Entscheidungsdatum
14.12.2021Norm
BBG §40Spruch
W217 2249099-1/4E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Julia STIEFELMEYER als Vorsitzende und die Richterin Mag. Ulrike LECHNER LL.M sowie die fachkundige Laienrichterin Verena KNOGLER, BA, MA als Beisitzerinnen über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Niederösterreich, vom 19.10.2021, OB: XXXX , betreffend die Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses, beschlossen:
A)
In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
1. Frau XXXX (in der Folge: „Beschwerdeführerin“) beantragte am 21.06.2021 beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Kurzbezeichnung: Sozialministeriumservice; in der Folge belangte Behörde genannt) einlangend unter Beilage eines Konvolutes an medizinischen Befunden die Ausstellung eines Behindertenpasses sowie die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel aufgrund einer Behinderung“.
1.1. In der Folge holte die belangte Behörde ein Sachverständigengutachten ein. Dr. XXXX , Facharzt für Orthopädie, hält in seinem Gutachten vom 22.09.2021 Folgendes fest:
„Anamnese:
Hysterektomie; 2015 KTEP rechts; Varusgonarthrose links.
Derzeitige Beschwerden:
‚Ich bin selber mit dem Auto hergefahren. Das linke Knie tut weh, das rechte geht ganz gut. Ich bin schon 2x gestürzt, danach hat es noch mehr wehgetan.‘
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Liste Dr. XXXX 9/2021: Diovan, Pantoloc, Tebofortan, Sertralin, Mexalen, Halcion.
Sozialanamnese:
verwitwet, 2 Kinder, 4 Enkelkinder; in Pension.
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Bericht KH XXXX 6/2021: V. a. Lumboischialgie
Röntgen XXXX 3/2021: Unauffällige Knietotalendoprothese rechts.
Geringgradige Varusgonarthrose links.
MR linkes Knie XXXX 3/2020: Riss des medialen und lateralen Meniskus wie beschrieben.
Z. n. älterer Teilläsion des vorderen Kreuzbandes. Chondromalazie Grad II am lateralen Kompartment.
Chondromalazie Grad III am medialen Kompartment und femoropatellar.
Mehrere Geröllzysten sowie reaktive Knochenmarksödemzonen subchondral am medialen Tibiaplateau sowie an der Patella. Geringer Kniegelenkserguss. Bakerzyste. /
Periartikuläres Weichteilödem. Flüssigkeitsansammlung in der Bursa anserina.
Röntgen XXXX 6/2019: Arthrotische Veränderungen aller Beckenringgelenke. Kleine Verkalkungen in den Weichteilen als verkalkte Spritzengranulome über der linken Beckenschaufel und auch links gluteal.
Kleine Verkalkung im Ansatz der Außenrotatoren am Trochanter major mit fibroostotischen Veränderungen desselbigen.
Für traumaassoziierte Laesionen im Bereich des Schenkelkopf/Hals-Bereichs rechts kein sicherer Hinweis. 4/2019: Geringgradige Coxarthrose bds.
Bericht Kh XXXX 2015: Z. n. K-TEP Implantation rechts am 03.02.2015
Untersuchungsbefund:
Allgemeinzustand:
gut
Ernährungszustand:
gut
Größe: 160,00 cm Gewicht: 66,00 kg Blutdruck:
Klinischer Status – Fachstatus:
Caput unauffällig, Collum o.B., WS im Lot, HWS in R 45-0-45, F 10-0-10, KJA 1 cm,
Reklination 14 cm. BWS-drehung 35-0-35, normale Lendenlordose, FKBA 25 cm,
Seitneigung bis 5 cm ober Patella. Kein Beckenschiefstand. Thorax symmetrisch, Abdomen unauffällig.
Schultern in S 40-0-160, F 160-0-50, R bei F90 60-0-65, Ellbögen 0-0-125, Handgelenke 50-0-50, Faustschluß beidseits frei. Nacken-und Kreuzgriff möglich. Hüftgelenke in S 0-0-105, F 30-0-20, R 25-0-10, Kniegelenke rechts 0-0-125 zu links 0-0-115, Sprunggelenke 15-0-45.
Lasegue negativ.
Gesamtmobilität – Gangbild:
Gang in Strassenschuhen mit 1 Walkingstock gering kleinerschrittig und linkshinkend möglich.
Zehenspitzen- und Fersenstand möglich.
