftliche Verfolgung aufgrund dieser Erkrankung drohen und sie hätte keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Weiters vorgelegt wurde zum Beweis der in Somalia erlittenen Folter ein ärztlicher Befundbericht vom 04.03.2021, wonach sich am Fußrücken der Beschwerdeführerin multiple unscharf begrenzte hypopigmentierte Areale befänden, die durchaus Residuen bei Zustand nach Verbrennung im Bereich der Füße entsprechen können. Darüber hinaus hätten der anhaltende Konflikt, die Drürre, Überschwemmungen und Heuschreckenplagen die humanitäre Krise in Somalia verstärkt, wovon auch die Heimatregion der Beschwerdeführerin betroffen sei. Auch wirke sich die COVID-19-Pandemie verheerend auf die Versorgung aus und gebe es keine adäquaten Behandlungsmöglichkeiten.

2. Am 23.06.2021 wurde die Beschwerdeführerin in Anwesenheit ihrer Rechtsvertretung durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Dabei gab die Beschwerdeführerin an, dass sie aktuell die Medikamente Pascoflair zum Schlafen, Euthyrox für die Schilddrüse und Omec Hexal gegen Gastritis einnehme. Sie habe heute einen Termin für eine Therapie bei einer Psychologin.

Die Beschwerdeführerin habe seit März 2019 keinen Kontakt in ihre Heimat. Sie habe damals mit ihrem Sohn in Mogadischu telefoniert. Sie wisse nicht, wo ihre Kinder nun seien. Sie sei einmal beim Roten Kreuz gewesen, um Hilfe zu bekommen. Es sei voriges Jahr in der „Coronazeit“ gewesen und sie hätte wiederkommen sollen. Seither sei sie aber nicht mehr hingegangen.

Befragt nach dem Grund ihrer erneuten Antragstellung erklärte die Beschwerdeführerin, dass sie krank sei. Sie schlafe fast nichts, weil sie viele Probleme habe. Ihr Herz tue weh. Wenn jemand die Türe laut schließe, habe sie Angst. Sie habe Kopfweh. Auf Nachfrage gebe es keine sonstigen Gründe. Es sei nur die Gesundheit. Ihre Kinder seien nicht hier. Sie wisse nicht, wo sie seien. Im Falle einer Rückkehr habe die Beschwerdeführerin Angst um ihr Leben. Sie habe Angst vor der Al Shabaab.

Zu ihren Lebensumständen im Bundesgebiet gab die Beschwerdeführerin zu Protokoll, dass sie von der Grundversorgung lebe. Sie koche und putze, manchmal gehe sie spazieren. Seit einem Monat habe sie nur Kontakt zu den Mitbewohnern ihrer Unterkunft.

Auf Nachfrage ihrer Rechtsvertretung gab die Beschwerdeführerin an, dass ihr Herz schnell schlage und sie schwitze, wenn sie Angstzustände habe. Das sei meist nur in der Nacht so, manchmal auch am Tag. Sie habe immer Angst.

Der Beschwerdeführerin wurden in der Einvernahme die aktuellen Länderberichte zur Situation in Somalia ausgefolgt und ihr Gelegenheit zu einer schriftlichen Stellungnahme binnen zwei Wochen gegeben.

3. Am 05.07.2021 gab das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens über den Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin in Auftrag.

4. Mit Schreiben vom 07.07.2021 gab die Beschwerdeführerin eine Stellungnahme zu den aktuellen Länderberichten ab, wobei im Wesentlichen auf die Eingabe vom 19.04.2021 verwiesen wurde. Die Beschwerdeführerin habe nun am 23.06.2021 eine psychiatrische Behandlung beginnen können, wobei ihr als Medikation Escitalopram und Quetialan verordnet worden sei.

5. Am 12.07.2021 übermittelte die Beschwerdeführerin einen am 23.06.2021 erstellte psychiatrischen Befund, wonach die Beschwerdeführerin an einer Traumafolgestörung und einer rezidivierenden depressiven Störung leide.

6. Mit vom Bundesamt für Fremdenwesen in Auftrag gegebenem Gutachten einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 01.09.2021 wurde der Beschwerdeführerin eine Anpassungsstörung diagnostiziert, die sich als Reaktion auf die Ablehnung ihrer Asylanträge entwickelt habe. Eine genuine psychische Erkrankung im Sinne einer schizophrenen oder affektiven Störung oder auch einer posttraumatischen Belastungsstörung liege hingegen nicht hervor. Es bestehe aktuell keine Notwendigkeit einer medizinischen oder therapeutischen Behandlung.

7. Am 15.09.2021 wurde die Beschwerdeführerin vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu einer Einvernahme am 29.09.2021 geladen. Die Ladung wurde der Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin zugestellt.

8. Mit Schreiben vom 22.09.2021 legte die Beschwerdeführerin einen Arztbrief vom 31.08.2021 vor, wonach ihr eine Lumboischialgie rechts ohne sensomotorisches Defizit und Verdacht auf Gastritis diagnostiziert wurde. Empfohlen wurde die Einnahme von Schmerzmitteln (Novalgin, Mexalen) sowie die Ersetzung von Omec Hexal durch Pantoloc.

