Entscheidungsdatum
12.11.2021Norm
AsylG 2005 §55 Abs1Spruch
W136 1429139-2/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Brigitte HABERMAYER-BINDER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.07.2018, Zl. 820325403 - 161235782, zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben, der bekämpfte Bescheid ersatzlos behoben und XXXX gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 12.11.2023 erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, reiste illegal in Österreich ein und stellte am 18.03.2012 einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz.
2. Mit Bescheid vom 23.08.2012, Zl. 12 03.254-BAL, wies das Bundesasylamt den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 23.08.2013 erteilt (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde diesbezüglich ausgeführt, dass angesichts seines nicht nachvollziehbaren und unglaubhaften Fluchtvorbringens nicht festgestellt werden könne, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan eine Verfolgung oder Bedrohung zu befürchten hätte. Zur Situation im Fall einer Rückkehr wurde festgehalten, dass der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer aufgrund der allgemeinen Lage in Afghanistan eine befristete Aufenthaltsberechtigung erhalte. Im Übrigen stellte die belangte Behörde fest, dass die Familie des Beschwerdeführers (seine Eltern sowie seine Großeltern mütterlicherseits (ms), fünf Onkel ms, fünf Onkel väterlicherseits (vs), sowie eine Tante ms) noch in Afghanistan leben würde.
3. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der Beschwerdeführer eine Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, welche mit Erkenntnis vom 09.04.2015, Zl. W154 1429139-1/11E, als unbegründet abgewiesen wurde.
4. Am 25.08.2014 erfolgte eine Berichterstattung durch die Landespolizeidirektion Oberösterreich, wonach der Beschwerdeführer des Raufhandels (§ 91 StGB) und der Sachbeschädigung (§ 125 StGB) verdächtigt wurde.
5. In der Folge stellte der Beschwerdeführer mehrere Anträge (zuletzt am 09.09.2016) auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung, welchen allesamt stattgegeben wurde.
6. Mit Abschlussbericht vom 31.08.2016 teilte die Landespolizeidirektion Oberösterreich dem BFA mit, dass der Beschwerdeführer der Schweren Nötigung (§ 106 StGB) verdächtigt werde.
7. Dem letzten Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vom 09.09.2016 wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 18.09.2017 stattgegeben und dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 23.08.2018 erteilt. Begründend wurde darin ausgeführt, dass aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers iVm seinem Vorbringen bzw. seinem Antrag das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung als glaubwürdig gewertet werden würde.
8. Am 07.06.2018 wurde der Beschwerdeführer über die Einleitung eines Aberkennungsverfahrens informiert und er zu einer Einvernahme vor dem BFA geladen.
9. Im parallel eingeleiteten Einreiseverfahren der Familienmitglieder des Beschwerdeführers wurde der Österreichischen Botschaft Islamabad am 07.06.2018 mitgeteilt, dass zurzeit keine Wahrscheinlichkeitsprognose betreffend die Einreiseanträge der Familienmitglieder des Beschwerdeführers abgegeben werden könne.
10. Daraufhin wurde der Beschwerdeführer vom BFA am 26.06.2018 unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari einvernommen und insbesondere hinsichtlich seiner Familienverhältnisse sowie seinem Leben in Österreich und seiner Familie im Herkunftsland befragt.
