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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
AVG §19Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger sowie die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des J L, vertreten durch Mag. Josef Phillip Bischof und Mag. Andreas Lepschi, Rechtsanwälte in 1090 Wien, Währinger Straße 26/1/3, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 3. Mai 2021, VGW-151/087/16299/2020-24, betreffend Wiederaufnahme eines Verfahrens iA Aufenthaltskarte und Zurückweisung von Anträgen auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid des Landeshauptmanns von Wien vom 9. November 2020 wurde das aufgrund des Antrages des Revisionswerbers, eines chinesischen Staatsangehörigen, vom 28. Juni 2013 auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte rechtskräftig abgeschlossene Verfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 und Abs. 3 AVG von Amts wegen wiederaufgenommen (Spruchpunkt I.) und dieser Antrag sowie ein zweiter Antrag des Revisionswerbers vom 7. Juni 2018 auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs. 1 in Verbindung mit § 30 Abs. 1 und 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) abgewiesen, da der Revisionswerber nicht in den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts falle (Spruchpunkt II.).
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde die dagegen gerichtete Beschwerde mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides dahin zu lauten habe, dass die Anträge des Revisionswerbers vom 28. Juni 2013 sowie vom 7. Juni 2018 auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs. 7 NAG zurückgewiesen würden und festgestellt werde, dass der Revisionswerber nicht in den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts falle. In den zu Spruchpunkt II. des Bescheides vom 9. November 2020 angeführten Rechtsgrundlagen sei § 54 Abs. 7 NAG zu ergänzen. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für zulässig.
3 Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in der neben dem Revisionswerber auch dessen zweite, von ihm mittlerweile ebenfalls geschiedene Ehegattin Y zeugenschaftlich befragt wurde, gelangte das Verwaltungsgericht Wien ebenso wie die Behörde zum Ergebnis, dass es sich bei der ersten, vom Revisionswerber am 23. Juni 2011 mit C, einer ungarischen Staatsangehörigen, in Ungarn geschlossenen und dort aufgrund eines am 15. Dezember 2014 eingebrachten Scheidungsantrages am 28. April 2015 wieder geschiedenen Ehe, auf die sich der Revisionswerber bei seiner Antragstellung berufen habe, aus näher dargelegten Gründen um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe.
4 Weiters stellte das Verwaltungsgericht fest, dass C zwar von 4. Februar 2013 bis 16. Dezember 2014 in Österreich gemeldet gewesen sei, sich aber tatsächlich nur bis zur Ausstellung der vom Revisionswerber beantragten Aufenthaltskarte in Österreich aufgehalten habe. Der Revisionswerber habe über einen ungarischen Aufenthaltstitel mit Gültigkeitsdauer von 3. Jänner 2013 bis 19. Dezember 2017 verfügt und sei in Ungarn an einer näher genannten Adresse gemeldet gewesen. Diese Wohnung sei von C bewohnt worden und sei von dieser aufgrund ihres nur vorübergehend geplanten Aufenthalts in Österreich auch während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet nicht aufgegeben worden. Der Revisionswerber, der in Österreich seit 29. Juli 2013 verschiedenen Erwerbstätigkeiten nachgegangen sei, sei zur Antragstellung am 28. Juni 2013 nach Österreich gekommen. Aufgrund dieses Antrages sei ihm am 19. Juli 2013 die Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts ausgefolgt worden. Danach habe C Österreich wieder verlassen und sei in ihre Wohnung nach Budapest zurückgekehrt. Im Zeitpunkt der Ausstellung der Aufenthaltskarte sei zwischen dem Revisionswerber und C kein Familienleben geführt worden.
5 Dem in der mündlichen Verhandlung unter Hinweis auf die letzten aktenkundigen Wohnorte der C gestellten Antrag des Revisionswerbers auf Ausforschung und Befragung von C zum Beweis dafür, dass zwischen dem Revisionswerber und C eine eheliche Beziehung vorgelegen habe, sei nicht nachzukommen gewesen, weil keine ladungsfähige Adresse der beantragten Zeugin angegeben worden sei. Bei im Ausland lebenden Personen sei es zudem Aufgabe der Partei, Personen, die als Zeugen vernommen werden sollten, stellig zu machen. Dies sei gegenständlich nicht erfolgt. Ein Rechtshilfeübereinkommen zwischen Österreich und Ungarn für Administrativverfahren sei dem Verwaltungsgericht nicht bekannt. Der Vollständigkeit halber sei anzumerken, dass der Revisionswerber schon während des behördlichen Verfahrens keinen Beitrag dazu geleistet habe, C ausfindig zu machen. Auch wenn der Revisionswerber keinen Kontakt mehr zu C habe, so hätte er zumindest versuchen können, deren Aufenthaltsort über seinen Freund Z und dessen Lebensgefährtin, die nach Angaben des Revisionswerbers mit C befreundet gewesen sei, herauszufinden bzw. Kontakt aufzunehmen.