9. Am 29.09.2021 wurde die Beschwerdeführerin ohne Anwesenheit ihrer Rechtsvertretung durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Dabei gab die Beschwerdeführerin an, dass sie die Medikamente Ramipril HCT gegen Bluthochdruck, Diamicron NR gegen Diabetes, Euthyrox wegen der Schilddrüse, Quetalan zum Schlafen und Escitalopram STADA, wenn sie psychische Probleme habe, einnehme.

Auf Vorhalt des psychiatrischen Gutachtens vom 01.09.2021 gab die Beschwerdeführerin an, dass sie Diabetikerin sei und Bluthochdruck habe. Sie habe so viele Probleme hier. Wenn die Ärztin dies sage, werde es stimmen. Wenn die Beschwerdeführerin Medikamente nehme, könne sie schlafen, sonst nicht. Seit ihrer letzten Einvernahme habe die Beschwerdeführerin Bluthochdruck und würden ihre Gelenke wehtun, weswegen sie Physiotherapie wegen ihres Beins mache. Heute habe sie aber das letzte Mal Therapie.

10. Am 11.10.2021 langte eine E-Mail der Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein, wonach dieser ein Bescheid postalisch zugeschickt worden sei und mit Verweis auf die bestehende Zustellvollmacht eine ordentliche Zustellung an die Vertretung beantragt werde. Desweiteren sei mit Antrag vom 07.10.2021 durch die Vertretung die Zustellung des Gutachtens vom 01.09.2021 zwecks Parteiengehörs beantragt worden. Da dies bislang nicht erfolgt sei, werde nochmals um Zustellung ersucht.

11. Mit Antwortschreiben vom 13.10.2021 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl das Gutachten vom 01.09.2021 per E-Mail an die Rechtsvertretung und sicherte die Zustellung des Bescheides zu.

12. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Folgeantrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich des Status der Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde der Beschwerdeführerin nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin gemäß § 46 FPG nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG wurde keine Frist für eine freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.). Weiters wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG gegen die Beschwerdeführerin ein zweijähriges Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass die Beschwerdeführerin im gegenständlichen Verfahren keinen entscheidungsrelevanten Sachverhalt vorgebracht habe, der nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens entstanden sei. Da weder in der maßgeblichen Sachlage – und zwar weder im Hinblick auf jenen Sachverhalt, der in der Sphäre der Beschwerdeführerin gelegen sei, noch in jenen, welcher von Amts wegen aufzugreifen sei – noch im Begehren und auch nicht in den anzuwendenden Rechtsnormen eine Änderung eingetreten sei, welche eine andere rechtliche Beurteilung des Antrags nicht von vornherein als ausgeschlossen erscheinen ließen, sei der neuerliche Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen. Speziell sei aufgrund des erstellten Gutachtens auch keine Änderung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin eingetreten. Hinsichtlich des Spruchpunktes III. wurde ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 nicht vorliegen würden. Weiters wurde festgehalten, dass eine der Rückkehr entgegenstehende Integration der Beschwerdeführerin ebenso wenig erkannt werden könne, wie eine der Rückkehr entgegenstehende Situation in Somalia. Eine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe nicht. Die Erlassung eines Einreiseverbotes gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG sei notwendig, da die Beschwerdeführerin ihre Ausreiseverpflichtung bislang missachtet habe und die Mittel zum Unterhalt nicht nachweisen könne.

13. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde und führte im Wesentlichen aus, dass sich im Vergleich zum Erstverfahren die Versorgungslage aufgrund der COVID-19-Pandemie und der unterdurchschnittlichen Regenfälle in den Jahren 2020 und 2021 stark verschlechtert habe, für die Heimatregion der Beschwerdeführerin die IPC-Stufe 3 prognostiziert sei und der Beschwerdeführerin aufgrund der verschlechterten Sicherheitslage eine Rückkehr in ihre Heimatregion nicht möglich wäre. Bei der 48-jährigen adipösen Beschwerdeführerin könne zudem nicht von einer gesunden Person ausgegangen werden. Dem angefochtenen Bescheid seien keinerlei Feststellungen zur Versorgungslage in Somalia zu entnehmen. Schließlich sei der Beschwerdeführerin in der Einvernahme vom 29.09.2021 das psychiatrische Gutachten weder mündlich zur Gänze zur Kenntnis gebracht noch dieser ausgefolgt worden, wodurch ihr Parteiengehör verletzt worden sei, zumal ihr nicht eine mit einer angemessenen Frist versehenen Gelegenheit gegeben worden sei, eine diesbezügliche Stellungnahme abzugeben. Beantragt wurde die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin ist somalische Staatsangehörige und stammt aus der Umgebung von Jowhar in der Region Middle Shabelle. Sie ist Angehörige des Clans der Abgaal und gehört der Religionsgemeinschaft der Muslime an.

Die Beschwerdeführerin ist zum zweiten Mal verheiratet, hat drei Kinder und besitzt einen Bauernhof, den sie bewirtschaftete. Ihre Mutter und weitere Verwandte leben nach wie vor in ihrem Heimatdarf nahe Jowhar, ihr Mann lebt mit ihren Kindern in Jowhar im Haus einer Verwandten. Die Kinder gehen zur Schule bzw. der älteste Sohn geht arbeiten.

