TE Vwgh Erkenntnis 2021/11/18 Ro 2021/22/0006

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Veröffentlicht am 18.11.2021
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103000
E6J
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §35
BFA-VG 2014 §9
EURallg
MRK Art8
NAG 2005 §2 Abs1 Z9 idF 2018/I/056
NAG 2005 §46
NAG 2005 §46 Abs1 Z2 litc idF 2020/I/145
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §24
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art10 Abs3 lita
62016CJ0550 A und S VORAB

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ro 2021/22/0007
Ro 2021/22/0008
Ro 2021/22/0009
Ro 2021/22/0010
Ro 2021/22/0011

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger sowie die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision von 1. L B, 2. R B, 3. O B, 4. N B, 5. R B, und 6. N B, alle vertreten durch Mag. Thomas Braun, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Berggasse 4/Stg.1/Top 7, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 6. August 2020, 1. VWG-151/091/9007/2020-2, 2. VGW-151/091/9009/2020, 3. VGW-151/091/9011/2020, 4. VGW-151/091/9014/2020, 5. VGW-151/091/9017/2020 und 6. VGW-151/091/9015/2020, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Erstrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der zweit- bis sechstrevisionswerbenden Parteien. Sie alle sind afghanische Staatsangehörige und beantragten am 22. März 2019 jeweils die (erstmalige) Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).

2        Mit Bescheiden vom 8. Juni 2020 wies der Landeshauptmann von Wien diese Anträge jeweils gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 in Verbindung mit § 46 Abs. 1 Z 2 NAG ab. Begründend führte die Behörde dazu unter Hinweis auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 12. April 2018, A und S, C-550/16, aus, dass zwar der zusammenführende, in Österreich asylberechtigte Sohn bzw. Bruder der revisionswerbenden Parteien, ebenfalls ein afghanischer Staatsangehöriger, erst während des Asylverfahrens volljährig geworden sei, jedoch die vorliegenden Anträge auf Familienzusammenführung mehr als drei Monate nach Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an den Zusammenführenden gestellt worden seien.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen gerichtete Beschwerde der revisionswerbenden Parteien gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG als unbegründet ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für zulässig.

4        Das Verwaltungsgericht stellte fest, der Sohn bzw. Bruder der revisionswerbenden Parteien (Zusammenführender) sei am 1. Jänner 2000 geboren und am 1. Jänner 2018 volljährig geworden. Er habe am 17. Dezember 2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Dieser sei ihm mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 22. November 2018 gewährt worden, wobei die diesbezügliche Rechtsmittelfrist am 20. Dezember 2018 geendet habe. Zwischen dem Zusammenführenden und den revisionswerbenden Parteien bestehe lediglich sporadisch (rund alle zwei Monate) telefonischer Kontakt.

5        In rechtlicher Hinsicht ging das Verwaltungsgericht davon aus, dass den revisionswerbenden Parteien als leibliche Mutter bzw. Geschwister des nunmehr erwachsenen Zusammenführenden ein Familienverfahren gemäß § 34 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) nicht offenstehe. Folglich sei ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 46 NAG zu prüfen. Als Mutter bzw. Geschwister des Zusammenführenden seien sie nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG [jedoch] keine Familienangehörigen des Zusammenführenden.

6        Sie hätten auch keinen unmittelbar aus Art. 8 EMRK ableitbaren Anspruch auf Familiennachzug, „aufgrund dessen eine Abkoppelung des Begriffs des ‚Familienangehörigen‘ von dessen Legaldefinition vorzunehmen wäre“. Die revisionswerbenden Parteien lebten in Afghanistan, wobei sie den Kontakt zu dem in Österreich lebenden Zusammenführenden lediglich sporadisch telefonisch wahrnähmen. Zwischen den revisionswerbenden Parteien und dem Zusammenführenden bestehe kein besonderes Abhängigkeitsverhältnis. Vom Verwaltungsgericht werde nicht verkannt, dass die Trennung von dem damals minderjährigen Zusammenführenden durch dessen Ausreise aus Afghanistan herbeigeführt worden sei; doch sei zu berücksichtigen, dass die revisionswerbenden Parteien mit dem Zusammenführenden seit nunmehr knapp fünf Jahren nicht mehr zusammenlebten. Auch sonst seien keine Gründe, die den Nachzug der Mutter und der Geschwister zum Zusammenführenden aus Gründen des Art. 8 EMRK geboten erscheinen ließen, vorgebracht worden und es seien solche auch nicht ersichtlich.

