TE Vwgh Erkenntnis 2021/11/11 Ra 2019/21/0383

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Veröffentlicht am 11.11.2021
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art130 Abs2 Z1
FrPolG 2005 §52 Abs3
MRK Art8
NAG 2005 §45
VwGG §34 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §35

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie den Hofrat Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher, den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin Dr. Wiesinger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision der I M, vertreten durch Dr. Gustav Eckharter, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Museumstraße 5/15, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17. Oktober 2019, L515 2210231-1/6E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 und Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen sowie Zurückweisung eines Kostenbegehrens (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. zu Recht erkannt:

Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit damit die Beschwerde der Revisionswerberin gegen die Abweisung des Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und die Festsetzung einer Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurde, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

II. den Beschluss gefasst:

Im Übrigen, nämlich betreffend die Zurückweisung des in der Beschwerde gestellten Kostenersatzbegehrens, wird die Revision zurückgewiesen.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die im Oktober 1988 geborene Revisionswerberin, eine georgische Staatsangehörige, hielt sich von Ende 2011 bis November 2014 aufgrund von Aufenthaltsbewilligungen zunächst rechtmäßig in Österreich auf.

2        Am 19. Jänner 2015 heiratete die Revisionswerberin in Österreich einen 1985 geborenen und seit November 2003 hier durchgehend aufhältigen georgischen Staatsangehörigen, der über einen unbefristeten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ gemäß § 45 Abs. 1 NAG verfügt und mit dem sie seit Oktober 2014 im gemeinsamen Haushalt zusammenlebte. Nach ihrer Ausreise am 15. September 2016 stellte die Revisionswerberin am 10. Jänner 2017 bei der österreichischen Botschaft in Baku einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als Familienangehörige gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG, der mit Bescheid der Niederlassungsbehörde vom 18. Juli 2017 rechtskräftig abgewiesen wurde, weil der Aufenthalt der Revisionswerberin zu einer finanziellen Belastung im Sinne des § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG führen könnte.

3        Seit November 2017 befindet sich die Revisionswerberin wieder durchgehend bei ihrem Ehemann in Österreich. Der Ehe entstammt ein am 4. April 2019 geborenes Kind, dem von der Niederlassungsbehörde ein Aufenthaltstitel erteilt wurde.

4        Am 15. Jänner 2018 stellte die Revisionswerberin zur Aufrechterhaltung des Familienlebens den verfahrensgegenständlichen Antrag nach § 55 AsylG 2005 auf Erteilung eines „Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK“.

5        Mit Bescheid vom 23. Oktober 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag gemäß § 55 AsylG 2005 ab. Es erließ gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 3 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung der Revisionswerberin gemäß § 46 FPG nach Georgien zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG räumte es ihr eine Frist von zwei Wochen für ihre freiwillige Ausreise ein.

6        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 17. Oktober 2019 als unbegründet ab. Das in der Beschwerde gestellte Begehren, die belangte Behörde gemäß § 53 VwGVG zum Ersatz der Kosten des Beschwerdeverfahrens zu verpflichten, wurde „mangels Rechtsgrundlage“ beschlussmäßig als unzulässig zurückgewiesen. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG jeweils aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidung erhobene Revision nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

8        Zu I. (Aufhebung):

9        Bei der Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. etwa VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0016, Rn. 10, mwN).

10       Gemäß dem zuletzt genannten § 9 Abs. 3 BFA-VG kann sich eine Abwägung zu Gunsten des Fremden insbesondere dann ergeben, wenn ein Familienleben mit einer Person besteht, die über ein unbefristetes Niederlassungsrecht in Form eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt-EU“ nach § 45 NAG verfügt. In diesem Sinn hat der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass (dem Zusammenleben mit) einem dauerhaft niedergelassenen Ehepartner im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK große Bedeutung zukommt (vgl. etwa VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0271, Rn. 10, mwN; ähnlich VwGH 28.5.2020, Ra 2019/21/0294, Rn. 15).

11       Das BVwG hätte daher im vorliegenden Fall dem Umstand, dass dem Ehemann der Revisionswerberin ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ gemäß § 45 NAG erteilt wurde, maßgebliche Bedeutung beimessen müssen. Dem wurde das BVwG nicht gerecht.

12       Außerdem stellte das BVwG in besonderer Weise bei seiner Interessenabwägung in den Vordergrund, dass das Privat- bzw. Familienleben zum Teil zu einem Zeitpunkt begründet worden sei, als der Antrag der Revisionswerberin auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung bereits abgewiesen worden war und ihr Aufenthalt daher spätestens seit damals „unsicher“ im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG gewesen sei.

13       Der Verwaltungsgerichtshof hat jedoch schon wiederholt klargestellt, dass das Wissen um einen unsicheren Aufenthaltsstatus vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz habe, der während unsicheren Aufenthaltes erlangten Integration sei überhaupt kein Gewicht beizumessen und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse könne nie zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen (vgl. VwGH 20.8.2019, Ra 2019/18/0046, Rn. 22, mit dem Hinweis auf das schon erwähnte Erkenntnis VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0271, Rn. 13, mwN). Dem trug das BVwG nicht ausreichend Rechnung. Das gilt insbesondere auch für den Umstand, dass die Revisionswerberin - wenn auch nur auf Basis von Aufenthaltsbewilligungen - zunächst drei Jahre rechtmäßig in Österreich aufhältig war und schon in diesem Zeitraum das Familienleben mit ihrem (späteren) Ehemann begonnen hatte.