Dabei brachte er im Wesentlichen (Großteils in gutem Deutsch) vor, dass er 5 ½ Jahre eine Freundin gehabt hätte, mit der er zwei Kinder habe. Er lebe nunmehr getrennt von ihr, aber sie hätten ein gutes Verhältnis. Die Obsorge für die Kinder liege derzeit beim Jugendamt. Er treffe sie zwei- bis dreimal im Monat und habe jeden Tag telefonischen Kontakt zu ihnen und beabsichtige die Obsorge zu bekommen. Er zahle derzeit € 580,00 Unterhalt für die Kinder. In seiner Freizeit gehe er ins Jugendzentrum und in die Kirche und am Wochenende habe er ein Fußballmatch, von seinem Verein, in dem er seit 2013 Mitglied sei. Seine Freunde würden alle aus Österreich oder Deutschland stammen, afghanische Freunde hätte er nicht so viele. Er gehe seit sieben Monaten auch einer ehrenamtlichen Tätigkeit beim Roten Kreuz nach. Er sei berufstätig und arbeite als Hilfsarbeiter bei einer Estrichfirma, regelmäßig von 06:00 Uhr bis 16 Uhr. Dort verdiene er € 1.600,00 netto plus Überstunden. Befragt nach seiner Familie im Herkunftsland gab der Beschwerdeführer an, dass er noch Verwandte in Afghanistan habe. Seine Geschwister, seine Eltern und sein Onkel seien noch in Afghanistan, jedoch nicht mehr in deren Heimatprovinz Baghlan. Sie würden sich den Lebensunterhalt durch Hilfsarbeiten auf Baustellen und als Verkäufer verdienen. Mit seinen Eltern und seinen Geschwistern habe er regelmäßigen Kontakt übers Telefon oder über Facebook. Ein noch minderjähriger Bruder von ihm sei auch als subsidiär Schutzberechtigter in Österreich aufhältig und er würde ihn jedes Wochenende treffen. Auf den Vorhalt, wonach beabsichtigt sei, dem Beschwerdeführer den Status eines subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen, da die Gründe für eine Zuerkennung nicht mehr vorliegen würden, entgegnete dieser, dass er ohnehin vorgehabt hätte, zum Magistrat zu gehen, um eine Niederlassungsbewilligung zu beantragen, bis dato aber keine Zeit gehabt hätte.
Gleichzeitig legte der Beschwerdeführer einen von ihm verfassten Lebenslauf über seine Ausbildung und seinen beruflichen Werdegang vor. Mit E-Mail vom 29.06.2018 reichte der Beschwerdeführer die Bestätigung seines Arbeitgebers, wonach der Beschwerdeführer seit 25.06.2018 in diesem Unternehmen als Bodenleger-Helfer beschäftigt sei, die Geburtsurkunden seiner beiden Kinder, aus denen jeweils die Vaterschaft des Beschwerdeführers hervorgeht, sowie einen Ausdruck aus der Vereinsseite seiner Fußballmannschaft, die ihm seine Mitgliedschaft nachweist, vor.
11. Am 02.07.2018 übermittelte die Landespolizeidirektion Oberösterreich dem BFA einen Abschlussbericht, wonach der Beschwerdeführer des Vergehens des unbefugten Gebrauches von Fahrzeugen (§ 136 StGB) verdächtigt werde. Er habe am 18.06.2018 den Fahrzeugschlüssel eines zweirädrigen Kraftfahrzeuges vom Wohnzimmertisch des Berechtigten ohne Einwilligung entwendet und zur Fahrt im Ortsgebiet gebraucht, woraufhin er in Folge von der Verkehrsinspektion angehalten worden sei. Der Beschwerdeführer sei geständig gewesen und das Fahrzeug am Anhalteort versperrt abgestellt worden. Der Eigentümer sei daraufhin verständigt worden und hätte den Schlüssel und das Fahrzeug wieder abgeholt. Dadurch wurde der Beschwerdeführer wegen diverser Verwaltungsübertretungen (FSG, StVO und KFG) im VStV erfasst und diese zur Anzeige gebracht.
12. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 10.07.2018 wurde der dem Beschwerdeführer mit Bescheid des Bundesaslyamtes vom 23.08.2012 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und ihm die mit Bescheid des BFA vom 18.09.2017 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Weiters wurde festgestellt, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig sei und dem Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs. 1 AsylG eine Aufenthaltsberechtigung plus erteilt (Spruchpunkt IV.)