7        Aus Art. 10 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2003/86/EG (Richtlinie des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung) ergebe sich ebenfalls kein Anspruch auf Familiennachzug. Der Zusammenführende sei zwar als unbegleiteter Minderjähriger im Sinne der zuletzt genannten Bestimmung anzusehen, jedoch hätten die revisionswerbenden Parteien die gegenständlichen Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln erst vier Monate nach Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an den Zusammenführenden gestellt. Somit hätten die revisionswerbenden Parteien die nach der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich zu beachtende Frist des Art. 12 der Richtlinie 2003/86/EG von drei Monaten ab Zuerkennung des Flüchtlingsstatus - gerechnet ab Rechtskraft des Bescheides, mit dem dem Zusammenführenden der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden sei, somit ab 20. Dezember 2018 - überschritten.

8        Aufgrund des Verweises auf Art. 12 der Richtlinie 2003/86/EG im oben genannten Urteil des EuGH vom 12. April 2018 sei davon auszugehen, dass die zu dieser Richtlinienbestimmung ergangene Judikatur (Hinweis auf EuGH 7.11.2018, K und B, C-380/17, sowie VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0568) auch auf die vorliegende Konstellation übertragbar sei. „Grundsätzlich“ sei daher ein Antrag, mit dem ein Elternteil gemäß Art. 10 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2003/86/EG einen Aufenthaltstitel zur Familienzusammenführung mit einem zum Zeitpunkt der Beantragung von Asyl minderjährigen unbegleiteten Flüchtling anstrebe, innerhalb von drei Monaten ab Zuerkennung des Flüchtlingsstatus zu stellen, wenn nicht eine spätere Antragstellung aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar sei. Solche besonderen Umstände lägen fallbezogen nicht vor. Insbesondere sei auch im Bekanntwerden des oben angeführten Urteils des EuGH vom 12. April 2018 kein derartiger Umstand zu erblicken, zumal es sich dabei um eine bloße Auslegung der bestehenden Rechtslage gehandelt habe und davon weder die revisionswerbenden Parteien noch der Zusammenführende anders als andere betroffen gewesen seien.

9        Die gegenständlichen Anträge seien daher mangels Vorliegen der besonderen Erteilungsvoraussetzungen abzuweisen gewesen.

10       Die Zulässigkeit der Revision im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B-VG begründete das Verwaltungsgericht u.a. dahin, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur Frage fehle, ob die im Urteil des EuGH vom 12. April 2018, C-550/16, und im hg. Erkenntnis vom 3. Mai 2018, Ra 2017/19/0609 bis 0611, angeführte dreimonatige Frist als absolute Frist anzusehen sei, die die Behörde gegebenenfalls auch zu einer Zurückweisung eines Antrags auf Familienzusammenführung wegen Verspätung berechtige.

11       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Revision, die sich betreffend ihre Zulässigkeit u.a. auf die Zulassungsentscheidung des Verwaltungsgerichts beruft.

12       Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

13       Zu einem an die Parteien ergangenen Vorhalt des Verwaltungsgerichtshofs betreffend die Zustellung des Bescheides des BFA vom 22. November 2018 übermittelten die revisionswerbenden Parteien eine Stellungnahme. Seitens der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde langte innerhalb der vom Verwaltungsgerichtshof gesetzten Frist keine Äußerung ein.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

14       Im Hinblick auf das oben dargestellte Vorbringen erweist sich die Revision als zulässig; sie ist auch berechtigt.

15       Gemäß Art. 10 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2003/86/EG gestatten die Mitgliedstaaten, wenn es sich bei einem Flüchtling um einen unbegleiteten Minderjährigen handelt, ungeachtet der in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe a) genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zwecke der Familienzusammenführung.

16       Gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 NAG in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018 ist im Sinne dieses Bundesgesetzes Familienangehöriger, wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie); dies gilt weiters auch für eingetragene Partner; Ehegatten und eingetragene Partner müssen das 21. Lebensjahr zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits vollendet haben; lebt im Fall einer Mehrfachehe bereits ein Ehegatte gemeinsam mit dem Zusammenführenden im Bundesgebiet, so sind die weiteren Ehegatten keine anspruchsberechtigten Familienangehörigen zur Erlangung eines Aufenthaltstitels.

17       Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen ist gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2020 ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen, und ein Quotenplatz vorhanden ist und der Zusammenführende Asylberechtigter ist und § 34 Abs. 2 AsylG 2005 nicht gilt.

