Entscheidungsdatum
19.11.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L503 2186907-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DIEHSBACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Paul HECHENBERGER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.01.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 02.09.2021, zu Recht erkannt:
A.) Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, § 8 Abs. 1 AsylG, § 57 AsylG, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG und § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, § 52 Abs. 9 FPG iVm § 46 FPG, § 55 Abs. 1 bis 3 FPG als unbegründet abgewiesen.
B.) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden kurz: "BF"), ein irakischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler und schlepperunterstützter Einreise in das Bundesgebiet am 20.7.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Zu seinen Fluchtgründen gab der BF in seiner Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am Folgetag an, dass er bei der Polizei gewesen sei und seinen Dienst als Wachpersonal in einem Gefängnis versehen habe. Die schiitische Miliz (Asaib) habe ihn aufgefordert, mit ihnen zusammen zu arbeiten. Er habe das abgelehnt. Sie hätten ihn deswegen mit dem Tod bedroht und aus Angst um sein Leben habe er sein Land verlassen. Im Falle einer Rückkehr in seine Heimat befürchte er, dass er von den Milizen Asaib getötet werde.
2. Am 12.12.2017 wurde der BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden kurz: "BFA") niederschriftlich einvernommen. Der BF gab zu Beginn der Einvernahme an, dass er keine physischen oder psychischen Probleme habe und gesund sei. Zu seiner Person und zu seinem bisherigen Leben im Irak gab der BF an, dass er Araber und sunnitischer Moslem sei. Er sei in Bagdad geboren und habe dort bis zu seiner Ausreise gelebt. Er habe den Beruf des Bäckers gelernt und bis zum Jahr 2008 ausgeübt. Von 2008 bis 2015 habe er als Polizist gearbeitet. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF zusammengefasst an, dass er als Justizwache im Gefängnis beschäftigt gewesen sei. XXXX , der Leiter der Gefängnisse im Irak, sei festgenommen und in das Gefängnis des BF gesperrt worden. Am 20.6.2015 habe ihn dieser angesprochen und ihm gesagt, dass seine Akte vernichtet werden müsse. Der BF habe diesen Vorfall seinem Vorgesetzten, XXXX , gemeldet; dieser habe ihn aus dem Büro geschmissen. Am 26.6.2015 nachmittags, als der BF zu Hause gewesen sei, habe es an der Tür geklingelt. Er habe geöffnet und plötzlich eine Pistole auf seinem Kopf gespürt. Zwei Personen seien vor der Tür gewesen und hätten ihm gesagt, er solle das machen, was XXXX verlangt habe, oder sie würden ihn umbringen. Der BF habe eine der Personen, XXXX , gekannt, dieser gehöre zur Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq. Sofort habe der BF seinen Reisepass und Geld genommen und das Haus verlassen. Er habe verstanden, dass sein Vorgesetzter auch an der Sache beteiligt gewesen sei. Er sei zu einem Freund gegangen und habe sich in einem Lager versteckt. Er habe einen Freund angerufen, der Kontakte zu Reisebüros habe; dieser habe ihm ein Ticket besorgt und sei er am 1.7.2015 geflüchtet.
Der BF legte im Verfahren vor der belangten Behörde diverse irakische Dokumente (Personalausweis, Staatsbürgerschaftsnachweis, Wählerkarte, Dienstausweise, Festnahmeanordnung, Beschluss), eine Arbeitsbestätigung des Stadtmagistrats XXXX vom 30.11.2017 sowie eine Bestätigung des Österreichischen Roten Kreuzes vom 14.5.2017 vor.
3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 22.1.2018 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für seine freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).
Zur Begründung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der BF weder aus Gründen der Rasse, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung in seiner Heimat von staatlicher Seite verfolgt wurde. Es stehe nicht fest, dass der BF auf Grund seiner Religion Moslem/Sunnit verfolgt worden sei. Auch habe keine Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit festgestellt werden können. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er mit den Behörden seines Heimatstaates Probleme gehabt habe, verfolgt oder verhaftet worden sei. Der BF sei niemals von Seiten des irakischen Staates, insbesondere nicht aus den in der Genfer Konvention taxativ aufgezählten Gründe, und niemals durch dem Staat zurechenbare Dritte aus Konventionsgründen verfolgt worden. Nicht festgestellt habe werden können, dass er persönlich im Irak Drohungen erhalten habe oder einer Verfolgung durch die islamische Gruppierung Asa'ib Ahl al-Haqq ausgesetzt gewesen sei. Die Angaben des BF seien vage, wenig detailreich, oberflächlich und widersprüchlich geblieben und sein Fluchtvorbringen sei in einer Gesamtbetrachtung absolut nicht nachvollziehbar und glaubwürdig. Eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF in den Irak würde keine Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur Konvention bedeuten oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass dem BF in seinem Herkunftsland die Lebensgrundlage gänzlich entzogen gewesen wäre oder er bei einer Rückkehr in eine die Existenz bedrohende Notlage gedrängt würde. Der BF verfüge in seiner Heimat über familiäre Anknüpfungspunkte. Ein Familienbezug in Österreich liege nicht vor und hätten keine Umstände festgestellt werden können, die auf ein schützenswertes Privatleben in Österreich hinweisen würden.