Der bekämpfte Bescheid wurde hinsichtlich der Spruchpunkte I. – II. im Wesentlichen damit begründet, dass der Beschwerdeführer den Status eines subsidiär Schutzberechtigten lediglich aufgrund seiner damaligen Minderjährigkeit und der zum damaligen Zeitpunkt herrschenden Sicherheitslage in seiner Herkunftsprovinz in Afghanistan zuerkannt worden sei. Da er nun volljährig sei, würden die Voraussetzungen für eine Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorliegen. Es könne nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr eine konkrete Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan zu befürchten hätte. Ebensowenig habe festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Falle der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer verfüge über berufstätige Angehörige in Afghanistan, sodass nach der Rückkehr des Beschwerdeführers familiäre Anknüpfungspunkte bestehen würden und er zumindest für die erste Zeit finanzielle Unterstützung von seinen Verwandten erhalten könnte, mit denen er in Kontakt stehe. Er könne seine grundlegenden Bedürfnisse auch durch selbstständige Arbeit decken, zumal er gesund sei und Schulbildung sowie Berufserfahrung aufweise. Im Falle des Beschwerdeführers würde eine relevante Gefährdungslage in Bezug auf seine unmittelbare Heimatprovinz Baghlan, nicht aber Afghanistan allgemein, vorliegen. Eine Rückkehr in seine Heimatregion Baghlan sei aufgrund der Sicherheitslage nicht möglich. Es sei ihm jedoch durchaus zumutbar, sich in einer sicheren Gegend wie Kabul niederzulassen und der Beschwerdeführer könne dort auch seinen Lebensunterhalt selbstständig verdienen. Es könne daher nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Kabul Gefahr laufen würde, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse nicht befriedigen zu können und in eine auswegslose bzw. existenzbedrohende Lage zu geraten. Zudem habe der Beschwerdeführer bei seiner Einvernahme am 26.06.2018 keine Beanstandungen gegen ein Aberkennungsverfahren und die Gründe dafür gemacht. Es würde somit im Fall des Beschwerdeführers eine wesentliche und dauerhafte Veränderung der Umstände vorliegen, weshalb dieser nicht mehr auf den Schutz des subsidiär Schutzberechtigten angewiesen sei.
13. Gegen Spruchpunkt I. und II. dieses Bescheides erhob der Beschwerdeführer durch seine ihm damals zur Seite gestellten Rechtsberatung fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten rechtswidrig erfolgt sei, da die belangte Behörde ihrer Entscheidung unzureichende Länderfeststellungen zu Grunde gelegt, eine mangelhafte Beweiswürdigung durchgeführt und eine unrichtige rechtliche Beurteilung getroffen habe.
Der Ansicht der belangten Behörde, wonach der Beschwerdeführer nach Kabul zurückkehren könnte, müsse widersprochen werden, zumal sich der Beschwerdeführer seit seiner Kindheit nicht mehr dort aufgehalten habe. Der Beschwerdeführer lebe bereits seit mehr als sechs Jahren in Österreich. Er habe seinen Lebensmittelpunkt und seine Familie in Österreich. Deshalb sei auch von der belangten Behörde die Rückkehrentscheidung für dauerhaft unzulässig erklärt und dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltsberechtigung nach § 55 AsylG zuerkannt worden. Die belangte Behörde gehe somit davon aus, dass die Bindungen des Beschwerdeführers zu Österreich gegenüber jenen zu Afghanistan überwiegen. Sofern die belangte Behörde anführe, dass sich der Beschwerdeführer in Kabul ein neues Leben aufbauen könne und auch über ein soziales Netzwerk in Afghanistan verfügen würde, sei auf die angeführten Länderberichte zu verweisen, die darlegen, dass die Sicherheitslage sowie die humanitäre Situation in Afghanistan und insbesondere in Kabul katastrophal sei. Wenn angeführt werde, dass der Beschwerdeführer als gesunder, arbeitsfähiger Mann selbst ohne die Unterstützung seiner Verwandten in Afghanistan sich den Lebensunterhalt finanzieren könnte, werde darauf verwiesen, dass er – wie auch die belangte Behörde festgestellt habe – nicht nach Baghlan zurückkehren könne. Zudem sei er schiitischer Hazara, der lange Zeit im Ausland gelebt habe, überall in Afghanistan Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt. In Kabul habe der Beschwerdeführer nie gelebt und verfüge auch über kein soziales Netzwerk, sodass er sich dort keine Existenz aufbauen könne. Somit würde der Beschwerdeführer binnen kurzer Zeit in eine hoffnungslose Notlage geraten. Keine der Voraussetzungen zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten iSd § 9 AsylG würde im Falle des Beschwerdeführers vorliegen. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung des vom Beschwerdeführer erstatteten Vorbringens in Zusammenschau mit aktuellen Länderberichten hätte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht aberkennen dürfen.
14. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom BFA vorgelegt und sind am 20.08.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.
15. Am 18.10.2018 erging am Landesgericht XXXX ein Abwesenheitsurteil zu XXXX , mit dem der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs. 1 und 2 StGB schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Wochen verurteilt wurde, welche ihm unter Einhaltung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die zulässige Beschwerde erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu Person und Rückkehrmöglichkeit des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Weiters spricht er gut Deutsch.