18       Mit Hinweis auf den asylspezifischen Zweck des § 35 AsylG 2005 hat der Verwaltungsgerichtshof bereits entschieden, dass die Familienzusammenführung in Fällen, in denen den nachziehenden Familienangehörigen ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 nach Einreise in das Bundesgebiet nicht offensteht, über das NAG zu erfolgen habe (siehe grundlegend VwGH 3.5.2018, Ra 2017/19/0609 bis 0611, Rn. 27 ff). Vorliegend ist das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die mittlerweile eingetretene Volljährigkeit des in Österreich asylberechtigten zusammenführenden Sohns der Erstrevisionswerberin sowie aufgrund des Umstands, dass die zweit- bis sechstrevisionswerbenden Geschwister des Zusammenführenden (von vornherein) nicht als dessen Familienangehörige im Sinn von § 35 Abs. 5 AsylG 2005 zu betrachten sind, demgemäß zutreffend davon ausgegangen, dass ein Anspruch der revisionswerbenden Parteien auf Familienzusammenführung nach den Bestimmungen des NAG zu prüfen ist.

19       Es ist dem Verwaltungsgericht weiters darin beizupflichten, dass die revisionswerbenden Parteien (von vornherein) nicht als Familienangehörige im Sinn von § 2 Abs. 1 Z 9 NAG zu qualifizieren sind.

20       Einen somit in der vorliegenden Konstellation in den Blick zu nehmenden Anspruch auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2003/86/EG (sowie einen daraus resultierenden Anspruch auf Titelerteilung nach dem NAG) hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen deshalb verneint, weil es davon ausging, dass die gegenständlichen Anträge der revisionswerbenden Parteien nicht innerhalb der vom EuGH in seinem Urteil vom 12. April 2018, A und S, C-550/16, Rn. 61, angesprochenen Frist gestellt worden seien. Dazu ist Folgendes festzuhalten:

21       Dem angefochtenen Erkenntnis scheint die Auffassung zugrunde zu liegen, dass der Bescheid des BFA vom 22. November 2018, mit dem dem zusammenführenden Sohn bzw. Bruder der revisionswerbenden Parteien der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden war, bereits am 22. November 2018 rechtswirksam zugestellt worden sei. Davon ausgehend errechnete das Verwaltungsgericht angesichts einer vierwöchigen Beschwerdefrist den Eintritt der Rechtskraft dieses Bescheides mit (Ablauf des) 20. Dezember 2018. Die am 22. März 2019 eingebrachten Anträge der revisionswerbenden Parteien erachtete das Verwaltungsgericht Wien daher als nicht innerhalb von drei Monaten ab Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an den Zusammenführenden - gerechnet ab Rechtskraft des „Zuerkennungsbescheides“ - gestellt.

22       In diesem Zusammenhang ist dem Verwaltungsgericht zunächst vorzuwerfen, dass es sich in seinen Erwägungen mit der Frage der Zustellung des Bescheides des BFA vom 22. November 2018 in keiner Weise auseinandersetzte. Aus den dem Verwaltungsgerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich lediglich eine Zustellung dieses Bescheides an den örtlich in Betracht kommenden Kinder- und Jugendhilfeträger, die MA 11 - Wiener Kinder- und Jugendhilfe, am 22. November 2018. Zu diesem Zeitpunkt war der am 1. Jänner 2000 geborene Zusammenführende allerdings bereits volljährig, sodass eine aufrechte Vertretungsbefugnis des Kinder- und Jugendhilfeträgers zu dem genannten Zeitpunkt sowie eine rechtswirksame Zustellung des Bescheides vom 22. November 2018 anhand der vorgelegten Verfahrensakten nicht ersichtlich sind.

23       Folglich ist eine Versäumung der vom Verwaltungsgericht Wien als maßgeblich erachteten Frist weder anhand der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses noch anhand der vorgelegten Verfahrensakten nachvollziehbar. Vom Verwaltungsgericht wurden auch keine Feststellungen zu einer allfälligen später eingetretenen Heilung des in Rede stehenden Zustellmangels getroffen, auf die von den revisionswerbenden Parteien in ihrer oben erwähnten Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof verwiesen wird; diesbezügliche Ermittlungen und darauf aufbauende Feststellungen wären jedoch zur Begründung der vom Verwaltungsgericht angenommenen Fristversäumnis unverzichtbar gewesen.

