Entscheidungsdatum
14.12.2021Norm
BBG §42Spruch
W132 2243695-1/4E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ursula GREBENICEK als Vorsitzende und die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS sowie die fachkundige Laienrichterin Dr. Regina BAUMGARTL als Beisitzerinnen, über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , bevollmächtigt vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Wien vom 25.02.2021, OB: 39591384800087, betreffend die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass gemäß § 42 und § 45 Bundesbehindertengesetz (BBG), in Verbindung mit dem Vorlageantrag zur Beschwerdevorentscheidung vom 01.06.2021 beschlossen:
A)
In Erledigung der Beschwerde wird die angefochtene Beschwerdevorentscheidung behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
I. Verfahrensgang:
1. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Kurzbezeichnung: Sozialministeriumservice; in der Folge belangte Behörde genannt) hat der Beschwerdeführerin am 17.03.2016 einen unbefristeten Behindertenpass ausgestellt und einen Grad der Behinderung in Höhe von 50 vH eingetragen.
2. Mit Bescheid vom 24.08.2016 hat die belangten Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ abgewiesen.
2.1 Mit Erkenntnis vom 21.12.2016, GZ W200 2138225-1/3E hat das Bundesverwaltungsgericht die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
3. In Erledigung eines neuerlichen Antrages hat die belangte Behörde der Beschwerdeführerin einen bis 30.10.2018 befristeten Behindertenpass ausgestellt, weiterhin einen Grad der Behinderung in Höhe von 50 vH eingetragen und die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ vorgenommen.
4. Am 31.10.2018 hat die Beschwerdeführerin neuerlichen einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses gestellt welcher von der belangten Behörde aufgrund des in Höhe von 40 vH festgestellt Grades der Behinderung abgewiesen wurde.
5. Die Beschwerdeführerin hat am 14.09.2020 bei der belangten Behörde unter Vorlage eines Befundkonvolutes einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses und die Ausstellung eines Ausweises gem. § 29b gestellt, welcher auch als Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass gilt.
Nachstehend angeführte Beweismittel wurden in Vorlage gebracht:
XXXX 5.1. Zur Überprüfung des Antrages hat die belangten Behörde ein medizinisches Sachverständigengutachten von XXXX , Fachärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie sowie Ärztin für Allgemeinmedizin, basierend auf der persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 11.12.2020 mit dem Ergebnis eingeholt, dass der Grad der Behinderung zwar 50 vH beträgt, jedoch die Voraussetzungen für die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ nicht vorlägen.
Zusammengefasst wird im Sachverständigengutachten im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
? Insulinpflichtiger Diabetes mellitus II
? Charcotarthrophie rechts
? Femorisläsion links
? Anpassungsstörung, Depression
? Polyneuropathiesyndrom der oberen und unteren Extremitäten
Zur Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wird Folgendes ausgeführt:
„Es liegen keine Funktionsbeeinträchtigungen der unteren und oberen Extremitäten und der Wirbelsäule vor, welche die selbständige Fortbewegung im öffentlichen Raum sowie den sicheren, gefährdungsfreien Transport im öffentlichen Verkehrsmittel erheblich einschränkten. Die Einschränkung der Beweglichkeit im Bereich des linken Kniegelenkes und rechten Sprunggelenks und Fußes führt zwar zu einer Einschränkung der Gehstrecke, das objektivierbare Ausmaß des Defizits kann jedoch eine maßgebliche Erschwernis beim Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke von 300-400 m, allenfalls unter Verwendung eines einfachen Hilfsmittels und unter Verwendung von orthopädischen Schuhen, nicht ausreichend begründen. Niveauunterschiede können überwunden werden, da die Beugefunktion im Bereich der Hüftgelenke und Kniegelenke ausreichend ist. Die Gesamtmobilität ist nicht wesentlich eingeschränkt, Kraft und Koordination sind gut, ausreichende Standfestigkeit und Trittsicherheit konnten ohne Gehhilfe festgestellt werden. Ein Rollator wird anlässlich der h.o. Begutachtung benützt, wobei jedoch die vorhandenen Funktionsdefizite die behinderungsbedingte Notwendigkeit der Verwendung eines Rollators nicht begründen können. Im Bereich der oberen Extremitäten liegen keine höhergradigen Funktionseinschränkungen vor, das Erreichen von Haltegriffen und das Festhalten ist nicht eingeschränkt. Kraft und Koordination sind ebenfalls zufriedenstellend und stellen kein Hindernis dar. Es liegen keine erheblichen Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten vor.“
5.2. Im Rahmen des gemäß § 45 Abs. 3 AVG erteilten Parteiengehörs wurden keine Einwendungen erhoben.
5.3. Am 25.02.2021 hat die belangte Behörde der Beschwerdeführerin einen unbefristeten Behindertenpass ausgestellt, einen Grad der Behinderung in Höhe von 50 vH eingetragen und die Zusatzeintragung „Gesundheitsschädigung gem. §2 Abs. 1 erster Teilstrich VO 303/1996 liegt vor“ vorgenommen.