Die Beschwerdeführerin brachte nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 06.06.2016 ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz ein, welcher vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 09.05.2019 rechtskräftig abgewiesen wurden. Die Behandlung einer dagegen eingebrachten Beschwerde wurde mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofs vom 26.06.2019 abgelehnt. Eine außerordentliche Revision wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 15.10.2019 zurückgewiesen.

Die Beschwerdeführerin brachte am 07.11.2019 einen Folgeantrag auf internationalen Schutz ein, welcher mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.01.2020 gemäß § 68 AVG zurückgewiesen wurde. Eine dagegen eingebrachte Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 03.03.2020 als unbegründet abgewiesen. Eine dagegen eingebrachte außerordentliche Revision wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 23.09.2020 zurückgewiesen.

Die Beschwerdeführerin brachte am 19.04.2021 den gegenständlichen zweiten Folgeantrag auf internationalen Schutz ein.

Es ist seit dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.05.2019 keine entscheidungswesentliche Änderung der Fluchtgründe der Beschwerdeführerin eingetreten.

Es ist aber seither zu einer Änderung der Sicherheits- und Versorgungslage in Somalia gekommen, die eine andere rechtliche Beurteilung nicht von vornherein ausschließt.

1.2. Zur Situation im Herkunftsstaat wird Folgendes festgehalten:

1. COVID-19

Letzte Änderung: 07.07.2021

Zwischen 19.3.2020 und 2.1.2021 wurden über 81.000 Menschen getestet, knapp 4.700 waren infiziert (HIPS 2021, S. 24). Im ersten Quartal 2021 entwickelte sich eine neue Welle. Im Zeitraum 16.3.-7.5.2021 wurden 11.504 Infektionen bestätigt, 537 Personen starben an oder mit Covid-19 (UNSC 19.5.2021, Abs. 61). Mit Stand 27.6.2021 waren in Somalia 7.235 aktive Fälle registriert, insgesamt 775 Personen waren verstorben. Seit Beginn der Pandemie waren nur 140.128 Tests durchgeführt worden (ACDC 27.6.2021). Mitte März 2021 trafen die ersten Impfstoffe in Somalia ein. Mit Stand 29.4.2021 waren 121.700 Personen immunisiert (UNSC 19.5.2021, Abs. 61).

Im August 2020 wurde der internationale Flugverkehr wieder aufgenommen (PGN 10.2020, S. 9).

Regeln zum social distancing oder auch Präventionsmaßnahmen wurden kaum berücksichtigt (HIPS 2021, S. 24). Trotz Warnungen wurden Moscheen durchgehend – ohne Besucherbeschränkung – offengehalten (DEVEX 13.8.2020). Mitte Feber 2021 warnte die Gesundheitsministerin vor einer Rückkehr der Pandemie. Die Zahl an Neuinfektionen und Toten stieg an (Sahan 16.2.2021b). Ende Feber 2021 wurden alle Demonstrationen in Mogadischu verboten, da eine neue Welle von Covid-19 eingetreten war. Zwischen 1. und 24. Feber verzeichnete Somalia mehr als ein Drittel aller Covid-19-Todesopfer der gesamten Pandemie (PGN 2.2021, S. 16).

Die tatsächlichen Infektionszahlen sind aufgrund wenig verfügbarer bzw. erreichbarer Testmöglichkeiten, Stigma, wenig Vertrauen in Gesundheitseinrichtungen sowie teilweise der Leugnung von COVID-19 völlig unklar (UC 13.6.2021, S. 9). Testungen sind v.a. auf Städte beschränkt (UC 13.6.2021, S. 2) und generell so gut wie inexistent. Die offiziellen Todeszahlen sind niedrig, das wahre Ausmaß wird aber wohl nie wirklich bekannt werden (STC 4.2.2021). Die Zahl an Infektionen dürfte höher liegen, als offiziell bekannt. Viele potenziell Infizierte melden sich nicht, da sie eine gesellschaftliche Stigmatisierung fürchten (UNFPA 12.2020, S. 1). Auch, dass es in Spitälern kaum Kapazitäten für Covid-19-Patienten gibt, ist ein Grund dafür, warum viele sich gar nicht erst testen lassen wollen – ein Test birgt für die Menschen keinen Vorteil (DEVEX 13.8.2020).

Die informellen Zahlen zur Verbreitung von Covid-19 in Somalia und Somaliland sind also um ein Vielfaches höher als die offiziellen. Einerseits sind die Regierungen nicht in der Lage, breitflächig Tests (es gibt insgesamt nur 14 Labore) oder gar Contact-Tracing durchzuführen. Gleichzeitig behindern Stigma und Desinformation die Bekämpfung von Covid-19 in Somalia und Somaliland. Mit dem Virus geht eine Stigmatisierung jener einher, die infiziert sind, als infiziert gelten oder aber infiziert waren. Mancherorts werden selbst Menschen, die Masken tragen, als infiziert gebrandmarkt. Die Angst vor einer Stigmatisierung und die damit verbundene Angst vor ökonomischen Folgen sind der Hauptgrund, warum so wenige Menschen getestet werden. Es wird berichtet, dass z.B. Menschen bei (vormals) Infizierten nicht mehr einkaufen würden. IDPs werden vielerorts von der Gastgemeinde gemieden – aus Angst vor Ansteckung. Dies hat auch zum Verlust von Arbeitsplätzen – z. B. als Haushaltshilfen – geführt. Dabei fällt es gerade auch IDPs schwer, Präventionsmaßnahmen umzusetzen. Sie leben oft in Armut und in dicht bevölkerten Lagern, und es mangelt an Wasser (DEVEX 13.8.2020).