Er wurde am XXXX in Afghanistan (Baghlan) geboren und hat bis zu seiner Ausreise im Jahr 2011 dort gelebt und hat dort acht Jahre lang die Schule besucht. Von dort ist er zunächst in den Iran und dann mittels Schlepper weiter illegal nach Österreich gereist.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich zwei leibliche Kinder mit seiner österreichischen Ex-Lebensgefährtin. Einen Sohn, XXXX , geb. am XXXX in XXXX sowie eine Tochter XXXX , geb. am XXXX in XXXX .
Er lebt getrennt von der Mutter seiner Kinder, pflegt jedoch ein gutes Verhältnis zu ihr. Der Beschwerdeführer bezahlt Unterhalt für seine Kinder und trifft sie zwei- bis dreimal im Monat bzw hat jeden Tag telefonischen Kontakt zu ihnen.
In seiner Freizeit geht er ins Jugendzentrum und in die Kirche und am Wochenende spielt er Fußballmatches mit seinem Verein, in dem er seit 2013 Mitglied ist.
Er hat viele Freunde, die aus Österreich und Deutschland stammen und wenige afghanische Freunde.
Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und berufstätig. Er arbeitet seit 25.06.2018 als Hilfsarbeiter bei einer Estrichfirma, regelmäßig von 06:00 Uhr bis 16:00 Uhr, wo er ca. € 1.600,00 netto plus Überstunden verdient. Außerdem ist er einer ehrenamtlichen Tätigkeit beim Roten Kreuz nachgegangen.
Ein Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , lebt als subsidiär Schutzberechtigter in Österreich. Er steht mit ihm im guten Kontakt und sie treffen einander regelmäßig an den Wochenenden.
Der Beschwerdeführer hat noch Verwandte in Afghanistan. Seine Geschwister, seine Eltern und sein Onkel sind noch in Afghanistan, jedoch nicht mehr in deren Heimatprovinz Baghlan. Sie verdienen sich den Lebensunterhalt durch Hilfsarbeiten auf Baustellen und als Verkäufer. Er habe mit seinen Eltern und seinen Geschwistern regelmäßigen Kontakt übers Telefon oder über Facebook.
Es konnte jedoch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer über ein derart tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk in Afghanistan verfügt, welches – im Hinblick auf die aktuelle Lage im Herkunftsstaat und der damit einhergehenden Notlage der Menschen Vorort – in der Lage und willens ist, den Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan ausreichend zu unterstützen.
Der Beschwerdeführer ist gesund und leidet an keinen lebensbedrohenden Krankheiten.
Er ist strafrechtlich folgendermaßen in Erscheinung getreten:
Die unter I. 4. (Raufhandel/Sachbeschädigung) und 6. (Schwere Nötigung) angeführten Anzeigen führten zu keiner Verurteilung des Beschwerdeführers und sind lediglich im kriminalpolizeilichen Aktenindex (KPA) vermerkt.
Mit rechtskräftigem (Abwesenheits-)Urteil des Landesgerichtes XXXX , vom 18.10.2018, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs. 1 und 2 StGB schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Wochen verurteilt, welche ihm unter Einhaltung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde.
Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
Am 18.06.2018 hat der Beschwerdeführer den im Wohnzimmer am Fernsehtisch des Berechtigten deponierten Fahrzeugschlüssel für das zweirädrig betriebene Kleinkraftrad des Berechtigten widerrechtlich an sich genommen und hat sich zu dem am Parkplatz der Wohnanlage abgestellten Motorrad begeben und dieses gestartet. Ohne Einwilligung des Berechtigten ist er daraufhin im Stadtgebiet XXXX umhergefahren. Der Beschwerdeführer hat es daher für möglich gehalten und sich damit abgefunden, ein Fahrzeug, das zum Antrieb mit Maschinenkraft eingerichtet ist, ohne Einwilligung des Berechtigten in Gebrauch zu nehmen, wobei er billigend in Kauf genommen hat, dass er sich die Gewalt über das Fahrzeug mit einem widderrechtlich erlangten Schlüssel verschaffte.
Das Landesgericht XXXX stellte nichts als erschwerend und als mildernd den bisher ordentlichen Lebenswandel und die geständige Verantwortung des Beschwerdeführers fest.