4. Mit Schriftsatz vom 20.2.2018 erhob der BF fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 22.1.2018. Darin brachte er nach Darstellung des bisherigen Verfahrensganges zusammengefasst vor, dass die belangte Behörde den Anforderungen an ein amtswegiges Ermittlungsverfahren nicht genüge getan habe. Die belangte Behörde habe es unterlassen, sich mit den vom BF geschilderten Vorgängen im Rahmen seiner Tätigkeit als Polizist/Geheimdienstmitarbeiter im Justiz- und Gefängniswesen sowie mit der geschilderten Verfolgung durch die Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq aufgrund seiner Weigerung, sie zu unterstützen, auseinanderzusetzen. Die belangte Behörde hätte Ermittlungen dazu durchführen müssen, in welche Umstände Sunniten aktuell in den Irak zurückkehren und wie sich die Verfolgung von Sunniten durch schiitische Milizen aktuell gestalte. Der BF sei in seiner Heimat von schiitischen Milizen verfolgt worden und habe sich durch die Flucht aus dem Irak auch einer Verfolgung wegen Desertion ausgesetzt, ebenso sei er aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sunnitischen Ausrichtung des Islams von den fortschreitenden grobflächigen systematischen Menschenrechtsverletzungen gegenüber Sunniten betroffen. Der BF würde aus Österreich – einem westlichen, christlichen Land zurückkehren. Dies würde die Aufmerksamkeit der schiitischen Milizen noch verstärkt auf ihn ziehen. Die Lage für Rückkehrer sei sehr schwierig und gefährlich. Auf – im Beschwerdeschriftsatz zitierte – ergänzende Länderberichte wurde verwiesen. Die vom BF im Verfahren vorgelegten Dokumente seien nicht im ausreichenden Ausmaß berücksichtigt worden, da sie im Rahmen der Beweiswürdigung keinerlei Erwähnung gefunden hätten, und seien dem BF notwendige Fragen zu entscheidungsrelevanten Umständen zur Flucht des BF nicht gestellt worden. So habe die Erstbehörde etwa nicht ermittelt, ob gegen den BF eine Festnahmeanordnung erlassen worden sei. Weitere Beschwerdeausführungen richteten sich im Einzelnen gegen beweiswürdigende Überlegungen der belangten Behörde. Für den BF treffe die Definition eines Flüchtlings im Sinne der GFK zu, weil sich die Verfolgungshandlungen und asylrelevanten Diskriminierungen unter die Statusrichtlinie subsumieren ließen und wäre ihm somit internationaler Schutz gemäß § 3 AsylG zu gewähren gewesen. Es könne nicht mit der notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der BF bei einer Rückkehr in den Irak dem realen Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre. Die Behörde hätte dem BF demnach den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen. Der BF sei um seine Integration in Österreich bemüht.
Mit der Beschwerde legte der BF ein Lichtbild eines Dienstausweises vor.
5. Am 22.2.2018 wurde der Akt dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.
6. Im Beschwerdeverfahren legte der BF – soweit im Verfahren noch nicht vorgelegt – eine Arbeitsbestätigung des Stadtmagistrats XXXX vom 18.12.2018, eine Terminkarte des ÖIF vom 8.11.2018 (OZ 5), mehrere Empfehlungsschreiben, Lichtbilder, einen Arbeitsvorvertrag, zwei Einstellungszusagen, eine Arbeitsbestätigung des Stadtmagistrats XXXX vom 20.8.2021, einen Dienstausweis des Österreichischen Roten Kreuzes vom 26.7.2021, eine Bestätigung des Stadtmagistrats XXXX vom 2.10.2021, eine Teilnahmebestätigung des Österreichischen Roten Kreuzes vom 12.6.2021, eine Teilnahmebestätigung sowie eine Zeitbestätigung des ÖIF über einen Werte- und Orientierungskurs bzw. eine Informationsveranstaltung vom 8.11.2018, Terminkarten des ÖIF und Teilnahmebestätigungen über Deutschkurse auf den Sprachniveaus A0, A1.1, A1 und A2 (OZ 8) vor.