Somalia ist eines jener Länder, dass hinsichtlich des Umgangs mit der Pandemie die geringsten Kapazitäten aufweist (UNFPA 12.2020, S. 1). Humanitäre Partner haben schon im April 2020 für einen Plan zur Eindämmung von Covid-19 insgesamt 256 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt (UNSC 13.11.2020, Abs. 51). UNSOS unterstützt medizinische Einrichtungen, stellt Ausrüstung zur Bekämpfung der Pandemie zur Verfügung. Bis Anfang Juni konnten die UN und AMISOM eine substanzielle Zahl an Behandlungsplätzen schaffen (darunter auch Betten zur Intensivpflege) (UNSC 13.8.2020, Abs. 69). Trotzdem gibt es nur ein speziell für Covid-19-Patienten zugewiesenes Spital, das Martini Hospital in Mogadischu. Dieses ist unterbesetzt und schlecht ausgerüstet; von 150 Betten verfügen nur 11 über ein Beatmungsgerät und Sauerstoffversorgung (Sahan 25.2.2021c). In ganz Somalia und Somaliland gab es im August 2020 für Covid-Patienten nur 24 Intensivbetten (DEVEX 13.8.2020). Es gibt so gut wie keine präventiven Maßnahmen und Einrichtungen. Menschen, die an Covid-19 erkranken, bleibt der Ausweg in ein Privatspital – wenn sie sich das leisten können (Sahan 25.2.2021c). Der türkische Rote Halbmond hat Somalia im Feber 2021 weitere zehn Beatmungsgeräte zukommen lassen (AAG 26.2.2021). Im März 2021 spendete die Dahabshil Group dem Staat Sauerstoffverdichter, mit denen insgesamt 250 Patienten versorgt werden können. Die Firma übernimmt auch die technische Instandhaltung (Sahan 11.3.2021). Insgesamt bleiben Test- und Behandlungsmöglichkeiten für Covid-19-Infizierte aber beschränkt (UNFPA 12.2020, S. 1).

Nachdem die Bildungsinstitutionen ihreArbeit wieder aufgenommen hatten, sind nicht alle Kinder zurück in die Schule gekommen. Dies liegt an finanziellen Hürden, an der Angst vor einer Infektion, aber auch daran, dass Kinder zur Arbeit eingesetzt werden. Außerdem zeigt eine Studie aus Puntland, dass die Zahl an Frühehen zugenommen hat. Gleichzeitig wurden Immunisierungskampagnen und auch Ernährungsprogramme unterbrochen. Manche Gesundheitseinrichtungen sind teilweise nur eingeschränkt aktiv – nicht zuletzt, weil viele Menschen diese aufgrund von Ängsten nicht in Anspruch nehmen; der Patientenzustrom hat sich in der Pandemie verringert (UNFPA 12.2020, V-VI).

Remissen sind im Zuge der Covid-19-Pandemie zurückgegangen (IPC 3.2021, S. 2; vgl. UNFPA 12.2020). Eine Erhebung im November und Dezember 2020 hat gezeigt, dass 22% der städtischen, 12% der ländlichen und 6% der IDP-Haushalte Remissen beziehen. Die Mehrheit der Empfänger berichtete von Rückgängen von über 10% (IPC 3.2021, S. 2). Auch der Export von Vieh – der wichtigste Wirtschaftszweig – ist wegen der Pandemie zurückgegangen (UNFPA 12.2020, S. 1). Aus Somaliland hingegen wird berichtet, dass die Remissen im Jahr 2020 um 15 % auf 1,3 Milliarden US-Dollar angewachsen sind (SLP 7.4.2021).

Internationale und nationale Flüge operieren uneingeschränkt. Ankommende müssen am Aden Adde International Airport in Mogadischu und auch am Egal International Airport in Hargeysa einen negativen Covid-19-Test vorweisen, der nicht älter als drei Tage ist. Wie in Mogadischu mit Personen umgegangen wird, welche diese Vorgabe nicht erfüllen, ist unbekannt. In Hargeysa werden Personen ohne Test auf eigene Kosten in eine von der Regierung benannte Unterkunft zur zweiwöchigen Selbstisolation geschickt. Die Landverbindungen zwischen Dschibuti und Somaliland wurden wieder geöffnet, der Hafen in Berbera ist in Betrieb (GW 11.6.2021).

Restaurants, Hotels, Bars und Geschäfte sind offen, es gelten Hygienemaßnahmen und solche zum Social Distancing. Die Maßnahmen außerhalb Mogadischus können variieren. Es kann jederzeit geschehen, dass Behörden Covid-Maßnahmen kurzfristig verschärfen (GW 11.6.2021).