Aufgrund der Unbescholtenheit bedurfte es aus spezialpräventiven Erwägungen nicht den Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe und wurde diese unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen.
Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom 10.07.2018 wurde dem Beschwerdeführer der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.08.2012 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen aberkannt und ihm die zuletzt mit Bescheid vom 18.09.2017 bis zum 23.08.2018 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen.
Wie sich aus den aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan ergibt, hat sich die Sicherheitslage in dem Land in der jüngeren Vergangenheit massiv verschlechtert. Die im angefochtenen Bescheid als innerstaatliche Fluchtalternative angenommene Hauptstadt Kabul wurde am 15.08.2021 von den Taliban eingenommen (vgl. https://www.bbc.com/news/world-58232525; https://orf.at/stories/3225011/; jeweils eingesehen am 11.10.2021). Beinahe sämtliche Distrikte Afghanistans werden mit Stand 03.11.2021 von den Taliban kontrolliert, die übrigen Distrikte sind umkämpft (vgl. https://www.longwarjournal.org/mapping-taliban-control-in-afghanistan, eingesehen am 03.11.2021).
Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Beschwerdeführers und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan (einschließlich der urbanen Gebiete, insbesondere Kabul, Herat und Mazar-e-Sharif) konnte nicht festgestellt werden, dass sich die Umstände, die zur Gewährung subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid des Bundesasylamts vom 23.08.2012 derart wesentlich und nachhaltig verändert haben, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorlägen.
1.2. Zur Lage in Afghanistan
1.2.1. Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation aus dem COI-CMS (Version 5 vom 16.09.2021, generiert am 03.11.2021).
Sicherheitslage
Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]
Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).
Vorfälle am Flughafen Kabul
Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).
Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 1.9.2021; vgl. BBC 30.8.2021). Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021).
Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021).
Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefägnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021): Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021).
Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Die Sicherheitslage im Jahr 2020
Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielte nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).
Zivile Opfer vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Zwischen dem 1.1.2021 und dem 30.6.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 5.183 zivile Opfer (1.659 Tote und 3.524 Verletzte). In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres dokumentierte UNAMA fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte (UNAMA 26.7.2021). Im gesamten Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das war ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).
Obwohl ein Rückgang von durch regierungsfeindliche Elemente verletzte Zivilisten im Jahr 2020 festgestellt werden konnte, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, so gab es einen Anstieg an zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch Opfern von aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (VBIEDs) (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021). Auch im Jahr 2021 kommt es weiterhin zu Angriffen und gezielten Tötungen von Zivilisten. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (AP 15.6.2021; vgl. VOA 15.6.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.6.2021; vgl. AJ 16.6.2021).
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).
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High Profile Attacks (HPAs) vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Vor der Übernahme der Großstädte durch die Taliban kam es landesweit zu aufsehenerregenden Anschlägen (sog. High Profile-Angriffe, HPAs) durch regierungsfeindliche Elemente. Zwischen dem 16.5. und dem 31.7.2021 wurden 18 Selbstmordanschläge dokumentiert, verglichen mit 11 im vorangegangenen Zeitraum, darunter 16 Selbstmordattentate mit improvisierten Sprengsätzen in Fahrzeugen (UNGASC 2.9.2021), die in erster Linie auf Stellungen der afghanischen Streitkräfte (ANDSF) erfolgten (UNGASC 2.9.2021; vgl. USDOD 12.2020). Darüber hinaus gab es 68 Angriffe mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen (IEDs), darunter 14 in Kabul (UNGASC 2.9.2021).
Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar 2020 hatten die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).
Angriffe, die vom Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) beansprucht oder ihm zugeschrieben werden, haben zugenommen. Zwischen dem 16.5. und dem 18.8.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 88 Angriffe, verglichen mit 15 im gleichen Zeitraum des Jahres 2020. Die Bewegung zielte mit asymmetrischen Taktiken auf Zivilisten in städtischen Gebieten ab (UNGASC 2.9.2021).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.5.2020, USDOD 1.7.2020). Auch 2021 kam es zu einer Reihe von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen gegen religiöse Minderheiten, darunter eine Hazara-Versammlung in der Stadt Kunduz am 13.5.2021 und eine Sufi-Moschee in Kabul am 14.5.2021 sowie mehrere Personenkraftwagen, die entweder schiitische Hazara beförderten oder zwischen dem 1. und 12.6.2021 durch überwiegend von schiitischen Hazara bewohnte Gebiete in der Provinz Parwan und Kabul fuhren (UNGASC 2.9.2021). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).