7. Am 2.9.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des BF in dessen Beisein sowie seines rechtsfreundlichen Vertreters eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Ein Behördenvertreter ist zur Verhandlung nicht erschienen.
Der Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 22.1.2021, das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zum Irak (abgerufen am 13.7.2021), der Bericht von EASO zum Irak (Sicherheitslage – Informationsbericht über das Herkunftsland) von Oktober 2020, die UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, von Mai 2019 sowie der Bericht von IOM Iraq, COVID-19-Response overview #7, 7 – 28.12.2020, wurden vom erkennenden Gericht in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingebracht, dem rechtsfreundlichen Vertreter des BF übermittelt und eine Stellungnahmefrist von drei Wochen eingeräumt.
Der BF legte in der mündlichen Verhandlung eine Arbeitsbestätigung des Stadtmagistrats XXXX vom 29.1.2020 vor.
8. Mit Schriftsatz seines rechtsfreundlichen Vertreters vom 23.9.2021 erstattete der BF eine Stellungnahme zu seiner Situation in Österreich sowie zur Situation im Falle der Rückkehr in den Irak. Mit der Stellungnahme wurden ergänzende Länderberichte bzw. Zeitungsberichte vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF werden folgende Feststellungen getroffen:
Der BF trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am dort angeführten Datum geboren. Seine Identität steht fest. Der BF ist Staatsangehöriger des Irak und der Volksgruppe der Araber zugehörig. Er bekennt sich zum sunnitischen Islam. Die Muttersprache des BF ist Arabisch. Der BF ist gesund.
Der BF wurde in Bagdad geboren und besuchte dort von 1993 bis 2002 die Schule, wobei er die fünfte Klasse sechs Mal wiederholen musste. Anschließend erlernte er den Beruf des Bäckers, welchen er bis zu seinem 17. Lebensjahr im Familienbetrieb ausübte. Im Jahr 2008 absolvierte er eine dreimonatige Grundausbildung für den Polizeidienst. Sodann versah er seinen Dienst an verschiedenen Arbeitsplätzen bzw. Behörden, etwa als Security für behördliche Gebäude, dies zuletzt in einem Gefängnis in Bagdad. Im Jahr 2016 wurde der Beschwerdeführer wegen Abwesenheit vom Dienst aus dem Polizeidienst entlassen.
Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Er hat vier Brüder und drei Schwestern. Die Brüder des BF leben im Irak und bestreiten als Bäcker im Familienbetrieb ihren Lebensunterhalt, auch die Eltern und Schwestern des BF sind allesamt in der Bäckerei beschäftigt. Alle Geschwister des BF sind verheiratet und leben gemeinsam mit ihren Familien in Bagdad. Die wirtschaftliche Lage der Familie ist mittelmäßig. Der BF steht in Kontakt mit seinen Angehörigen im Irak und telefoniert mit diesen täglich.
Der BF reiste im Juli 2015 aus dem Irak aus.
1.2. Zu den Fluchtgründen bzw. Rückkehrbefürchtungen des BF werden folgende Feststellungen getroffen:
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Irak einer unmittelbaren persönlichen und konkreten asylrelevanten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder dies im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hätte.
Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer asylrelevanten individuellen Verfolgung durch schiitische Milizen oder einer asylrelevanten staatlichen (strafrechtlichen) Verfolgung wegen Fernbleibens vom Polizeidienst ausgesetzt wäre.
Ebenso kann die Gefahr einer dem BF im Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden asylrelevanten Verfolgung aufgrund seines sunnitischen Glaubensbekenntnisses nicht festgestellt werden.
Es kann auch keine sonstige Gefahr einer Verfolgung des BF im Falle seiner Rückkehr in den Irak festgestellt werden.
1.3. Zur Lage des BF im Fall einer Rückkehr:
Es kann unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden, dass eine Abschiebung des BF in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur EMRK bedeuten oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit mit sich bringen würde.
Es kann insbesondere nicht festgestellt werden, dass der BF im Fall seiner Rückkehr in den Irak in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden. Der BF ist gesund, arbeitsfähig und mobil. Er verfügt über eine Berufsausbildung und Arbeitserfahrung. Es spricht nichts dagegen, dass der BF durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im Irak wieder für seinen Lebensunterhalt sorgen könnte. Darüber hinaus verfügt der BF im Irak über ein soziales Netz in Form seiner dort lebenden Familie, mit welcher er auch in Kontakt steht.