Quellen:

•        AAG - Anadolu Agency [Türkei] (26.2.2021): Turkish Red Crescent donates 10 ventilators to Somalia, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkish-red-crescent-donates-10-ventilators-to-somalia/215 8421 , Zugriff 1.3.2021

•        ACDC -African Union Center for Disease Control and Prevention (27.6.2021):Africa CDC Dashbord Covid-19, https://africacdc.org/covid-19/ , Zugriff 1.7.2021

•        DEVEX / Sara Jerving (13.8.2020): Stigma and weak systems hamper the Somali COVID-19 response, https://www.devex.com/news/stigma-and-weak-systems-hamper-the-somali-covid-19response-97895 , Zugriff 12.10.2020

•        GW - GardaWorld (11.6.2021): Somalia: Somalia: Authorities maintaining COVID-19 restrictions largely unchanged as of June 11 /update 13, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/489466/ somalia-authorities-maintaining-covid-19-restrictions-largely-unchanged-as-of-june-11-update-13 , Zugriff 1.7.2021

•        HIPS - The Heritage Institute for Policy Studies (2021): State of Somalia Report 2020, Year in Review, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/SOS-REPORT-2020-Final-2.pdf , Zugriff 12.2.2021

•        IPC - Integrated Food Security Phase (3.2021): Somalia – IPC Acute Food Insecurity and Acute Malnutrition Analysis January-June 2021, https://reliefweb.int/report/somalia/somalia-ipc-acute-f ood-insecurity-and-acute-malnutrition-analysis-january-june , Zugriff 9.3.2021

•        PGN - Political Geography Now (2.2021): Somalia Control Map & Timeline - February 2021, per e-Mail, mit Zugriffsberechtigung verfügbar auf: https://www.polgeonow.com/2021/02/somalia-cont rol-map-2021.html

•        PGN - Political Geography Now (10.2020): Somalia Control Map & Timeline - October 2020, per e-Mail, mit Zugriffsberechtigung verfügbar auf: https://www.polgeonow.com/2020/10/somalia-mapof-al-shabaab-control.html

•        RE - Radio Ergo (25.2.2021): No masks, gloves or oxygen in Mogadishu hospital, says grieving husband who lost pregnant wife to COVID19, https://radioergo.org/en/2021/02/25/no-masks-glove s-or-oxygen-in-mogadishu-hospital-says-grieving-husband-who-lost-pregnant-wife-to-covid19/ , Zugriff 10.3.2021

•        Sahan - Sahan / Mogadishu Times (11.3.2021): The Somali Wire Issue No. 100, per e-Mail, Originallink auf Somali: http://mogtimes.com/articles/41259/Sawirro-Dahabshiil-Group-oo-ka-jawaabt ay-baaqii-DF-kuna-wareejisay-Oxygen

•        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (25.2.2021c): Editor’s Pick – COVID-19 has not been prevented, it is used as a political weapon, in: The Somali Wire Issue No. 87, per e-Mail

•        Sahan - Sahan / Hiiraan Online (16.2.2021b): The Somali Wire Issue No. 83, per e-Mail, Originallink auf Somali: https://www.hiiraan.com/news/2021/Feb/wararka_maanta15-176705.htm

•        SLP - Somaliland Post (7.4.2021): Somaliland: WorldRemit founder launches Sahamiye Foundation to tackle the Country’s development challenges, https://somalilandpost.net/somaliland-worldremit-founder-launches-sahamiye-foundation-to-tackle-the-countrys-development-challenges/ , Zugriff 13.4.2021

•        STC - Safe the Children (4.2.2021): 840,000 children going hungry as Somalia declares state of emergency over locust invasion, https://www.savethechildren.net/news/840000-children-going-h ungry-somalia-declares-state-emergency-over-locust-invasion , Zugriff 3.3.2021

•        UC - University of Cambridge (13.6.2021): Lockdowns, lives and livelihoods: the impact of COVID19 and public health responses to conflict affected populations - a remote qualitative study in Baidoa and Mogadishu, Somalia, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/s13031-021-00382 -5.pdf , Zugriff 30.6.2021

•        UNFPA - UN Population Fund (12.2020): COVID-19 Socio-Economic Impact Assessment for Puntland, https://somalia.unfpa.org/en/publications/covid-19-socio-economic-impact-assessment-punt land , Zugriff 11.3.2021

•        UNSC - UN Security Council (19.5.2021): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2021/485], https://www.ecoi.net/en/file/local/2052226/S_2021_485_E.pdf , Zugriff 21.6.2021

•        UNSC - UN Security Council (13.11.2020): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2020/1113], https://www.ecoi.net/en/file/local/2041334/S_2020_1113_E.pdf , Zugriff 2.12.2020

•        UNSC - UN Security Council (13.8.2020): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2020/798], https://www.ecoi.net/en/file/local/2036555/S_2020_798_E.pdf , Zugriff 9.10.2020

2. Politische Lage in Süd-/Zentralsomalia und Puntland

Letzte Änderung: 07.07.2021

Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird (AA 18.4.2021, S. 4f). Während Süd/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (BS 2020, S. 4).