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1.2.2. ACCORD: ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan, 30.08.2021 (Auszug)
Aktuelle sicherheitsrelevante Entwicklungen [Stand 30. August 2021]:
Am 28. August wurde berichtet, dass es zu einem Bombenanschlag auf den Kabuler Flughafen gekommen ist. Einem Artikel von BBC zufolge kamen dabei mindestens 95 Personen ums Leben, darunter 13 US-SoldatInnen. Über 150 Personen wurden verletzt. Der Anschlag ereignete sich Stunden nachdem westliche Regierungen ihre BürgerInnen gewarnt hatten, sich vom Flughafen fernzuhalten, da ein Angriff der Gruppe Islamischer Staat in der Provinz Khorasan (ISKP) drohe. (BBC, 28. August 2021) Wenige Tage später, am 29. August, kam es zu einem weiteren Angriff nahe des Kabuler Flughafens. Die USA erklärten, dass es sich dabei um einen US-Drohnenangriff handelte, der einen weiteren tödlichen Selbstmordanschlag auf den Flughafen verhinderte. Der Angriff zielte auf ein Fahrzeug, in dem sich mindestens eine mit dem IS-KP assoziierte Person befand, so US-Quellen. Die USA räumten ein, dass man über Berichte von zivilen Opfern in Folge des Drohnenangriffs informiert worden sei und diesen nachgehen werde. (BBC, 30. August 2021)
Am 28. August berichtet Al Jazeera, dass die Taliban den Kabuler Flughafen für die meisten AfghanInnen, die auf eine Evakuierung hoffen, abgeriegelten. Westliche Staats- und Regierungschefs räumten ein, dass sie einige ihrer BürgerInnen und Ortskräfte zurücklassen werden müssten. (Al Jazeera, 28. August 2021)
In einem in der Washington Post veröffentlichten Kommentar führt Barnett R. Rubin, ein ehemaliger leitender Berater des US-Außenministeriums, an, dass die afghanische Bevölkerung vor einer humanitären Katastrophe erschreckenden Ausmaßes stehe. (Washington Post, 24. August 2021) Laut einem BBC-Artikel vom 24. August habe ein Sprecher der Taliban Frauen dazu aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Dies sei eine vorübergehende Maßnahme bis ein für Frauen sicheres System eingeführt sei, so der Taliban-Sprecher weiters. (BBC, 24. August 2021) In einem aktuellen Artikel der International Crisis Group heißt es, dass Berichte über die momentane Situation in Afghanistan und über etwaige politische Pläne der Taliban sehr widersprüchlich seien. Zwar sind die vagen offiziellen Ankündigungen der Taliban bisweilen verhältnismäßig beruhigend, jedoch wird auch von Repressalien und Einschüchterungen derer, die mit der früheren Regierung und ihren ausländischen Unterstützern in Verbindung stehen, berichtet. So würden die uneinheitlichen und widersprüchlichen Signale noch keine klaren Tendenzen zur Zukunft des Landes erkennen lassen, so der ICG-Bericht. (ICG, 24. August 2021)
1.2.3. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation – Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan, 20.08.2021 (Auszug, Grafiken nicht darstellbar)
Aktuelle Lage
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).
Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).
Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt
werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).
Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).
Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).
Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen auftraten. Dazu kamen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).
Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SR-Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).
Exkurs:
Die Anführer der Taliban
Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf.
Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia-Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird.
Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban-Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht.
Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban-Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an.
Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).
Stärke der Taliban-Kampftruppen
Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).
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1.2.4. UNHCR-POSITION ZUR RÜCKKEHR NACH AFGHANISTAN, August 2021
Einleitung
1. Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern. UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghan*innen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen.
2. Aufgrund des Konflikts sind seit Anfang 2021 Schätzungen zufolge über 550.000 Afghan*innen innerhalb des Landes neu vertrieben worden, davon 126.000 neue Binnenvertriebene allein zwischen 7. Juli und 9. August 2021.5 Während es bis dato noch keine genauen Zahlen gibt, wie viele Afghan*innen das Land aufgrund der Kampfhandlungen und Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, haben Berichten zufolge zehntausende Afghan*innen in den letzten Wochen die Landesgrenzen überschritten.