Der BF verfügt über einen irakischen Personalausweis und Staatsbürgerschaftsnachweis. Die Stadt Bagdad ist über den dortigen internationalen Flughafen von Wien-Schwechat aus (mit Umstieg in Istanbul oder alternativ in Amman, Doha oder Dubai) auf dem Luftweg erreichbar.
1.4. Zum Privat- und Familienleben des BF in Österreich:
Der BF reiste im Juli 2015 illegal und schlepperunterstützt in das Bundesgebiet ein und hält sich somit seit ca. sechs Jahren und fünf Monaten in Österreich auf.
Der BF hat keine Familienangehörigen in Österreich, lediglich weitschichtige Verwandte halten sich in Österreich auf; der BF sieht diese ein- oder zweimal jährlich. Ein bestehendes Abhängigkeitsverhältnis in persönlicher oder finanzieller Hinsicht kann nicht festgestellt werden. Der BF lebt nicht in einer Lebensgemeinschaft oder mit einer ihm sonst nahestehenden Person zusammen. Der BF verfügt über soziale und freundschaftliche Anknüpfungspunkte in Österreich; verfestigte persönliche Beziehungen des BF können aber nicht festgestellt werden.
Der BF verfügt über gering ausgeprägte Deutschkenntnisse. Er nahm im Jahr 2019 an einem Deutschkurs auf dem Sprachniveau A0 sowie in den Jahren 2020 und 2021 an Deutschkursen auf den Sprachniveaus A1.1., A1 und A2 teil. Deutschprüfungen legte der BF nicht ab.
Der BF besuchte am 14.5.2017 einen Erste-Hilfe-Kurs. Am 8.11.2018 nahm der BF an einer Informationsveranstaltung und einem Werte- und Orientierungskurs teil. Am 12.6.2021 nahm der BF am Basismodul des Projektes "Integration" des Österreichischen Roten Kreuzes teil.
Ab dem 25.4.2017 war der BF bis ins Jahr 2019 im Rahmen seiner Unterbringung in einer Betreuungseinrichtung in der Werkstatt des Stadtmagistrats XXXX , Straßenbetrieb, tätig; von 16.3.2021 bis 25.5.2021 war der BF dort im Bauhof West tätig. Im Jahr 2020 arbeitete der BF viereinhalb Monate lang gemeinnützig im Wohnheim der XXXX Sozialen Dienste in der Restaurantküche als Abwäscher. In seiner Unterkunft half der BF im Jahr 2021 gemeinnützig bei der Kontrolle der Brandschutzeinrichtungen mit.
Der BF ging während seines Aufenthalts bisher keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nach; er steht nach wie vor im Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung. Der BF legte einen Arbeitsvorvertrag als Küchenhilfe (Vollzeit) sowie zwei Einstellungszusagen als Küchenhilfe (Vollzeit bzw. Teilzeit) vor.
Der BF ist strafrechtlich unbescholten. Vom BF im Bundesgebiet begangene Verwaltungsübertretungen sind nicht aktenkundig.
1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Zur Lage im Irak wird auf den vom erkennenden Gericht in der mündlichen Verhandlung vom 2.9.2021 in das Verfahren eingebrachten Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 22.1.2021, das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zum Irak (abgerufen am 13.7.2021), den Bericht von EASO zum Irak (Sicherheitslage – Informationsbericht über das Herkunftsland) von Oktober 2020, die UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, von Mai 2019 sowie den Bericht von IOM Iraq, COVID-19-Response overview #7, 7 – 28.12.2020, in denen eine Vielzahl von Berichten diverser allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt werden, verwiesen. Insoweit die Berichtslage konkret im gegenständlichen Verfahren relevant ist, wird darauf unten im Rahmen der Beweiswürdigung betreffend die Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen des BF näher eingegangen. Der BF erstattete mit Schriftsatz seines rechtsfreundlichen Vertreters vom 23.9.2021 eine Stellungnahme zu den Länderberichten. Soweit darin auf die Aktivitäten der PMF bzw. Milizen sowie des IS verwiesen wird, zeigt die Stellungnahme nicht auf, dass die vom erkennenden Gericht herangezogenen Länderberichte falsch oder unvollständig wären, zumal sich diese ausführlich mit den – diese Sachverhalte mit einschließenden – aktuellen sicherheitsrelevanten Fragen und Entwicklungen im Irak auseinandersetzen; im Übrigen wird auf die Ausführungen unter Punkt 2.2. verwiesen.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person des BF:
Die zur Identität des BF getroffenen Feststellungen beruhen einerseits auf seinen eigenen Angaben in der Erstbefragung (vgl. AS 5) sowie in der Einvernahme vor der belangten Behörde (vgl. AS 114 ff) und andererseits auf den im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten irakischen Identitätsdokumenten, insbesondere seinem irakischen Personalausweis und Staatsbürgerschaftsnachweis (vgl. AS 127 ff). Die Identität des BF konnte somit festgestellt werden.