24       Das Fehlen diesbezüglicher Feststellungen führt somit dazu, dass den vom Verwaltungsgericht zur Versäumung der in Rede stehenden Frist angestellten Überlegungen die Grundlage entzogen ist und sich die betreffende Begründung des angefochtenen Erkenntnisses als nicht tragfähig erweist. Eine nähere Auseinandersetzung mit den zur genannten Frist bestehenden unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. dazu das Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Wien vom 25. September 2020, VGW-151/032/6405/2020-13, VGW-151/032/6407/2020 und VGW-151/032/6409/2020, im Verfahren vor dem EuGH protokolliert zu C-560/20) sowie mit der fallbezogenen Anwendung einer solchen Frist, deren Versäumung - sofern sie als maßgeblich zu betrachten wäre - jedenfalls die rechtswirksame (auch dem konkreten Zeitpunkt nach zu ermittelnde) Zustellung des betreffenden Bescheides über die Zuerkennung von Asyl vorausgesetzt hätte, erübrigt sich daher.

25       Dem Umstand, dass schon die den verwaltungsgerichtlichen Überlegungen zugrunde gelegte Fristversäumnis nicht ersichtlich ist, kommt gegenständlich jedenfalls insoweit (unmittelbare) Bedeutung zu, als das Verwaltungsgericht die Abweisung des Antrags der Erstrevisionswerberin (Mutter der zweit- bis sechstrevisionswerbenden Parteien sowie des Zusammenführenden, bei dem es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen im Sinne der Richtlinie 2003/86/EG gehandelt hatte) bestätigte und deren im Lichte des Art. 10 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2003/86/EG und des dazu ergangenen Urteils des EuGH vom 12. April 2018 näher zu prüfenden Anspruch auf Familienzusammenführung mit Hinweis auf eine Fristversäumnis verneinte.

26       Daraus ergeben sich auch (mittelbare) Auswirkungen auf das Verfahren der zweit- bis sechstrevisionswerbenden Parteien, obgleich vorweg klarzustellen ist, dass die revisionswerbenden Geschwister des Zusammenführenden unabhängig vom Zeitpunkt der jeweiligen Antragstellung sowie unabhängig von ihrem Alter bzw. dem Alter des Zusammenführenden nicht nur nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG nicht als Familienangehörige zu qualifizieren sind, sondern - anders als die Erstrevisionswerberin - auch (von vornherein) nicht zu dem in Art. 10 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2003/86/EG genannten Personenkreis zählen.

27       Die Erteilung eines Aufenthaltstitels für die zweit- bis sechstrevisionswerbenden Parteien käme aber dann in Betracht, wenn dies durch Art. 8 EMRK geboten wäre (zur Abkoppelung des Begriffs des Familienangehörigen von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG zur Vermeidung eines verfassungswidrigen Ergebnisses siehe ebenfalls VwGH 3.5.2018, Ra 2017/19/0609 bis 0611, nunmehr Rn. 36, mwN).

28       Eine im Lichte von Art. 8 EMRK vorzunehmende Prüfung der Anträge der zweit- bis sechstrevisionswerbenden Parteien hätte aber für den Fall der positiven Erledigung des Antrags der Erstrevisionswerberin - eine stichhaltige Begründung für dessen Abweisung ist dem angefochtenen Erkenntnis wie dargelegt nicht zu entnehmen - nicht nur (so wie dies im angefochtenen Erkenntnis erfolgte) im Hinblick auf die Bindungen der zweit- bis sechstrevisionswerbenden Parteien zu deren zusammenführendem Bruder, sondern vor allem auch in Bezug auf deren Bindungen zur Erstrevisionswerberin (Mutter) zu erfolgen. Im Übrigen wäre dann bei der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung, und zwar insbesondere sofern die Anträge der minderjährigen revisionswerbenden Parteien betroffen sind, auch die konkret zu erwartende Lebenssituation der zweit- bis sechstrevisionswerbenden Parteien in Afghanistan bei einem Wegzug ihrer Mutter zu berücksichtigen.

29       Im Fall der Erteilung des von der Erstrevisionswerberin beantragten Titels wären daher betreffend das Verfahren der zweit- bis sechstrevisionswerbenden Parteien zur Erhebung und Feststellung der für eine Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK relevanten Sachverhaltselemente auch weitere amtswegige Ermittlungsschritte, in der vorliegenden Konstellation u.a. im Rahmen einer mündlichen Verhandlung, vom Verwaltungsgericht durchzuführen (gewesen).

30       Aus den dargelegten Erwägungen belastete das Verwaltungsgericht Wien das angefochtene Erkenntnis mit (prävalierender) inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Dieses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

31       Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte im Hinblick auf § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG unterbleiben.

32       Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff, insbesondere auf § 53 Abs. 1 VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 18. November 2021

Gerichtsentscheidung

EuGH 62016CJ0550 A und S VORAB

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 Verfahrensbestimmungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RO2021220006.J00

Im RIS seit

27.12.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.01.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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