6 Da es sich bei der vom Revisionswerber mit C geschlossenen Ehe um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe, sei Spruchpunkt I. des Bescheides des Landeshauptmanns von Wien vom 9. November 2020 zu bestätigen gewesen. § 54 Abs. 7 NAG sei auch in der vorliegenden Konstellation anwendbar. Folglich sei Spruchpunkt II. des Bescheides vom 9. November 2020 in diesem Sinne abzuändern bzw. zu ergänzen gewesen.
7 Das Vorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung begründete das Verwaltungsgericht damit, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Anwendbarkeit des § 54 Abs. 7 NAG in Konstellationen fehle, in denen eine Aufenthaltsehe im Entscheidungszeitpunkt deshalb nicht mehr vorliege, weil diese bereits geschieden worden sei.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, die zur Begründung ihrer Zulässigkeit auf die diesbezüglichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts verweist und darüber hinaus insbesondere geltend macht, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht von der Vernehmung der beantragten Zeugin C abgesehen. Aus dem in den Verfahrensakten befindlichen „Scheidungspapieren“ gehe eine detaillierte ladungsfähige Adresse der C hervor.
9 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
10 Die Revision erweist sich aus den vom Verwaltungsgericht und von der Revision aufgezeigten Gründen als zulässig; im Hinblick auf das oben wiedergegebene Zulässigkeitsvorbringen der Revision ist diese auch berechtigt.
11 Gemäß § 54 Abs. 7 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, ist, wenn eine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§ 30), eine Zwangsehe oder Zwangspartnerschaft (§ 30a) oder eine Vortäuschung eines Abstammungsverhältnisses oder einer familiären Beziehung zu einem unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürger vorliegt, ein Antrag gemäß Abs. 1 zurückzuweisen und die Zurückweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass der Antragsteller nicht in den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts fällt.
12 In den Materialien wird zu dieser mit dem FrÄG 2009 eingefügten Bestimmung Folgendes ausgeführt (RV 330 BlgNR 24. GP, 52):
„Der vorgeschlagene Abs. 7 sieht in Umsetzung von Art. 35 Freizügigkeitsrichtlinie vor, dass im Falle von Rechtsmissbrauch, hier konkret bei Vorliegen einer Aufenthaltsehe oder Aufenthaltsadoption (§ 30), einer Zwangsehe (§ 30a), einer Vortäuschung eines Abstammungsverhältnisses oder einer familiären Beziehung zu einem gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürger die begünstigenden Normen des § 55 und die Sondernormen des FPG für begünstigte Drittstaatsangehörige nicht zur Anwendung kommen, sondern der Antrag auf Ausstellung einer Dokumentation - unbeschadet fremdenpolizeilicher Maßnahmen - mangels tatsächlichen Bezugs zu einem EWR-Bürger konsequenterweise zurückzuweisen ist. Dies entspricht auch den Intentionen des Regierungsprogramms zur XXIV. Gesetzgebungsperiode (Punkt 2.1 Kein Zuwanderungsmissbrauch unter Berufung auf Mobilität).“
13 Was den Anwendungsbereich des § 54 Abs. 7 NAG betrifft, ist der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts zuzustimmen: Diese Bestimmung greift, wenn es sich bei der Ehe, auf die sich der Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte stützte, um eine Aufenthaltsehe handelte, mangels tatsächlichen Bezugs zu einem EWR-Bürger (siehe die zitierten Materialien) auch in der gegenständlichen Konstellation, in der die betreffende Ehe zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bereits geschieden war. Der Revisionswerber hat, worauf es für die Frage der Anwendbarkeit der Bestimmung des § 54 Abs. 7 NAG bei Bestehen einer Aufenthaltsehe ankommt, die in Rede stehenden Anträge auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte im Hinblick auf die betreffende Ehe mit C gestellt. Dies gilt nicht nur für dessen ersten Antrag vom 28. Juni 2013, sondern auch für dessen zweiten Antrag vom 7. Juni 2018, in dem er auf die ihm im Juli 2013 (aufgrund der mit C eingegangenen Ehe) ausgestellte Aufenthaltskarte verwiesen hatte. Der Umstand, dass die Ehe des Revisionswerbers mit C mittlerweile geschieden wurde, stünde der Anwendbarkeit des § 54 Abs. 7 NAG somit nicht entgegen.