Die Angaben des BF zu seiner Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit und Muttersprache sowie seinem religiösen Bekenntnis (vgl. AS 5, 114) waren nicht zweifelhaft und konnten der Entscheidung des erkennenden Gerichtes zugrunde gelegt werden.
Der BF gab in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde zu seinem Gesundheitszustand an, dass er keine physischen oder psychischen Probleme habe und gesund sei (AS 41). Auch im Beschwerdeverfahren brachte der BF keine gesundheitlichen Probleme vor. Es war daher zur Feststellung zu gelangen, dass der BF gesund ist.
Die getroffenen Feststellungen zum bisherigen Leben des BF im Irak und zu seinen dort lebenden Familienmitgliedern beruhen unmittelbar auf seinen – grundsätzlich glaubhaften – Angaben vor der belangten Behörde (vgl. AS 114 ff) und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht (vgl. Verhandlungsschrift S. 5 ff). Soweit die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem bisherigen Leben im Irak – insbesondere seiner dortigen Berufstätigkeit als Polizist – im Zusammenhang mit seinen Fluchtgründen stehen, wird darauf unter Punkt 2.2. näher eingegangen.
2.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
2.2.1. Zur behaupteten Verfolgung durch schiitische Milizen oder wegen Fernbleibens vom Polizeidienst:
2.2.1.1. Im Hinblick auf Sicherheitskräfte und Milizen wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (abgerufen am 13.7.2021) auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 27 ff):
"Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische. Stattdessen wurde ein politisch neutrales Militär vorgesehen […].
Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) […]. Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI) […].
Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle […].
[…]
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören […].
Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt […].
Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen […].
[…]
Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi
Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen […]. Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen […] und werden vorwiegend vom Iran unterstützt […]. PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS […]. Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei […].
Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien […]. Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig […]. In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist […].
Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt […]. Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus […].
Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten […]. Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war […]. Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr Organisation […]. Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind […].
Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes […].
In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss […].
Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen […], oder entwaffnet werden müssen […]. Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellte Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden […]. Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren […]. Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin […].
Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF […].
Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen […]. Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor […].
Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll […].
Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte […]. Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet […]. Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde […]. Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahe stehen […].
Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani […]. Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt […]. Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahe stehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren […].
[…]
Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH; Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz‘ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak […]. Sie ist eine Abspaltung von As-Sadrs Mahdi-Armee und im Gegensatz zu As-Sadr pro-iranisch […]. Asa‘ib Ahl al- Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern […]. Asa‘ib Ahl al-Haqq bildet die 41., 42. und 43. der PMF-Brigaden […]. Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierungskräfte, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Qais al Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF […].
[…]
Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF
Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert […].
Die PMF genießen auch breite Unterstützung in der irakischen Bevölkerung für ihre Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat nach dem teilweisen Zusammenbruch der irakischen Armee im Jahr 2014 […]. Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht […].
Einige PMF haben sich Einkommensquellen erschlossen, die sie nicht aufgeben wollen, darunter Raub, Erpressung und Altmetallbergung […]. Es wird angenommen, dass die PMF einen Teil der lokalen Wirtschaft in Ninewa kontollieren, was von diesen zurückgewiesen wird […]. Im Norden und Westen des Irak haben Amtspersonen und Bürger über Schikanen durch PMF-Milizen und deren Eingreifen in die Stadtverwaltungen und das alltäglicheLeben berichtet. Damit geht der Versuch einher, bisweilen unter Einsatz von Demütigungen und Prügel, Kontrolle über Bürgermeister, Distrikt-Vorsteher und andere Amtsträger auszuüben […]. In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mossul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß […].
Neben der Finanzierung durch den irakischen sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem so hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind […]."
2.2.1.2. Im Hinblick auf Berufsgruppen & Menschen, die einer bestimmten Beschäftigung nachgehen, wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (abgerufen am 13.7.2021) auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 97 ff):
"Übergriffe auf Regierungsziele durch den Islamischen Staat (IS) sind trotz eines generellen Rückgangs an Vorfallzahlen gestiegen […]. Polizisten, Soldaten, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte sowie Mitglieder des Sicherheitsapparats sind besonders gefährdet. Auch Mitarbeiter der Ministerien sowie Mitglieder von Provinzregierungen werden regelmäßig Opfer von gezielten Attentaten […]"
2.2.1.3. Im Hinblick auf Wehrdienst, Rekrutierungen und Wehrdienstverweigerung wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (abgerufen am 13.7.2021) auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 41):
"Im Irak besteht keine Wehrpflicht. Männer zwischen 18 und 40 Jahren können sich freiwillig zum Militärdienst melden […]. Nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 wurde die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft […]. Juden sind per Gesetz vom Militärdienst ausgeschlossen […]. Die irakische Regierung und das irakische Parlament planen, die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu prüfen. Hierbei wird auch die Möglichkeit erwogen, anstelle des Militärdienstes eine Ersatzzahlung leisten zu können […].