Zugang zum Staatsgebiet und zu internationalem Schutz
3. Da die Situation in Afghanistan instabil und unsicher bleibt, fordert UNHCR alle Länder dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen. UNHCR weist auf die Notwendigkeit hin zu gewährleisten, dass das Recht, Asyl zu beantragen, nicht eingeschränkt wird, dass Grenzen offengehalten werden und dass Personen, die internationalen Schutzbedarf haben, nicht in Gebiete innerhalb ihres Herkunftslands zurückgedrängt werden, die möglicherweise gefährlich sind. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Staaten auch gemäß Völkergewohnheitsrecht verpflichtet sind, die Grenzen für die vor dem Konflikt fliehende Zivilbevölkerung offen zu halten und Flüchtlinge nicht zwangsweise zurückzuführen. Der Non-Refoulement-Grundsatz beinhaltet auch die Nicht-Zurückweisung an der Grenze.
4. Alle Anträge auf internationalen Schutz von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan sollten in fairen und effizienten Verfahren im Einklang mit internationalem und regionalem Flüchtlingsrecht behandelt werden. UNHCR ist besorgt, dass die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan zu einem Anstieg des internationalen Schutzbedarfs von Personen, die aus Afghanistan fliehen, führen – sei es als Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention oder regionalen Flüchtlingsabkommen, sei es als anderweitig international Schutzberechtigte. Das gleiche gilt für diejenigen, die sich bereits vor der jüngsten Eskalation der Gewalt in Afghanistan in Aufnahmeländern befanden. Vor dem Hintergrund der volatilen Situation in Afghanistan begrüßt UNHCR den Schritt einiger Aufnahmeländer, Entscheidungen über den internationalen Schutzbedarf von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und zuverlässige Informationen über die Sicherheits- und Menschenrechtslage verfügbar sind, um den internationalen Schutzbedarf der einzelnen Antragsteller*innen zu prüfen. Aufgrund der Unbeständigkeit der Situation in Afghanistan hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsperspektive zu verwehren.
5. Bei Personen, deren Asylgesuch vor den jüngsten Geschehnissen abgelehnt wurde, kann die aktuelle Situation in Afghanistan zu einer Änderung der Umstände führen, die im Rahmen eines Folgeantrags zu berücksichtigen sind.
6. Es kann Personen geben, die mit Taten in Verbindung stehen, aufgrund derer sie unter die Ausschlussklauseln von Artikel 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. In diesen Fällen wird es notwendig sein, Fragen betreffend die persönliche Verantwortung für Verbrechen, die einen Ausschluss vom Flüchtlingsschutz begründen können, sorgfältig zu prüfen. Um den zivilen Charakter von Asyl zu bewahren, sollten Staaten zudem die Situation der Ankommenden sorgfältig prüfen, um bewaffnete Elemente zu identifizieren und diese von der geflüchteten Zivilbevölkerung zu trennen.
Empfehlung eines Abschiebestopps
7. Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der sich abzeichnenden humanitären Notlage fordert UNHCR die Staaten dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen – auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Ein Moratorium für zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan sollte bestehen bleiben, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und geprüft wurde, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würden. Die Hemmung von zwangsweisen Rückführungen stellt eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben muss, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert haben, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.
8. In Übereinstimmung mit den Zusagen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen im Rahmen des Globalen Flüchtlingsforums, die Verantwortung für den internationalen Flüchtlingsschutz gerecht aufzuteilen, hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanische Staatsangehörige und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan zwangsweise in Länder in der Region zurückzuführen, auch in Anbetracht der Tatsache, dass Länder wie der Iran und Pakistan jahrzehntelang großzügig die überwiegende Mehrheit der Gesamtzahl afghanischer Flüchtlinge weltweit aufgenommen haben.
UNHCR wird die Situation in Afghanistan weiterhin beobachten, um den internationalen Schutzbedarf, der sich aus der aktuellen Situation ergibt, zu prüfen.
2. Beweiswürdigung
2.1. Die Feststellungen zu Staatsangehörigkeit, Namensführung, Geburtsdatum, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Muttersprache, Herkunftsprovinz, familiären Verhältnissen, Gesundheitszustand und beruflicher Tätigkeit ergeben sich aus dem diesbezüglich widerspruchsfreien und glaubhaften Vorbringen des Beschwerdeführers im gesamten Verfahren.