5.4. Mit dem Bescheid vom 25.02.2021 hat die belangte Behörde den Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass gemäß § 42 und § 45 BBG abgewiesen.
Ergänzend wurde von der belangten Behörde angemerkt, dass ein Ausweis gem. § 29 Straßenverkehrsordnung nicht ausgestellt werden könne, da die grundsätzlichen Voraussetzungen dafür, nämlich die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ im Behindertenpass, nicht vorlägen.
6. Gegen diesen Bescheid wurde von der bevollmächtigten Vertretung der Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde erhoben. Unter Vorlage medizinischer Beweismittel wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die Beschwerdeführerin unter anderem an insulinpflichtigem Diabetes mellitus, ausgeprägtem Muskelödem M. Quad li., ausgeprägter Gonalgie bei mukoider degen. hinteres Kreuzband, DP L4/5 mit tang. NW L5 beidseits, Dorsalgie, Costotransversalblockaden, Cervicobrachialgie, Lumbalgie, ISG Arthralgie/Blockierung und Charcot-Fuß rechts leide. Es bestehe ein aufgehobenes Fußgewölbe mit kaudaler Subluxation des Mittelfußes rechts, sowie deutliche Spreizung des Mittelfußes. Es bestehe ein Auseinanderweichen von OS cuneiforme mediale und intermedium mit destruktiven Veränderungen im Bereich der lisfrancschen Gelenkslinie rechts. Weiters bestünden Polyarthrosen, Talonavikular- und Calcaneocuboidarthrosen, Arthrosen im oberen und unteren Sprunggelenk und Fersensporn. Der Charcot-Fuß habe sich soweit verschlechtert, dass die Knochen auseinanderfallen würden und eine Operation erforderlich sei. Hinzu komme eine Femoralisläsion links, ein demyelinisierendes Neuropathiesyndrom an den unteren Extremitäten und ein sensomotorisches Neuropathiesyndrom an den oberen Extremitäten. Aufgrund der Hypästhesien und des unsicheren Gangbildes bestehe ein erhöhtes Sturzrisiko. Es sei der Beschwerdeführerin keinesfalls möglich eine Gehstrecke von 300 – 400 m aus eigener Kraft zurückzulegen. Sie benötige jedenfalls einen Rollator als Gehhilfe. Sie könne nicht frei gehen und keine Treppen steigen. Es sei auch der sichere Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht möglich.
6.1. In der Folge hat die belangte Behörde eine auf der Aktenlage basierende Stellungnahme der bereits befassten Sachverständigen DDr. XXXX vom 09.04.2021 mit dem Ergebnis eingeholt, dass die Voraussetzungen für die beantrage Zusatzeintragung nicht vorlägen.
6.2. Im Rahmen des gemäß § 45 Abs. 3 AVG erteilten Parteiengehörs wurde von der Beschwerdeführerin ein Ambulanzbrief des orthopädischen Spitals Speising vom 19.03.2021 vorgelegt.
Dieser Befund wurde von der belangten Behörde keiner weiteren Überprüfung unterzogen.
6.3. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 01.06.2021 hat die belangte Behörde im Rahmen der rechtzeitig ergangenen Beschwerdevorentscheidung, die fristgerecht eingelangte Beschwerde gegen den Bescheid vom 25.02.2021, betreffend die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass gemäß § 41, § 42 und § 46 BBG iVm § 14 VwGVG, abgewiesen.
Als Beilage zum Bescheid wurde der eingeholte Sachverständigenbeweis übermittelt.
7. Mit dem Schriftsatz vom 21.06.2021 hat die bevollmächtigte Vertretung der Beschwerdeführerin rechtszeitig die Vorlage der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht beantragt. Unter Vorlage eines Informationsschreibens zur operativen Vorbereitung vom 31.05.2021 wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass eine Verschlimmerung des Charcot-Fußes eingetreten sei, was eine Operation erforderlich mache. Es seien Befunde vorgelegt worden, in welchen eindeutig dargestellt werde, dass bei der Beschwerdeführerin ein ausgeprägtes sensomotorisches, demyelinisierendes Neuropathiesyndrom an den unteren Extremitäten bestehe. Auch sei im Befund des Orthopädiezentrums Wien Süd vom 09.12.2020 dargestellt, dass auf Grund der Hypästhesien in den Füßen ein unsicheres Gangbild bestehe, die Beschwerdeführerin mit einem Rollator mobil sei und das Treppensteigen nur mit Assistenz möglich sei. Diese Vorbringen seien nicht berücksichtigt worden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.).
Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.
Gemäß § 29 Abs. 1 zweiter Satz VwGVG sind die Erkenntnisse zu begründen. Für Beschlüsse ergibt sich aus § 31 Abs. 3 VwGVG eine sinngemäße Anwendung.
Zu A)
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,
1. wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes.
Der Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung vom prinzipiellen Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte aus.
Nach der Bestimmung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG kommt bereits nach ihrem Wortlaut die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht (vgl. auch Art. 130 Abs. 4 Z 1 B-VG). Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.
Ist die Voraussetzung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG erfüllt, hat das Verwaltungsgericht (sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist) "in der Sache selbst" zu entscheiden.
Das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, verlangt, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird.
Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).
Das verwaltungsbehördliche Verfahren erweist sich in Bezug auf den zur ermittelnden Sachverhalt aus folgenden Gründen als grob mangelhaft:
Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten. (§ 1 Abs. 2 BBG)
Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpaß auszustellen, wenn
1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder
2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder
3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder
4. für sie erhöhte Familienbeihilfe bezogen wird oder sie selbst erhöhte Familienbeihilfe beziehen oder
5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderten-einstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.
Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist u.a. jedenfalls einzutragen:
3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und
- erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder
- erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder
- erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder
- eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder
- eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach § 1 Abs. 4 Z 1 lit. b oder d
vorliegen. (§ 1 Abs. 4 Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen auszugsweise)
Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in § 1 Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen des Bundessozialamtes. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensations-möglichkeiten zu berücksichtigen.
(§ 1 Abs. 5 Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen)
Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Dieses Beweisthema ist somit nicht identisch mit der im Rahmen eines Verfahrens nach § 14 Abs. 2 oder 5 BEinstG vorzunehmenden Einschätzung des Grades der Behinderung, bei der die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit im Vordergrund stehen (siehe dazu das hg. Erkenntnis vom 20. März 2001, Zl. 2000/11/0321). Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. VwGH vom 23.05.2012, Zl. 2008/11/0128, und die dort angeführte Vorjudikatur sowie vom 22. Oktober 2002, Zl. 2001/11/0242, vom 27.01.2015, Zl. 2012/11/0186).
Maßgebend für die Entscheidung über den Antrag der Beschwerdeführerin auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ ist die Feststellung der Art, des Ausmaßes und der Auswirkungen der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Gesundheitsschädigungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel.
Dazu hat die belangte Behörde im angefochtenen Verfahren nur ansatzweise Ermittlungen geführt.
Der belangten Behörde war bereits bei Antragstellung bekannt, dass die Beschwerdeführerin an neurologischen, orthopädischen und internistischen Gesundheitsschädigungen leidet. Auch wurden diese Leiden von der Beschwerdeführerin durch medizinische Beweismittel bereits bei Antragstellung belegt. Die belangte Behörde hat zur Beurteilung der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Gesundheitsschädigungen jedoch nur ein orthopädisch/unfallchirurgisches Sachverständigengutachten eingeholt.
Diesem Sachverständigengutachten ist jedoch keine konkrete Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der neurologischen und der internistischen Leiden auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zu entnehmen.
Dies vor allem auch vor dem Hintergrund, dass im von der Beschwerdeführerin vorgelegten Befund des Orthopädiezentrums vom 09.12.2020 eindeutig dargestellt wird, dass die Beschwerdeführerin mit einem Rollator mobil ist und aufgrund der Hypästhesien an den Füßen ein unsicheres Gangbild vorliegt. Ebenso wird beschrieben, dass der Beschwerdeführerin das Treppensteigen nur mit Assistenz möglich ist. So wird im eingeholten Gutachten zwar aus diesem Befund zitiert, auf die darin ausgeführten Einschränkungen wird aber in der Stellungnahme vom 09.04.2021 nicht konkret eingegangen, sondern lediglich festgehalten, dass ausreichend Stand- und Trittsicherheit ohne Gehilfe vorlägen, wodurch das Erfordernis eines Rollators nicht begründbar sei. Hinsichtlich der bestehenden Hypästhesien und des Neuropathiesyndrom sowie deren Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel finden sich keine nachvollziehbaren bzw. begründeten Angaben.
Auch wird im Befund des Orthopädiezentrums vom 09.12.2020 beschrieben, dass sich die Beschwerdeführerin laufend schmerztherapeutischen Maßnahmen mit mikroinvasiven Infiltrationen zu unterziehen hat.