Staatlichkeit: Somalia hat bei der Bildung eines funktionierenden Bundesstaates Fortschritte erzielt (UNSC 15.5.2019, Abs. 78), staatliche und regionale Regierungsstrukturen wurden etabliert (ISS 28.2.2019). Somalia hat in den vergangenen Jahren auf vielen Gebieten große Fortschritte erzielt. Der Staat ist etwa bei Steuereinnahmen effektiver geworden. Junge Somalis und Angehörige der Diaspora sind in der Zivilgesellschaft aktiv, und Mogadischu selbst hat sich stark verändert (BBC 18.1.2021). Somalia ist damit zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind sehr schwach, es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt (AA 18.4.2021, S. 4f). Die Regierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen (FH 3.3.2021a, C1). Das Land befindet sich immer noch mitten im Staatsbildungsprozess (BS 2020, S. 33). Die Regierung ist bei der Umsetzung von Aktivitäten grundsätzlich stark von internationalen Institutionen und Geberländern abhängig (FH 3.3.2021a, C1). Eigentlich sollte die Bundesregierung auch die Übergangsverfassung noch einmal überarbeiten, novellieren und darüber ein Referendum abhalten. Dieser Prozess ist weiterhin nicht abgeschlossen (USDOS 30.3.2021, S. 23). Generell sind drei entscheidende Punkte abzuarbeiten: die Überarbeitung der Verfassung; der Aufbau der föderalen Architektur; und die Entwicklung eines angemessenen Wahlsystems. Der Stillstand zu Anfang des Jahres 2021 ist das Ergebnis des Versagens der Regierung Farmaajo, auch nur einen dieser Punkte zu lösen (ECFR 16.2.2021).

Regierung: Die Präsidentschaftswahl fand im Feber 2017 statt. Die beiden Parlamentskammern wählten den früheren Premierminister Mohamed Abdullahi Mohamed „Farmaajo“ zum Präsidenten (AA 18.4.2021, S. 6; vgl. ÖB 3.2020, S. 2; USDOS 30.3.2021, S. 1/23). Seine Wahl wurde als fair und transparent erachtet (USDOS 30.3.2021, S. 1). Premierminister Hassan Ali Kheyre wurde mit einem Misstrauensvotum des Parlaments am 25.7.2020 seines Amtes enthoben (UNSC 13.8.2020, Abs. 5). Im September 2020 wurde Mohamed Hussein Roble als neuer Premierminister angelobt (UNSC 13.11.2020, Abs. 6). Seit Feber 2021 regiert Farmaajo ohne Mandat, seine Amtszeit ist abgelaufen (TNH 20.5.2021). Insgesamt verfügt die Regierung in der eigenen Bevölkerung und bei internationalen Partnern nur über wenig Glaubwürdigkeit. Das Vertrauen in den Staat ist gering (BS 2020, S. 34/40).

Parlament: Die beiden Kammern des Parlaments wurden mittels indirekter Wahlen durch ausgewählte Älteste Anfang 2017 besetzt (USDOS 30.3.2021, S. 1/23). Über 14.000 Wahlmänner und -frauen waren an der Wahl der 275 Abgeordneten beteiligt (AA 18.4.2021, S. 6; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 23). Beide Häuser wurden also in indirekten Wahlen besetzt, das Unterhaus nach Clanzugehörigkeit. Die Wahlen zu beiden Häusern wurden generell als von Korruption durchsetzt und geschoben erachtet (USDOS 30.3.2021, S. 1/23). Sie wurden von Schmiergeldzahlungen, Einschüchterungen, Stimmenkauf und Manipulation begleitet (BS 2020, S. 11). Dieses Wahlsystem ist zwar noch weit von einer Demokratie entfernt und unterstreicht die Bedeutung der politischen Elite (BS 2020, S. 20). Trotz allem waren die Parlamentswahlen ein bemerkenswerter demokratischer Fortschritt (AA 18.4.2021, S. 6; vgl. BS 2020, S. 20). Insgesamt erfolgte die Zusammensetzung des Unterhauses entlang der 4.5-Formel, wonach den vier Hauptclans jeweils ein Teil der Sitze zusteht, den kleineren Clans und Minderheiten zusammen ein halber Teil (USDOS 30.3.2021, S. 26f; vgl. ÖB 3.2020, S. 3; BS 2020, S. 11). Auch die Regierung ist entlang dieser Formel organisiert (ÖB 3.2020, S. 3). Insgesamt wird das Parlament durch Stimmenkauf entwertet, und es hat auf die Tätigkeiten von Präsident und Premierminister wenig Einfluss (BS 2020, S. 20).

Demokratie: Seit 1969 wurde in Somalia keine Regierung mehr direkt gewählt (FP 10.2.2021). Somalia ist keine Wahldemokratie und hat auch keine strikte Gewaltenteilung, auch wenn die Übergangsverfassung eine Mehrparteiendemokratie und Gewaltenteilung vorsieht (BS 2020, S. 11/15). Es gibt keine freien und fairen Wahlen auf Bundes- (USDOS 30.3.2021, S. 23f) und auch keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler oder regionaler Ebene. Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft hilfsweise unter Einbeziehung nicht demokratisch legitimierter traditioneller Strukturen (v.a. Clanstrukturen) vergeben (AA 18.4.2021, S. 6). 2016 und 2017 konnten mit der Gründung der Bundesstaaten und einem relativ demokratischen Machtwechsel wichtige Weichen in Richtung Demokratisierung, legitimer Staatsgewalt und Föderalismus gestellt werden (AA 18.4.2021, S. 4). Die errungenen Fortschritte wurden von der Regierung Farmaajo allerdings weitgehend rückgängig gemacht (ECFR 16.2.2021).

