Entscheidungsdatum
30.08.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs3Spruch
L516 1410482-3/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Paul NIEDERSCHICK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb XXXX , StA Iran, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.03.2017, Zahl 500976309/161710197/BMI-BFA, zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs 2 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die ordentliche Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Beschwerdeführer ist iranischer Staatsangehöriger und stellte am 21.12.2016 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK gemäß § 55 Abs 1 AsylG. Mit gleichzeitig eingebrachter schriftlicher Stellungnahme vom selben Tag beantragte er die Heilung des Mangels der Vorlage eines Reisedokumentes. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies mit Bescheid vom 23.03.2017 (I.) den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG gemäß § 58 Abs 11 Z 2 AsylG als unzulässig zurück, erließ (II.) gemäß § 10 Abs 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 3 FPG und stellte (III.) gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Iran zulässig sei, gewährte (IV.) eine Frist für die freiwillige Ausreise und wies (V.) den Antrag vom „19.01.2017“ [richtig wohl: 21.12.2016] gemäß § 4 Abs 2 AsylG-DV ab.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Der Bescheid wird zur Gänze angefochten.
1. Sachverhaltsfeststellungen:
[Beweismittel-Abkürzungen: VA1=Verwaltungsakt des BFA zum ersten Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz; VA2=Verwaltungsakt des BFA zum zweiten Antrag; VA3=Verwaltungsakt des BFA zum gegenständlichen Verfahren; AS=Aktenseite des Verwaltungsaktes des BFA; OZ=Ordnungszahl des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes; ZMR=Zentrales Melderegister; GVS= Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich]
1.1 Der Beschwerdeführer führt in Österreich die im Spruch angeführten Namen sowie das ebenso dort angeführte Geburtsdatum. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Iran. Seine Identität steht nicht fest.
1.2 Der Beschwerdeführer reiste im Oktober 2009 in Österreich ein, stellte am 02.10.2009 einen Antrag auf internationalen Schutz (VA1, AS 15ff) der im Rechtsmittelweg vom damals zuständigen Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 09.08.2010 abgewiesen wurde; gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer in den Iran ausgewiesen (VA1, AS 187ff). Die Behandlung einer dagegen erhobenen Beschwerde wurde vom Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 09.03.2011 abgelehnt (VA1, AS 283ff).
1.3 Der Beschwerdeführer verließ in der Folge Österreich und hielt sich im Jahr 2011 etwa fünf Monate in Serbien auf, bevor er im Februar 2012 wieder in Österreich einreiste; seither hält er sich ununterbrochen im Bundesgebiet auf (VA2, AS 17; ZMR).
1.4 Am 28.02.2012 stellte der Beschwerdeführer erneut einen Antrag auf internationalen Schutz (VA2, AS 15ff), welcher im Rechtsmittelweg vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 11.05.2012 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen wurde; gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer erneut ausgewiesen (VA2, AS 277ff).
1.5 Der Beschwerdeführer verblieb in Österreich und stellte am 21.12.2016 beim BFA den verfahrensgegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK gemäß § 55 Abs 1 AsylG für eine Aufenthaltsberechtigung plus (VA3, AS 208ff) sowie zugleich einen Antrag auf Heilung des Mangels der Vorlage eines Reisedokumentes (VA3, AS 218).
1.6 Während seines Aufenthaltes im Bundesgebiet hat der Beschwerdeführer zertifizierte Deutschkenntnisse auf dem Sprachniveau A2 erworben (ÖSD Diplom vom 26.04.2013 VA3, AS 220), in den Jahren 2014 und 2015 das Gewerbe der Marktfahrers betrieben (Auszug Gewerberegister VA3, AS 244 und Auskunft Gewerbeabteilung AS 294), zwischenzeitig auf geringfügiger Basis in der Markbranche gearbeitet (Lohnzettel AS 227-243) und in Österreich freundschaftliche Beziehungen und ein soziales Netz aufgebaut (AS 218, 245). Er bezog zu keinem Zeitpunkt seines Aufenthaltes in Österreich Leistungen aus der Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich (GVS). Er ist strafrechtlich unbescholten (Strafregisterauszug).