Laut Kapitel 5 des irakischen Militärstrafgesetzes von 2007 ist Desertion in Gefechtssituationen mit bis zu sieben Jahren Haft strafbar. Das Überlaufen zum Feind ist mit dem Tode strafbar […]. Die Armee hat kaum die Kapazitäten, um gegen Desertion von niederen Rängen vorzugehen. Es sind keine konkreten Fälle bekannt, in denen es zur Verfolgung von Deserteuren gekommen wäre […]. Im Jahr 2014 entließ das Verteidigungsministerium Tausende Soldaten, die während der IS-Invasion im Nordirak ihre Posten verlassen haben und geflohen sind. Im November 2019 wurden, mit der behördlichen Anordnungen alle entlassenen Soldaten wieder zu verpflichten, über 45.000 wieder in Dienst gestellt […].
Die Rekrutierung in die Volksmobilisierungskräfte (PMF) erfolgt ausschließlich auf freiwilliger Basis. Viele schließen sich den PMF aus wirtschaftlichen Gründen an. Desertion von den PMF kam in den Jahren 2014 bis 2015 seltener vor als bei der irakischen Armee. Desertion von Kämpfern niederer Ränge hätte wahrscheinlich keine Konsequenzen oder Vergeltungsmaßnahmen zur Folge […]."
2.2.1.4. Im Hinblick auf die Sicherheitslage im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (abgerufen am 13.7.2021) auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 7 ff):
Zur allgemeinen Sicherheitslage (S. 7 f):
"Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat […]. Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert […]. Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete […].
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren […]."
Zum Islamischen Staat (IS) (S. 9 f):
"Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 […] hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt […] und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück […]. Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen […] und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes […].
Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst […]. Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch […]. Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar […]. Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din […]. Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken […]. Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten […].
Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter […], dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden […], sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen […].
Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert […]. Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat […].
Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab […]. Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour […]. Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern […].
Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein […]."
Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen und Opferzahlen (S. 11 ff):
"Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden […]. Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren […]. Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird […]. Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind […].
Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder […].
Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt […].
Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) […].
Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte […]."
Zur Sicherheitslage in Bagdad (S. 14 ff):
"Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden […].
Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada’in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden […]. Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt […].
Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen […], doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen […]. Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden […].
Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet […]. Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad […].
Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet […], im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten […]. Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar […].
Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren […].
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen."
2.2.1.5. Im Hinblick auf die Sicherheitslage wird im Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 22.1.2021 wie folgt ausgeführt (S. 16):
"Die Terrormiliz „IS“ ist – wenn auch im „Verborgenen - weiterhin aktiv, insbesondere in den Gegenden um Kirkuk, Mosul und Tal Afar. Der „IS“ hat einen Strategiewechsel vorgenommen und setzt diesen Strategiewechsel in Form einer asymmetrischen Kriegsführung aus dem Untergrund mit kleineren Anschlägen auch nach dem Tod des „IS“- Führers al-Baghdadi fort. Die Türkei führt regelmäßig Luftangriffe auf PKK-Stellungen insbesondere in den Kandil- Gebirgen durch. Im Sommer 2020 kam es im Grenzgebiet auch zu Bodenoperationen durch türkische Streitkräfte. Vereinzelt gibt es auch Berichte über zivile Opfer dieser Angriffe."