Für 2021 vorgesehene Wahlen wurden zuerst verschoben (UNSC 13.8.2020, Abs. 7), bis es im September 2020 hinsichtlich des Prozederes zu einer Einigung mit den Bundesstaaten kam. Das vereinbarte Modell entsprach in etwa jenem von 2016. Dabei werden von Ältesten, Bundesstaaten und Vertretern der Zivilgesellschaft Wahldelegierte ausgesucht, welche wiederum die einzelnen Parlamentsabgeordneten wählen. Pro Abgeordnetem sollen 101 Wahlmänner und -Frauen ausgewählt werden (2016: 51). Statt der National Independent Electoral Commission soll die Wahl von sogenannten Electoral Implementation Committees (EIC) umgesetzt werden. Die Abgeordneten zum Oberhaus werden von den Parlamenten der Bundesstaaten ausgewählt (UNSC 13.11.2020, Abs. 2f; vgl. FP 10.2.2021). Neben einem 25köpfigen EIC des Bundes sollte zusätzlich in jedem Bundesstaat ein eigenes elfköpfiges EIC eingesetzt werden (UNSC 13.11.2020, Abs. 21). Dieses Modell war von allen relevanten politischen Stakeholdern, von Parteien und Vertretern der Zivilgesellschaft vereinbart und vom Bundesparlament ratifiziert worden (UNSC 13.11.2020, Abs. 88).

Aktuelle Politische Lage: Allerdings hatte sich um die Bestellung der Mitglieder dieser EICs ein neuer Konflikt entsponnen (FP 10.2.2021). Präsident Farmaajo war schließlich nicht in der Lage, sich mit Ahmed Madobe, Präsident von Jubaland, und Said Deni, Präsident von Puntland, auf die Umsetzung des im September 2020 vereinbarten Fahrplans für Neuwahlen zu einigen (IP 12.2.2021; vgl. FP 10.2.2021). Und so ist das Mandat des Parlaments im Dezember 2020 ausgelaufen (SG 8.2.2021), jenes von Präsident Farmaajo formell am 8.2.2021 (IP 12.2.2021; vgl. ECFR 16.2.2021). Damit verfügte Somalia im Feber 2021 plötzlich über keine legitime Regierung mehr, und Präsident Farmaajo weigerte sich sein Amt abzugeben (ECFR 16.2.2021).

Die Präsidenten von Puntland und Jubaland (FP 10.2.2021; vgl. Sahan 22.2.2021) sowie eine Allianz aus 14 Präsidentschaftskandidaten, darunter die ehemaligen Präsidenten Hassan Sheikh Mohamed und Sharif Sheikh Ahmed, haben Farmaajo danach nicht mehr als Präsidenten anerkannt (Sahan 9.2.2021b; vgl. IP 12.2.2021, FP 10.2.2021). Somalia stürzte in eine schwere Verfassungs- und politische Krise (Sahan 9.2.2021a). Dabei hat das Versagen, einen Kompromiss zu finden, nicht nur den demokratischen Prozess unterminiert, es hat die Sicherheit Somalias vulnerabel gemacht (FP 10.2.2021). Denn al Shabaab hat sich die politische Krise zu Nutzen gemacht und die Angriffe seit Anfang 2021 verstärkt (IP 12.2.2021).

Ende Feber und Anfang März 2021 wurden neuerliche Verhandlungen über eine Umsetzung des beschlossenen Wahlsystems angesetzt – auf Druck der internationalen Gemeinschaft (AMISOM 3.3.2021; vgl. UNSOM 2.3.2021). Die Verhandlungen verliefen ohne Ergebnis. Daraufhin hat das parlamentarische Unterhaus ein Gesetz verabschiedet, mit welchem die Legislaturperiode des Parlaments und auch die Amtszeit des Präsidenten um zwei Jahre verlängert wurden. Das National Salvation Forum - eine Allianz der Präsidentschaftskandidaten und der Präsidenten von Puntland und Jubaland - hat diesen Vorgang scharf zurückgewiesen. In der Folge kam es in Mogadischu zwischen Kräften der Regierung und Kräften der Opposition am 25.4.2021 zu Kampfhandlungen. Am 1.5.2021 wurde das Gesetz schließlich vom Parlament zurückgezogen und man kehrte zum Abkommen vom September 2020 zurück. Neuer Verantwortlicher für die Umsetzung der Wahlen ist nun Premierminister Roble. Dieser hat in Verhandlungen mit der Allianz der Präsidentschaftskandidaten am 5.5.2021 eine Einigung zur Entflechtung [Disengagement] bzw. zum Rückzug der jeweiligen bewaffneten Kräfte in ihre Stützpunkte erzielt (UNSC 19.5.2021, Abs. 3-11). Ende Mai 2021 wurden - nach enormem nationalen und internationalen Druck - Verhandlungen wieder aufgenommen. Maßgeblich verantwortlich dafür war wieder Premierminister Roble (TNH 20.5.2021). Am 27.5.2021 wurde eine Einigung verkündet, demnach sollen die Wahlen im Sommer 2021 stattfinden (BAMF 31.5.2021). Nach neueren Angaben sind die Präsidentschaftswahlen für den 10.10.2021 angesetzt (TSD 29.6.2021). Nun stolpert das Land also in Richtung eines stark verzögerten und komplexen Wahlvorganges, der wieder von Clanältesten getragen werden wird (BBC 31.5.2021). Derweil höhlt al Shabaab den immer noch angeschlagenen Staat in Somalia aus (ACCORD 31.5.2021, S. 8).