14 Zum Antrag des Revisionswerbers vom 7. Juni 2018 ist im Übrigen klarstellend anzumerken, dass aufgrund dessen, dass - wie vom Verwaltungsgericht festgestellt und in der Revision nicht substantiiert bekämpft - C Österreich vor Einleitung des Scheidungsverfahrens dauerhaft verlassen hatte, entgegen der von der Behörde an den Revisionswerber ergangenen Mitteilung vom 16. Juni 2015 und ungeachtet der Frage, ob fallbezogen eine Aufenthaltsehe vorlag, nicht von einem Fortbestand der unionsrechtlichen Aufenthaltsberechtigung des Revisionswerbers auszugehen wäre (siehe z.B. VwGH 9.9.2021, Ra 2021/22/0142, Rn. 11). Eine aktuelle unionsrechtliche Aufenthaltsberechtigung des Revisionswerbers ist demnach nicht ersichtlich. Daher wäre, obgleich für den Fall, dass keine Aufenthaltsehe bestanden haben sollte (siehe dazu unten), nicht die in § 54 Abs. 7 NAG vorgesehenen Absprüche zu treffen gewesen wären, dem Antrag des Revisionswerbers vom 7. Juni 2018 im Hinblick auf den vorzeitigen Wegzug von C jedenfalls nicht stattzugeben gewesen.
15 Die Revision vermag allerdings, was sowohl für die vom Verwaltungsgericht bestätigte Wiederaufnahme des Verfahrens als auch für die im angefochtenen Erkenntnis nach § 54 Abs. 7 NAG getroffenen Absprüche über die Anträge vom 28. Juni 2013 und vom 7. Juni 2018 von Bedeutung ist, erfolgreich geltend zu machen, dass die Feststellungen des Verwaltungsgerichts zum fehlenden Familienleben des Revisionswerbers mit C insofern nicht auf einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren beruhen, als dem Beweisantrag des Revisionswerbers auf „Ausforschung und Befragung“ der C nicht entsprochen wurde.
16 Auch wenn ein Zeuge im Ausland in der Regel nicht zum persönlichen Erscheinen verhalten werden kann (zu verwaltungsstrafrechtlichen Verfahren vgl. VwGH 14.12.2020, Ra 2020/08/0113, Rn. 7), trifft es zu, dass in Anbetracht der aktenkundigen ungarischen Adressen der C vom Verwaltungsgericht zumindest der Versuch zu unternehmen gewesen wäre, die für die Klärung der hier relevanten Fragen offenkundig entscheidende Zeugin C unter Heranziehung der in Betracht kommenden, bereits bekannten Anschriften zu laden. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass etwa die im Akt im Zusammenhang mit dem Scheidungsverfahren ausgewiesene ungarische Adresse für eine Ladung der C nicht (mehr) geeignet wäre (auf die diesbezüglichen Unterlagen wurde im angefochtenen Erkenntnis hingegen anderweitig Bezug genommen), beispielsweise, weil C mittlerweile ihren Wohnort gewechselt hätte, wurden vom Verwaltungsgericht zudem nicht aufgezeigt. Darüber hinaus wäre allenfalls auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen gewesen, über die zuständige ungarische Vertretungsbehörde Auskunft über die aktuelle Meldeadresse der C zu erhalten.
17 Vor diesem Hintergrund befreite der Umstand, dass der Revisionswerber nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Gelegenheit gehabt hätte, eigene Anstrengungen zur Eruierung des konkreten Aufenthaltsorts der C zu unternehmen, das Verwaltungsgericht nicht davon, die soeben angesprochenen Verfahrensschritte zu setzen.
18 Die vom Verwaltungsgericht im Zusammenhang mit der Abstandnahme von der Aufnahme des gegenständlichen Zeugenbeweises angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs ist für das vorliegende Verfahren nicht einschlägig. Einerseits handelt es sich hier um kein Abgabenverfahren. Andererseits lagen bereits aktenkundige Adressen der C vor.
19 Aus den dargelegten Erwägungen belastete das Verwaltungsgericht Wien, indem es dem in Rede stehenden Beweisantrag des Revisionswerbers ohne ausreichende Begründung nicht entsprach, das angefochtene Erkenntnis mit einem relevanten Verfahrensmangel. Dieses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
20 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 18. November 2021
Schlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere Rechtsgebiete Beweismittel Zeugen Beweismittel Zeugenbeweis Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Zeugenbeweis Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Verfahrensmangel Verfahrensbestimmungen Beweiswürdigung AntragEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RO2021220012.J00Im RIS seit
27.12.2021Zuletzt aktualisiert am
04.01.2022