2.2.1.6. Im Hinblick auf die neuesten Sicherheitstrends und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung in der Provinz Bagdad wird im Bericht von EASO zum Irak (Sicherheitslage – Informationsbericht über das Herkunftsland) von Oktober 2020 wie folgt ausgeführt (S 120 ff):
"Entwicklungen 2019-2020
Spannungen zwischen Iran und den USA
Eine der wichtigsten sicherheitsrelevanten Entwicklungen in Irak in den Jahren 2019 und 2020 waren die wachsenden Spannungen zwischen Iran und den USA. Am 29. Dezember 2019 berichtete die New York Times über US-Luftangriffe gegen mehrere Stellungen der Kataib Hisbollah überall in Irak als Vergeltung für einen Anschlag, bei dem ein amerikanischer Staatsbürger ums Leben kam. Am 2. Januar 2020 wurden Qassim Suleimani, Befehlshaber der Al-Quds-Streitkräfte der Iranischen Revolutionsgarden (IRGC), sowie eine Reihe ranghoher Vertreter von von Iran unterstützten Milizen, insbesondere der Stabschef des Volksmobilisierungskomitees, Abu Mahdi Al-Muhandis, bei einem US-Drohnenangriff auf dem Flughafen Bagdad getötet. Berichten zufolge stimmte kurz nach dem Angriff der irakische Rat der Vertreter dafür, „die amerikanischen Streitkräfte aus dem Land zu vertreiben“. Am 8. Januar 2020 berichtete die New York Times, Iran hätte mit dem Abschuss von mehr als 20 ballistischen Raketen auf Militärstützpunkte in Irak, auf denen amerikanische Truppen stationiert sind, Vergeltung geübt“. Berichten zufolge befand sich keiner dieser Militärstützpunkte in der Provinz Bagdad. Radio Free Europe berichtete, dass am 24. Januar auf einen Aufruf des schiitischen Führers Muqtada Al-Sadr hin Tausende von Irakern durch die Straßen von Bagdad zogen und Slogans gegen die USA skandierten. Berichten zufolge wurde die Demonstration durch Saraya As-Salam und andere PMU geschützt. Nach Angaben von ISW gab am 29. Februar 2020 Kataib Hisbollah eine „letzte Warnung“ an alle Iraker heraus, die mit den USA kollaborieren, einschließlich Unternehmen und Regierungsstellen. Darüber hinaus berichtete der New Arab am 13. März 2020 über den Einsatz von ISF in der Grünen Zone und die Räumung von Miliz-Stützpunkten in den Stadtteilen Jadiriya, Karrada, Arsat und Palestine Street im Zusammenhang mit den US-Luftangriffen gegen PMU-Standorte in Jurf Al-Sakhr in der Provinz Babil. Die gleiche Quelle berichtete am 14. März, dass 14 „Katjuscha-Raketen“ den Militärstützpunkt Al-Taji nördlich von Bagdad getroffen hatten, wobei es drei Opfer unter den US-Truppen gab, von denen zwei in kritischem Zustand waren. Am 17. März 2020 übernahm eine neue Gruppe mit dem Namen Usbat Al-Tha’irien (Liga der Revolutionäre) die Verantwortung für den Anschlag vom 14. März und zwei weitere Anschläge auf das Lager Al-Taji. In dieser Eskalation gab es im April 2020 rund einen Monat Pause, bevor von Iran unterstützte Milizen ihre Anschläge wieder aufnahmen und am 6. Mai 2020 Stellungen der US-Armee in der Nähe des Flughafens Bagdad ins Visier nahmen. Die Anschläge gingen im Juli 2020 weiter, und nach Angaben von EPIC trafen drei Raketen den Militärstützpunkt Al-Taji am 27. Juli und zwei Raketen den Baghdad International Airport am 30. Juli 2020.
Neben den bereits genannten Anschlägen dokumentierte das ISW sieben Anschläge mit Zielen in der Grünen Zone und einigen anderen Stadtteilen von Bagdad zwischen dem 8. Januar und dem 17. März 2020. Nach Angaben des ISW wurden einige der Raketen in Stadtvierteln von Bagdad wie Al-Amanah, Zafaraniyah und Arab Jabour abgeschossen. Bei den sieben Anschlägen wurde nur ein amerikanischer Staatsbürger beim Einschlag von drei Mörsern in der US-Botschaft am 26. Januar 2020 verwundet. Ferner berichtete EPIC von drei Raketenangriffen gegen die Grüne Zone in Bagdad im Juni und Juli 2020, bei denen in einem Fall ein Kind verletzt wurde.
Das Washington Institute hielt fest, dass am 3. Juni 2020 der Vorsitzende der Haschd-Kommission beim Amt von Premierminister Mustafa Al-Kadhimi einen Aktenvermerk verfasste, in dem von einem „Neuanfang der ‚Haschd-Reform‘“ die Rede war. Zu den in diesem Aktenvermerk vorgeschlagenen Veränderungen gehörte die Schließung einiger PMU-Büros in den Städten und die Entfernung von Einheitsbezeichnungen. Nach Auffassung des Washington Institute hat allerdings die PMU-Kommission ihr Hauptquartier in Bagdad und wird der neue Aktenvermerk größeren Milizen einschließlich Kataib Hisbollah dabei helfen, die Regierung einzuschüchtern, „indem taktische Einheiten an sensiblen Orten postiert werden (z. B. in unmittelbarer Nähe des Sitzes des Premierministers oder sogar innerhalb des Komplexes des Palasts der Republik, einem wichtigen Ort für Sitzungen der Regierung)“. Am 25. Juni 2020 schließlich genehmigte der irakische Premierminister einen Einsatz des Anti-Terror-Dienstes im Gebäude der Kataib Hisbollah im Gebiet Dora im Süden Bagdads, bei dem 14 Angehörige der Gruppe festgenommen und Raketen beschlagnahmt wurden. Nachdem, Berichten zufolge, Kataib Hisbollah, Druck auf den Premierminister ausgeübt hatte, wurden die 14 Personen wieder freigelassen.