2. Beweiswürdigung:
Die Sachverhaltsfeststellungen stützen sich auf die Verwaltungsverfahrensakten des BFA und den Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes. Die konkreten Beweismittel sind bei den Sachverhaltsfeststellungen bzw in der Beweiswürdigung jeweils in Klammer angeführt. Der festgestellte Sachverhalt ist zwischen den Parteien unstrittig und wird in Hinblick auf die vorliegenden Akten als erwiesen angesehen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
Ersatzlose Behebung des angefochtenen Bescheides (§28 Abs 2 VwGVG; § 4 AsylG-DV; § 55 und 58 Abs 11 Z 2 AsylG; § 9 BFA-VG; § 46, 52 und 55 FPG)
3.1 Das BFA wies mit Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG gemäß § 58 Abs 11 Z 2 AsylG als unzulässig zurück und mit nachfolgendem Spruchpunkt V den Antrag vom „19.01.2017“ [richtig wohl: 21.12.2016] gemäß § 4 Abs 2 AsylG-DV ab.
Auch wenn das BFA über den Antrag gemäß § 4 AsylG-DV auf Heilung erst mit Spruchpunkt V abgesprochen hat, so ist doch nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Frage der mangelnden Berechtigung eines Antrags auf Zulassung der Heilung von Mängeln einer Antragszurückweisung nach § 58 Abs 11 Z 2 AsylG 2005 vorgelagert. (VwGH 17.11.2016, Ra 2016/21/0314; 15.02.2021, Ra 2020/21/0494)
Zur Heilung nach § 4 Abs 1 Z 2 AsylG-DV
3.2 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Heilung nach § 4 Abs 1 Z 2 AsylG-DV 2005 ausgesprochen, dass die Bedingung, wonach die Erteilung des Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 MRK erforderlich sein muss, in jenen Konstellationen, in denen von Amts wegen ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen ist, voraussetzungsgemäß erfüllt ist. Auch im Fall eines Antrags auf Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels gilt, dass die Voraussetzungen für die verfahrensrechtliche Heilung nach § 4 Abs 1 Z 2 AsylG-DV 2005 die gleichen sind wie für die materielle Stattgabe des verfahrenseinleitenden Antrags. Die Prüfung, ob einem Heilungsantrag nach § 4 Abs 1 Z 2 AsylG-DV 2005 stattzugeben ist, unterscheidet sich also inhaltlich nicht von der Beurteilung, ob der Titel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen ist. Daraus folgt auch, dass bei einem Antrag nach § 55 AsylG 2005 in Bezug auf die Heilung nach § 4 Abs 1 AsylG-DV 2005 in erster Linie und vorrangig die Voraussetzungen der Z 2 der genannten Bestimmung zum Tragen kommen und dass es unzulässig ist, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 trotz Vorliegens der hierfür erforderlichen Voraussetzungen wegen Nichtvorlage von Identitätsdokumenten zurückzuweisen (VwGH 26.01.2017, Ra 2016/21/0168).
Die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG 2014 ist damit schon bei Prüfung des Heilungstatbestandes nach § 4 Abs. 1 Z 2 AsylGDV 2005 und damit im Zusammenhang mit der Frage der Erfüllung des Zurückweisungstatbestandes nach § 58 Abs 11 Z 2 AsylG 2005 vorzunehmen (VwGH 26.1.2017, Ra 2016/21/0168; 19.09.2019, Ra 2019/21/0103).
Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG 2014 im gegenständlichen Fall
3.3 Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an seinem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Außerdem erachtete der Verwaltungsgerichtshof auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte ein Überwiegen des persönlichen Interesses eines Fremden an einem Verbleib im Inland dann nicht als zwingend, wenn dem Umstände entgegen stehen, die das gegen diesen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0243).
Bei den Gesichtspunkten - unsicherer und ab rechtskräftiger Erledigung eines Asylantrages unrechtmäßiger Aufenthalt, Nichtbeachtung einer Ausreiseverpflichtung, Weigerung an der Erlangung eines Heimreisezertifikates mitzuwirken - handelt es sich um solche, die - in mehr oder weniger großem Ausmaß - typischerweise auf Personen zutreffen, die nach negativer Erledigung ihres Antrags auf internationalen Schutz insgesamt einen mehr als zehnjährigen inländischen und zuletzt jedenfalls unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet aufweisen; sie fallen somit - anders als in Fällen kürzerer Aufenthaltsdauer - nicht entscheidungswesentlich ins Gewicht. (VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0243)
3.4 Fallbezogen hält sich der Beschwerdeführer zum Entscheidungszeitpunkt gegenwärtig seit 02.10.2009 und somit seit fast zwölf Jahren – abgesehen von einem ungefähr fünfmonatigen Aufenthalt in Serbien im Jahr 2011 – durchgehend in Österreich auf. Im Fall, dass – wie auch im gegenständlichen Fall des Beschwerdeführers – ein insgesamt mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt für einige Monate unterbrochen war, legte der Verwaltungsgerichtshof seine Judikatur zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt des Fremden zugrunde. (vgl VwGH 17.03.2016, Ro 2015/22/0016)
Der Beschwerdeführer hat bereits im Jahr 2013 eine zertifizierte Deutschprüfung des Österreichischen Integrationsfonds für das Sprachniveau A2 bestanden. Er hat in den Jahren 2014 und 2015 das Gewerbe der Marktfahrers betrieben, zwischenzeitig auf geringfügiger Basis in der Markbranche gearbeitet und einen Freundeskreis mit österreichischen Staatsbürgern uns sein soziales Netz aufgebaut.