Föderalisierung: Auch wenn die Entscheidung zur Föderalisierung umstritten war, und die Umsetzung von Gewalt begleitet wurde, konnten neue Bezirks- und Regionalverwaltungen etabliert werden. Neben Puntland wurden in den letzten Jahren vier neue Bundesstaaten geschaffen: Galmudug, Jubaland, South-West State (SWS) und HirShabelle. Somaliland wird als sechster Bundesstaat erachtet (BS 2020, S. 10; vgl. AI 13.2.2020, S. 13). Offen sind noch der finale Status und die Grenzen der Hauptstadtregion Benadir/Mogadischu (Banadir Regional Administration/BRA) (AI 13.2.2020, S. 13). Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clanbalance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (BFA 8.2017, S. 55f).

Grundsätzlich gibt es politische Uneinigkeit über die Frage, ob Bundesstaaten semi-autonom sein sollen oder ob mehr Macht bei der Bundesregierung zentralisiert sein soll (ISS 15.12.2020). Zahlreiche Befugnisse wurden nicht geklärt. Das betrifft die Verteidigung, welche militärischen Truppen und Polizeieinheiten vor Ort eingesetzt werden können, die Frage der Ressourcenverteilung, die Verteilung von internationalen Hilfsgeldern. Auch Entwicklungszusammenarbeitsprojekte werden über die Zentralregierung in Mogadischu abgewickelt, und die Verteilung auf die Regionen ist strittig, ebenso die Fragen, wer welche „Hoheiten“ über welche Verträge hat (ACCORD 31.5.2021, S. 4).

Generell versuchte Farmaajo die Macht wieder zu zentralisieren (TNYT 14.4.2021). Dass in vier der fünf Bundesstaaten im Zeitraum 2018-2019 eine neue Führung gewählt werden sollte, sah die Bundesregierung als Chance, sich durch die Platzierung loyaler Präsidenten Einfluss zu verschaffen. Dementsprechend mischte sich die Bundesregierung in die Wahlen ein (HIPS 2020, S.1/4ff; vgl. ECFR 16.2.2021). So hat etwa der Geheimdienst NISA die Zusammensetzung von Wahlversammlungen manipuliert (TNYT 14.4.2021). Zudem hat sie Truppen entsendet, um die politische Kontrolle zu erlangen (ECFR 16.2.2021). Die Präsidenten von HirShabelle, dem SWS und von Galmudug gelten nunmehr als der somalischen Bundesregierung freundlich gesinnt (Sahan 11.2.2021b). Schließlich hat Farmaajo Somalia aber an den Rand eines institutionellen Kollaps’ geführt (ECFR 16.2.2021).

Bei der Auseinandersetzung zwischen Bundesregierung und Bundesstaaten kommt u. a. die Krise am Golf zu tragen: Der Konflikt zwischen den Vereinten Arabischen Emiraten (VAE) – unterstützt von Saudi-Arabien – und Katar – unterstützt von der Türkei – wurde auch nach Somalia exportiert und trägt dort erheblich zur Vertiefung der Spaltung bei (BS 2020, S. 41). Zudem leidet AMISOM an den Spannungen zwischen der Bundesregierung und dem Nachbarland Kenia sowie am Konflikt in Äthiopien – beide Staaten sind Truppensteller (ISS 15.12.2020).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (18.4.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2050118/Ausw%C3%A4rti ges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesr epublik_Somalia_%28Stand_Januar_2021%29%2C_18.04.2021.pdf , Zugriff 23.4.2021

•        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf , Zugriff 28.6.2021

•        AI - Amnesty International (13.2.2020): „We live in perpetual fear“: Violations and Abuses of Free-dom of Expression in Somalia [AFR 52/1442/2020], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024685/A FR5214422020ENGLISH.PDF , Zugriff 25.2.2020

•        AMISOM (3.3.2021): 3 March 2021 - Morning Headlines, Newsletter per E-Mail, Originallink auf Somali: https://puntlandpost.net/2021/03/01/guddiga-doorashooyinka-oo-ka-hadlay-ismari-waaga -doorashada/

•        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (31.5.2021): Briefing Notes,https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw22-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 21.6.2021

•        BBC - BBC News (31.5.2021): Somaliland elections: Could polls help gain recognition? https: //www.bbc.co.uk/news/world-africa-57255602 , Zugriff 21.6.2021

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•        Sahan - Sahan / Rashid Abdi (22.2.2021): Editor’s Pick – A tell-all speech by Puntland’s Deni, in: The Somali Wire Issue No. 87, per e-Mail

•        Sahan - Sahan / Puntland Times (11.2.2021b): The Somali Wire Issue No. 80, per e-Mail, Originallink auf Somali: https://puntlandtimes.ca/2021/02/maamulada-taageersan-dowladda-oo-aanweli-ka-hadlin-shirkii-farmaajo-ku-baaqay-ee-garoowe/

•        Sahan - Sahan / Matt Bryden (9.2.2021a): Editor’s Pick - Ku Qabso ku Qadi Mayside, in: The Somali Wire Issue No. 78, per e-Mail

•        Sahan - Sahan / Keydmedia (9.2.2021b): The Somali Wire Issue No. 78, per e-Mail, Originallink auf Somali: https://www.keydmedia.net/news/farmaajo-wuxuu-da

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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