Der Beschwerdeführer räumt zwar im gesamten Verfahren selbst ein, noch Familie in Afghanistan zu haben, jedoch kann allein daraus nicht abgeleitet werden, dass die Eltern oder die Geschwister des Beschwerdeführers in der Lage und willens sind, den Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan finanziell zu unterstützen, zumal diese sich laut Aussagen in der letzten Einvernahme vor dem BFA am 26.06.2018 lediglich mit Arbeiten in der Landwirtschaft oder Hilfsjobs als Verkäufer ihren Lebensunterhalt verdienen.
Insoweit die belangte Behörde – wie auch bereits in ihren zuvor ergangenen Entscheidungen – davon ausgeht, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan noch Familienmitglieder hat, ist darauf zu verweisen, dass dies keine (nachträgliche) Änderung des Sachverhalts begründet, sondern das BFA damit eine andere Beweiswürdigung vornimmt bzw. andere (rechtliche) Schlüsse, aus dem auch im Zeitpunkt Bescheides vom 23.08.2012 vorliegenden Sachverhalt zieht.
Das Bundesverwaltungsgericht geht daher – ebenso wie die belangte Behörde – zwar weiterhin davon aus, dass der Beschwerdeführer Angehörige in Afghanistan hat, stellt im Gegensatz zur belangten Behörde jedoch fest, dass diese im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan kein für eine wesentliche Unterstützung erforderliches tragfähiges Netzwerk darstellen.
Wenn die Behörde anführt, der Beschwerdeführer habe bei seiner Einvernahme am 26.06.2018 keine Beanstandungen gegen ein Aberkennungsverfahren und die Gründe dafür gemacht, ist ihr entgegen zu halten, dass dem Beschwerdeführer mangels Beisein eines Rechtsberaters bei dieser Einvernahme offenkundig die damit einhergehenden rechtlichen Konsequenzen nicht bewusst waren und er im Zuge der Einvernahme vielmehr deutlich gemacht hat, dass er von einem Verbleib im Bundesgebiet und von keiner ihm zumutbaren Rückkehr nach Afghanistan ausgeht („Ich habe sowieso vorgehabt, dass ich zum Magistrat XXXX gehe und eine Niederlassungsbewilligung beantrage,…“).
Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen des Vergehens nach § 136 Abs. 1 und 2 StGB und die zwei Anzeigen im kriminalpolizeilichen Aktenindex, ergeben sich aus dem im Akt aufliegenden Unterlagen, insbesondere aus dem (Abwesenheits-)Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 18.10.2018, Zl. XXXX , und des vom Bundesverwaltungsgerichtes eingeholten Strafregisterauszugs vom 29.07.2021.
Eine Feststellung des Inhalts, dass sich die Umstände, die zur Gewährung subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten durch den Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.08.2012 wesentlich und nachhaltig verändert haben, konnte im Lichte eines Vergleichs der individuellen Situation des Beschwerdeführers sowie der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan zum Zeitpunkt der rechtskräftigen Zuerkennung subsidiären Schutzes einerseits und zum Zeitpunkt des angefochtenen Bescheides bzw. der vorliegenden Entscheidung andererseits nicht getroffen werden (vgl. dazu näher die nachfolgenden rechtlichen Ausführungen). Dabei erfolgte insbesondere eine Gegenüberstellung des Inhalts der dem Bescheid vom 23.08.2012 zugrunde gelegten Länderberichte mit jener Berichtslage, die das BFA bei Erlassung des angefochtenen Bescheides vom 10.07.2018 herangezogen hat, sowie auch mit der zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung bestehenden Lage im Herkunftsstaat.
2.2. Die Feststellungen zur aktuellen Lage in Afghanistan (vgl. Pkt. II.1.2.) beruhen auf den oben angeführten Quellen. Das Bundesverwaltungsgericht bediente sich hierbei einer ausgewogenen Auswahl verschiedener – im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zitierter – Quellen staatlichen und nichtstaatlichen Ursprungs, um sich so ein möglichst umfassendes Bild über die Lage in Afghanistan machen zu können. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen besteht kein Grund, an der Zuverlässigkeit und Richtigkeit der Darstellung zu zweifeln. Den Verfahrensparteien ist das Länderinformationsblatt der Staaten