Status Psychicus:
Normale Vigilanz, regulärer Ductus.
Ausgeglichene Stimmungslage.
Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:
Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:
Pos.Nr.
Gdb %
1
Aufbraucherscheinungen der Wirbelsäule und der grossen Gelenke oberer Rahmensatz berücksichtigt die Endoprothese rechtes Knie und die Gonarthrose links bei geringer Coxarthrose
02.02.02
40
Gesamtgrad der Behinderung 40 v. H.
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:
Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:
Änderung des Gesamtgrades der Behinderung im Vergleich zu Vorgutachten:
X Dauerzustand“
1.2. Im Rahmen des hierzu erteilten Parteiengehörs brachte die Beschwerdeführerin vor, sie benutze das Auto meist nur auf sehr kurzen Strecken, um Lebensmittel einzukaufen. Bei weiteren Strecken und zu Orten, wo der Parkplatz weiter vom Eingang ihres Zielortes entfernt sei, werde sie von ihrer Familie geführt. Für ihre Besorgungen und Arztbesuche wäre ein Parkausweis sehr hilfreich, da sie so direkt vor der Tür parken könnte. Ebenso sei kein Zehenspitzen- und Fersenstand von ihr verlangt worden, dies wäre, ohne dass sie sich festhalte gar nicht möglich, da sie in den Vorfüßen seit einigen Jahren starke Abnützungen habe und daher an schlimmen Schmerzen leide. Wenn sie das Haus verlasse, ersetze sie ihre Krücken, die sie im Haus jederzeit verwende, durch einen Walkingstock. Sie ersuche um Überprüfung der bisherigen Feststellungen und um Ausstellung eines Behindertenpasses und eines Parkausweises, da es ihr sehr im alltäglichen Leben helfen würde, wenn sie einen Behindertenparkplatz benützen könnte.
1.3. Der bereits befasste Sachverständige hielt in seiner Stellungnahme vom 14.10.2021 fest:
„Antwort(en):
Es wurde im Rahmen des Parteiengehörs Einspruch erhoben, sie sei schlechter gehfähig als bei der Untersuchung erhoben/gezeigt. Sämtliche Gelenke der unteren Extremitäten sind stabil und ausreichend beweglich, ein relevantes motorisches Defizit besteht nicht. Anderslautende Befunde liegen nicht vor, deshalb kann das Kalkül nicht geändert werden.“
2. Mit Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Niederösterreich, vom 19.10.2021 wurde der Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses abgewiesen. Begründend wurde auf das Gutachten vom 22.09.2021 sowie auf die Stellungnahme vom 14.10.2021, welche einen Bestandteil der Bescheidbegründung bilden würden, hingewiesen.
3. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin rechtzeitig Beschwerde und brachte unter Vorlage eines neuen Befundes vor, sie ersuche um Berücksichtigung des beiliegenden ärztlichen Gutachtens. Die Ausstellung eines Parkausweises würde ihr das tägliche Leben erleichtern.
In dem beigelegten Befundbericht von Dr. XXXX , Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie, vom 29.11.2021, berichtet dieser:
„(…) Nachfolgend berichte ich über die heutige Behandlung in meiner Ordination.
OrthopädischerDekurs
Anamnese:
Z.n. KTEp links
Klinische Untersuchung:
UE peripher neurologisch unauff.: keine relevante Muskelatrophie, KG 5 sämtlicher KM, unauffällige Sensibilität, kein Reflexdefizit, Sensibilität Reithosenbereich +, keine Miktions-/Defäkationsstörung, deutliche Gangunsicherheit
Diagnose:
Dauerdiagnose: M54.4 – Lumboischialgie beidseits, Facettgelenksarthrosen lumbal, Q66.6 – Knick-Plattfuß beidseits, OSG Arthrose beidseits, St.p.K-Tep (12.10.2021) links, St.p. K-Tep rechts
Weiteres Procedere:
Knie dzt laufende Besserung, laufende Therapie.
Insgesamt aber eine deutliche Einschränkung der Gehstrecke, auch Einsteigen in öffentliche Verkehrsmittel deutlich erschwert (hohe Stufen).
Ein Ansuchen für eine Behindertenparkausweis von orthopädischer Sicht wird befürwortet. (…)“
4. Am 09.12.2021 langte die Beschwerde samt Fremdakt beim Bundesverwaltungsgericht ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Gesetzliche Bestimmungen:
Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz - BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch einen Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
2. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchpunkt A):
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,
wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), § 28 VwGVG, Anm. 11.).