Der Beschwerdeführer ist gesund, arbeitsfähig und arbeitswillig und war bereits in der Vergangenheit zeitweilig erwerbstätig. An der zukünftigen Selbsterhaltungsfähigkeit und Selbsterhaltungswilligkeit des Beschwerdeführers bestehen deshalb keine Zweifel. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist nicht nur die gegenwärtige Selbsterhaltungsfähigkeit, sondern auch die Frage einer zukünftig erwartbaren Selbsterhaltungsfähigkeit durch eine erlaubte Beschäftigung einzubeziehen und dabei auf den hypothetischen Fall der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels, der die Ausübung einer unselbständigen Tätigkeit grundsätzlich gestattet. (VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282)
Der Beschwerdeführer ist auch strafrechtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer hat somit ein gewisses Maß an Integration erlangt und es kann unter Berücksichtigung der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, zu Personen die fast zehn Jahre oder darüber in Österreich aufhältig sind, nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer seine in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich zu integrieren. Eine nachhaltige Integration wird in solchen Fällen vom Verwaltungsgerichtshof nicht verlangt. (VwGH 04.03.2020, Ra 2020/21/0010)
Das Bundesverwaltungsgericht gelangt daher im konkret zu beurteilenden Fall hinsichtlich der bereits erfolgten Integration des Beschwerdeführers in die österreichische Gesellschaft unter Anwendung der zuvor zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu dem Ergebnis, dass unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des vorliegenden Falles das Interesse des Beschwerdeführers an der Fortführung seines Privatlebens in Österreich das öffentliche Interesse an einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme überwiegt. Es ist auch keine ausreichende Rechtfertigung zu erkennen, warum öffentliche Interessen es zwingend erfordern würden, dass der Beschwerdeführer Österreich verlassen müsste.
Vorliegen des Heilungstatbestandes nach § 4 Abs 1 Z 2 AsylG-DV 2005
3.5 Als Ergebnis der hier vorgenommenen Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG 2014 ergibt sich, dass der Beschwerdeführer die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK erfüllt.
Dem Heilungsantrag vom 21.12.2016 und damit der Beschwerde gegen Spruchpunkt V des angefochtenen Bescheides kommt damit Berechtigung zu. Der Heilungstatbestand nach § 4 Abs 1 Z 2 AsylG-DV 2005 liegt vor, weshalb sich in weiterer Folge auch die in Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides auf § 58 Abs 11 Z 2 AsylG 2005 gestützte Zurückweisung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 als unberechtigt erweist. (Dazu, dass ein ausdrücklicher positiver Abspruch über den Heilungsantrag ist nicht nötig ist, siehe VwGH 15.02.2021, Ra 2020/21/0494)
Damit können auch die angefochtenen Spruchpunkte II bis IV des angefochtenen Bescheides (Rückkehrentscheidung und die damit im Zusammenhang stehenden Aussprüche) keinen Bestand mehr haben.
Ergebnis
3.6 Der Beschwerde wird somit stattgegeben, der angefochtene Bescheid wird spruchgemäß zur Gänze ersatzlos behoben, um in der Folge die inhaltliche Erledigung des Antrags auf Titelerteilung – im stattgebenden Sinn – zu ermöglichen. (zu dieser Vorgehensweise siehe VwGH 26.01.2017, Ra 2016/21/0168)
Zu B)
Revision
3.8 Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, da die für den vorliegenden Fall relevante Rechtslage durch die zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geklärt ist.
3.9 Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
Aufenthaltsdauer Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK Deutschkenntnisse ersatzlose Behebung Integration Interessenabwägung Mängelheilung private Interessen Privatleben Rückkehrentscheidung behoben SelbsterhaltungsfähigkeitEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:L516.1410482.3.00Im RIS seit
29.12.2021Zuletzt aktualisiert am
29.12.2021