14       Das BVwG hielt der Revisionswerberin darüber hinaus vor, die Einreise und der Aufenthalt (seit November 2017) seien rechtswidrig und in gezielter Absicht erfolgt, das Fremden- und Niederlassungsrecht zu umgehen.

15       Es wird vom Verwaltungsgerichtshof zwar nicht verkannt, dass die Revisionswerberin durch ihre Einreise nach Abweisung ihres Antrages gemäß § 46 NAG versuchte, in Bezug auf ihren neuerlichen Aufenthalt vollendete Tatsachen zu schaffen. Trotzdem wäre es bei Berücksichtigung insbesondere der schon in Rn. 13 angesprochenen Umstände - entgegen der an einer Stelle seines Erkenntnisses vom BVwG auch vertretenen Meinung - fallbezogen vor allem unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls nicht gerechtfertigt, eine Trennung der Familienangehörigen für verhältnismäßig anzusehen. In einer solchen Situation wäre es - insoweit kann dem BVwG gefolgt werden - aber grundsätzlich möglich, die Beteiligten auf ein gemeinsames Familienleben im Heimatland zu verweisen (vgl. VwGH 10.4.2020, Ra 2020/21/0011, Rn. 14).

16       Die Annahme, das gemeinsame Familienleben könne in Georgien fortgesetzt werden, begründete das BVwG im Wesentlichen damit, dass der Ehemann der Revisionswerberin nicht über „dermaßen qualifizierte Bindungen“ in Österreich verfüge, welche ein gemeinsames Familienleben mit dem Kind in Georgien unzumutbar erscheinen ließen. Insbesondere existiere „keine herausragende berufliche oder gesellschaftliche Integration“.

17       Das greift für die Frage, ob es dem Ehemann der Revisionswerberin nach einem fast sechzehnjährigen durchgehenden Aufenthalt in Österreich und so langer Abwesenheit von seinem Heimatstaat zumutbar ist, sein unbefristetes Niederlassungsrecht und die damit verbundenen Ansprüche aufzugeben, zu kurz. Diesbezüglich wäre auch auf die konkret erwartbaren Verhältnisse bei einer Rückkehr nach Georgien Bedacht zu nehmen gewesen. Dafür genügte es nicht, nur allgemeine Feststellungen zum Bestehen eines Rückkehrprogrammes und von Sozialhilfeunterstützungen für Familien unter der Armutsgrenze zu treffen, sondern es wäre zu klären gewesen, welche Bedingungen die Revisionswerberin und ihr Ehemann bei einer Rückkehr mit einem Kleinkind nach Georgien ganz konkret erwarten. Die im Rahmen der „Feststellungen“ getroffene negative Konstatierung des BVwG, wonach nicht festgestellt werden könne, dass die Revisionswerberin im Falle einer Rückkehr nach Georgien über keine Existenzgrundlage verfügen würde, reicht hierfür nicht aus.

18       In der Revision wird überdies zutreffend vorgebracht, das BVwG habe nicht ausreichend begründet, wie es zu der Annahme gekommen sei, der Ehemann der Revisionswerberin verfüge in Georgien über eine Existenzgrundlage. Das BVwG stellte nämlich fest, er leide an rezidivierenden depressiven Episoden - derzeit mittelgradig - und an einer Anpassungsstörung. Insofern sei er in seiner beruflichen Tätigkeit eingeschränkt gewesen. Das BVwG knüpfte in der Folge nicht erkennbar an diese Feststellungen an. Auch vor diesem Hintergrund hätte es somit einer näheren Auseinandersetzung mit den bei einer Rückkehr erwartbaren Lebensverhältnissen der Familie - unter Einbeziehung des Gesundheitszustandes des Ehemannes der Revisionswerberin - in Bezug auf die Frage der Zumutbarkeit eines gemeinsamen Familienlebens in Georgien bedurft.

19       Die unbescholtene Revisionswerberin hielt sich - mit einer etwa einjährigen Unterbrechung - (bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG) insgesamt bereits sieben Jahre, teilweise rechtmäßig, in Österreich auf. Sie verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau B2, eine Einstellungszusage und mehrere Empfehlungsschreiben, sodass unter entsprechender Berücksichtigung des mit ihrem daueraufenthaltsberechtigten Ehemann und ihrem ebenfalls aufenthaltsberechtigten Kind geführtenFamilienlebens nicht ausgeschlossen ist, dass eine die aufgezeigten Fehler vermeidende und die maßgeblichen Gesichtspunkte vollständig berücksichtigende Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.

20       Das angefochtene Erkenntnis war daher in dem aus Spruchpunkt I. ersichtlichen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

21       Zu II. (Zurückweisung):

22       Unzutreffend ist die Ansicht der Revisionswerberin, aus § 53 VwGVG lasse sich ein Anspruch auf Ersatz der Kosten eines Bescheidbeschwerdeverfahrens ableiten (vgl. dazu bereits VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0103, Rn. 16). Diesbezüglich war die Revision daher mangels Vorliegens einer Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG in einem gemäß § 12 Abs. 3 VwGG gebildeten Fünfersenat mit Beschluss zurückzuweisen.

23       Die Entscheidung über den Aufwandersatz, der nur für die Revision in Betracht kommt, stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere auf § 50 VwGG, iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 11. November 2021

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019210383.L00

Im RIS seit

27.12.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.01.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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