Es wurde von den Sachverständigen keine Stellungnahme zu Art und Ausmaß der Schmerzen, sowie deren Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel abgegeben. Dies wäre aber - auch vor dem Hintergrund der diesbezüglichen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 23.05.2012, 2008/11/0128; 20.10.2011, 2009/11/0032; 27.01.2015, 2012/11/0186) - im gegenständlichen Fall, auch im Hinblick auf die bei der Beschwerdeführerin vorliegenden festgestellten Funktionseinschränkungen des Stütz- und Bewegungsapparates, unbedingt erforderlich gewesen, um beurteilen zu können, inwieweit die Beschwerdeführerin dadurch an der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel (insbesondere beim Gehen, Stehen, Sitzen sowie Ein- und Aussteigen) gehindert wird.
Dies vor allem auch vor dem Hintergrund, dass die Beschwerdeführerin befunddokumentiert vorgebracht hat, an Diabetes zu leiden. So wird im Befund des orthopädischen Spitals Speising – welcher von der belangten Behörde nicht mehr der Begutachtung unterzogen wurde – dargestellt, dass auf Grund des Ausmaßes des Diabetes die erforderliche Operation des Charcotfußes aktuell nicht durchgeführt werden kann. Im eingeholten Gutachten wird nicht ausgeführt, ob aus dem Zusammenwirken der internistischen Leiden eine maßgebliche Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit bzw. Leistungsfähigkeit resultiert, welche die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel maßgeblich erschwert.
Der Mangel im verwaltungsbehördlichen Verfahren wurde sohin auch im Rahmen der Beschwerdevorentscheidung nicht behoben. Das zur Überprüfung des Beschwerdevorbringens eingeholte Sachverständigengutachten stellt keine taugliche Grundlage für die von der belangten Behörde zu treffende Entscheidung dar.
Zudem werden die vorgelegten Beweismittel zwar unter auszugsweiser Zitierung des Inhaltes in den eingeholten Gutachten aufgelistet, es wird jedoch nicht ausgeführt, welche Funktionsdefizite in den vorgelegten Befunden dokumentiert werden bzw. ob, gegebenenfalls in welcher Form, diese in der Beurteilung berücksichtigt worden sind. Ob bzw. inwieweit sich die in den vorgelegten Befunden bzw. Sachverständigengutachten dokumentierten Gesundheitsschädigungen der Beschwerdeführerin auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirken, wird nicht dargelegt. Insbesondere wurde auch – wie oben ausgeführt – der zuletzt vorgelegte Ambulanzbrief des Orthopädischen Spitals Speising vom 19.03.2021 – nicht in die Beurteilung miteinbezogen.
Die seitens des Entscheidungsorganes erforderliche Überprüfung im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Der eingeholte medizinische Sachverständigenbeweis vermag die verwaltungsbehördliche Entscheidung nicht zu tragen.
Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat, und sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die beantragte Zusatzeintragung als so mangelhaft erweist, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.
Das Verwaltungsgericht hat im Falle einer Zurückverweisung darzulegen, welche notwendigen Ermittlungen die Verwaltungsbehörde unterlassen hat. (Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015)
Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde medizinische Sachverständigengutachten der Fachrichtungen Neurologie und Innere Medizin - basierend auf persönlichen Untersuchungen der Beschwerdeführerin - zu den oben dargelegten Fragestellungen einzuholen, und die Ergebnisse unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens und der vorliegenden medizinischen Beweismittel bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen haben.
Anschließend hat sich die belangte Behörde mit der Rechtsfrage auseinanderzusetzen, ob der Beschwerdeführerin die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar ist.
Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird die Beschwerdeführerin mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.
Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann – im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG – nicht im Sinne des Gesetzes liegen.
Die unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht läge angesichts des gegenständlichen gravierend mangelhaft geführten verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens nicht im Interesse der Raschheit und wäre auch nicht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden. Zu berücksichtigen ist auch der - mit dem verwaltungsgerichtlichen Mehrparteienverfahren verbundene - erhöhte Aufwand.
Im Übrigen scheint die Zurückverweisung der Rechtssache an die belangte Behörde auch vor dem Hintergrund der seit 01.07.2015 geltenden Neuerungsbeschränkung in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 46 BBG zweckmäßig.
Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.
Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht, und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rascher und kostengünstiger festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. u.a. Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, Ra 2015/01/0123 vom 06.07.2016, Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015, Ra 2015/08/0171 vom 27.01.2016, Ra 2015/10/0106 vom 24.02.2016) ausgeführt, warum die Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen geboten war.
Schlagworte
Behindertenpass Ermittlungspflicht Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten ZusatzeintragungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W132.2243695.1.00Im RIS seit
05.01.2022Zuletzt aktualisiert am
05.01.2022