Protestbewegung
Eine weitere Entwicklung, die 2019-2020 in Irak stattfand, waren Großdemonstrationen in mehreren Städten, insbesondere in Bagdad. In einem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom 22. November 2019 heißt es, dass sich am 1. Oktober 2019 Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Bagdad versammelten und Reformen forderten. Die Demonstration endete in Gewalt, als die Demonstranten versuchten, in die Internationale Zone zu gelangen. Berichten zufolge setzten sich die Proteste in Bagdad an den folgenden Tagen fort, bevor sie in andere Provinzen übersprangen. Am 3. Oktober 2019 verhängte die irakische Regierung eine unbefristete Ausgangssperre. Am 7. Oktober 2019 berichtete Reuters von Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den ISF in Sadr City, bei denen 15 Menschen ums Leben kamen. Reuters schrieb hierzu: „Die Ausbreitung der Gewalt in Sadr City am Samstagabend stellt ein neues Sicherheitsproblem für Behörden dar, die es mit der schlimmsten Gewalt im Land seit der Niederschlagung der Gruppe Islamischer Staat vor fast zwei Jahren zu tun hat.“ Ende Oktober 2019 hatten die Demonstranten weitere Forderungen gestellt, darunter „politische Rechenschaft über Tote, Rücktritt der Regierung und Reformen des Wahlrechts und der Verfassung“. Im HRW World Report 2019 hieß es, dass „bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften zwischen Anfang Oktober und Dezember bei Protesten in Bagdad und Städten im Süden Iraks mindestens 350 Demonstranten ums Leben kamen“. Berichten zufolge feuerten in einigen Fällen Sicherheitskräfte Tränengaspatronen und scharfe Munition direkt auf Demonstranten ab. Amnesty International veröffentlichte am 23. Januar 2020 einen Bericht, dem zufolge seit Oktober 2019 mehr als 600 Demonstranten ums Leben gekommen waren. In dem Bericht werden Aktivisten zitiert, die vom vorsätzlichen Einsatz scharfer Munition und von Tränengas „in militärischer Qualität“ mit dem Ziel sprachen, Demonstranten zu töten. Das ISW teilte mit, dass zwischen dem 5. und 8. März 2020 im Zentrum Bagdads drei Demonstranten von „nicht identifizierten Sicherheitskräften“ getötet und 44 verletzt wurden. In einem am 6. Mai 2020 veröffentlichten Bericht des UN-Sicherheitsrats ist die Rede von einem Rückgang der Zahlen von getöteten und verletzten Demonstranten, der teilweise auf die COVID-19-Situation zurückzuführen sei. In dem Bericht heißt es weiter, dass im Berichtszeitraum 21. Februar bis Mai 2020 in Bagdad zehn Demonstranten ums Leben kamen und 367 verletzt wurden. Zur offiziellen Reaktion sei angemerkt, dass der frühere irakische Premierminister Abdul Mahdi Ende Oktober 2019 die CTS entsandte, um den Protesten ein Ende zu bereiten. Später erließ das PMU-Kommando am 7. Dezember 2019 strenge Weisungen an seine Einheiten dahingehend, dass alle militärischen Aufgaben der PMU dem Gemeinsamen Einsatzkommando unterstehen und sich keine Einheiten in der Nähe von Demonstrationsorten aufhalten sollten. Am 26. Mai 2020 sagte der neue irakische Premierminister Al-Kadhimi zu, Berichten über Gewalt gegen Demonstranten nachzugehen.
Einem UNAMI-Bericht vom 23. Mai 2020 zufolge gab es mehrere Fälle von „Verschleppung“ von Personen, die an Demonstrationen teilgenommen oder Demonstrationen unterstützt hatten. Dem Bericht zufolge ereigneten sich die Vorfälle in der Nähe von Demonstrationsorten oder auf dem Weg zur/von der Arbeit. Ferner