§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat.
Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 2. Satz ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer „Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).
Die im Beschwerdefall relevanten Bestimmungen des BBG, BGBl. Nr. 283/1990 idgF, ergänzt durch die VO BGBl. II Nr. 59/2014, lauten:
„§ 1. (2) Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.
§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn
1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder
2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder
3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder
...
5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.
(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.
§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn
1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder
2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder
3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.“
Maßgebend für die Entscheidung über den Antrag der Beschwerdeführerin auf Ausstellung eines Behindertenpasses ist die Feststellung der Art und des Ausmaßes der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Gesundheitsschädigungen sowie in der Folge die Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung.
Dazu hat die belangte Behörde im angefochtenen Verfahren nur ansatzweise Ermittlungen geführt.
In dem von der belangten Behörde eingeholten Sachverständigengutachten wurde von Dr. XXXX , Facharzt für Orthopädie, nach Durchführung einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 15.09.2021 der Gesamtgrad der Behinderung unter Anführung des Leidens „Aufbraucherscheinungen der Wirbelsäule und der grossen Gelenke oberer Rahmensatz berücksichtigt die Endoprothese rechtes Knie und die Gonarthrose links bei geringer Coxarthrose“ mit 40 v.H. eingeschätzt.
Obwohl die Beschwerdeführerin jedoch mit ihrem Beschwerdeschriftsatz einen neuen Befundbericht vorgelegt hat, aus dem sich klar ergibt, dass sie seit 12.10.2021 eine Endoprothese linkes Knie erhalten hat, somit letztlich sowohl am rechten als auch am linken Knie eine Endoprothese erhalten hat, wurde in der Folge kein neuerliches Sachverständigengutachten eines Facharztes für Orthopädie eingeholt.
Dies erscheint keinesfalls ausreichend zur Beurteilung des Beschwerdebildes der Beschwerdeführerin.
Das neu vorgelegte Beweismittel enthält konkrete Anhaltspunkte, dass jedenfalls die ergänzende Einholung eines Sachverständigengutachtens der Fachrichtung Orthopädie erforderlich ist, um eine vollständige und ausreichend qualifizierte Prüfung zu gewährleisten.
Zusätzlich monierte die Beschwerdeführerin, entgegen der Darstellung im Gutachten sei ein Zehenspitzen- und Fersenstand nicht von ihr verlangt worden, auch wäre dies – ohne Anhalten - nicht möglich, da sie an schlimmen Schmerzen leide.
Die seitens des Entscheidungsorganes erforderliche Überprüfung im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Der eingeholte medizinische Sachverständigenbeweis vermag die verwaltungsbehördliche Entscheidung nicht zu tragen.
Es ist nicht nachvollziehbar, warum die belangte Behörde darauf verzichtet hat, das Ermittlungsverfahren dahingehend zu erweitern, jedenfalls ergänzend ein weiteres Gutachten der Fachrichtung Orthopädie einzuholen.
Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat und sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung des Grades der Behinderung als so mangelhaft erweist, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.
Das Verwaltungsgericht hat im Falle einer Zurückverweisung darzulegen, welche notwendigen Ermittlungen die Verwaltungsbehörde unterlassen hat (Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015).
Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde jedenfalls ergänzend ein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten der Fachrichtung Orthopädie einzuholen haben, wobei die Ergebnisse unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen sind.
Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird die Beschwerdeführerin mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.
Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG - nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht „im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes und angesichts der im gegenständlichen Fall unterlassenen Sachverhaltsermittlungen - nicht ersichtlich.
Im Übrigen scheint die Zurückverweisung der Rechtssache an die belangte Behörde auch vor dem Hintergrund der seit 01.07.2015 geltenden Neuerungsbeschränkung in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 46 BBG zweckmäßig.
Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückzuverweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. u.a. Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, Ra 2015/01/0123 vom 06.07.2016, Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015, Ra 2015/08/0171 vom 27.01.2016, Ra 2015/10/0106 vom 24.02.2016) ausgeführt, warum die Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen geboten war.
Schlagworte
Behindertenpass Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung SachverständigengutachtenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W217.2249099.1.00Im RIS seit
05.01.2022Zuletzt aktualisiert am
05.01.2022