Index
001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
ASVG §293 Abs1 idF 2019/I/084Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger sowie die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des E M, vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 15. März 2021, VGW-151/085/11053/2020-21, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Am 17. September 2019 stellte der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Ghanas, einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“.
2 Mit Bescheid vom 18. Mai 2020 wies der Landeshauptmann von Wien diesen Antrag gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 in Verbindung mit Abs. 5 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab, weil der Aufenthalt des Revisionswerbers zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könne.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht Wien mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG als unbegründet ab und bestätigte den angefochtenen Bescheid mit der Maßgabe, dass unter den Rechtsgrundlagen „iVm § 29 Abs. 1 NAG“ eingefügt werde. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.
4 Das Verwaltungsgericht stellte im Wesentlichen fest, der Revisionswerber, der bislang über keinen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet verfügt habe, halte sich derzeit in seinem Herkunftsstaat auf. Er habe am 21. Mai 2016 mit Frau S, einer österreichischen Staatsbürgerin, in Ghana die Ehe geschlossen. Für den Revisionswerber handle es sich um die erste Ehe. Die Ehegattin sei zuvor zweimal verheiratet gewesen, wobei die Eheschließungen jeweils in Ghana erfolgt seien. Sie habe einen am 24. April 2002 geborenen Sohn und eine am 22. Dezember 2007 geborene Tochter sowie mit dem Revisionswerber einen gemeinsamen, am 20. Februar 2017 geborenen Sohn. Für diesen komme den Elternteilen die Obsorge gemeinsam zu. Im österreichischen Reisepass der Ehegattin fänden sich in den Jahren 2011, 2014 (zweimal), 2016, 2017 und 2019 jeweils mit einer Gültigkeitsdauer von 60 Tagen ausgestellte Visa für Ghana. Unter Zugrundelegung der Ein- und Ausreisestempel, die aus der vorgelegten Kopie des Reisepasses ersichtlich seien, ergebe sich, dass sich die Ehegattin des Revisionswerbers „seit“ der Eheschließung am 21. Mai 2016 lediglich von 17. Mai bis 2. Juni 2016 sowie von 15. November bis 18. Dezember 2017 in Ghana aufgehalten habe.
5 Seit Juni 2013 sei die Ehegattin bei einem näher genannten Arbeitgeber als Pflegerin tätig. Inklusive aliquoter Sonderzahlungen habe sie zuletzt (Ende 2020) ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen in der Höhe von € 2.126,-- erzielt. Von 22. Juni bis 22. August 2020 sei sie erstmals seit Aufnahme ihrer Beschäftigung als Pflegerin zusätzlich einer geringfügigen Beschäftigung in der Gastronomie nachgegangen. Dabei habe sie € 460,-- monatlich verdient. Infolge Einleitung eines Konkursverfahrens und Schließung des Gastronomieunternehmens sei die Ehegattin des Revisionswerbers gekündigt worden. Unter Berücksichtigung des Familienbonus Plus für zwei Kinder in der Höhe von insgesamt € 250,-- monatlich ergebe sich ein monatliches Nettogehalt in der Höhe von € 2.376,-- inklusive aliquoter Sonderzahlungen.
6 Mit Schreiben vom 2. Dezember 2019 habe das Jugendamt bestätigt, dass der Kindesvater des im April 2002 geborenen, mittlerweile volljährigen Sohnes der Zusammenführenden verpflichtet sei, für diesen monatliche Unterhaltszahlungen in der Höhe von € 320,-- zu leisten. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren habe die Ehegattin des Revisionswerbers keine Unterlagen betreffend allfällige, über den Zeitpunkt der Erreichung der Volljährigkeit ihres ältesten Sohnes hinausgehende Unterhaltszahlungen vorgelegt. In ihrer Stellungnahme vom 1. April 2020 habe sie angegeben, ihr achtzehnjähriger Sohn sei derzeit noch Schüler und lebe bzw. werde noch für einige Jahre bei ihr leben. Laut einem vom Verwaltungsgericht eingeholten Versicherungsdatenauszug sei der volljährige Stiefsohn des Revisionswerbers im August 2018 mit einem freien Dienstvertrag und im Oktober und Dezember 2020 geringfügig sowie im November 2020 und im Jänner 2021 über der Geringfügigkeitsgrenze beschäftigt gewesen. Von einer Selbsterhaltungsfähigkeit des volljährigen Stiefsohnes sei daher nicht auszugehen.
7 Die Ehegattin des Revisionswerbers verfüge (Stand Jänner 2021) über ein Sparguthaben in der Höhe von € 4.020,65. Vollständige Kontoauszüge der letzten sechs Monate seien entgegen der ausdrücklichen Aufforderung durch das Verwaltungsgericht nicht vorgelegt worden. Aufgrund eines offenen Abstattungskredites in der Höhe von € 9.074,65 habe sie monatliche Kreditraten in der Höhe von € 213,16 zu leisten. Der Aufforderung des Verwaltungsgerichts, einen Auszug aus dem Exekutionsregister vorzulegen, sei ebenfalls nicht nachgekommen worden. Aus den vorgelegten Abrechnungsbelegen seien aber keine Gehaltsexekutionen ersichtlich. In ihrer Stellungnahme vom 1. April 2020 habe die Ehegattin des Revisionswerbers ausgeführt, dass sie, wenn der Revisionswerber in Österreich wäre, mehr arbeiten und mehr verdienen könnte. Konkrete Angaben etwa hinsichtlich der Höhe des erzielbaren Einkommens seien nicht gemacht worden. Der Revisionswerber selbst sei bislang im Bundesgebiet keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Eine „Arbeitgeberbestätigung“ oder ein arbeitsrechtlicher Vorvertrag seien nicht vorgelegt worden. Der Familie stünden vor diesem Hintergrund Mittel in der Höhe von monatlich insgesamt € 2.711,-- (Erwerbseinkommen der Zusammenführenden zuzüglich der aus dem Sparguthaben und dem Familienbonus Plus für zwei Kinder monatlich zu errechnenden Beträge) zur Verfügung.
8 An regelmäßigen Aufwendungen fielen monatlich € 346,76 (Miete inklusive Betriebskosten abzüglich des Wertes der freien Station), € 213,16 für die monatlichen Kreditraten sowie € 54,-- für den (im Fall eines gewöhnlichen Aufenthalts des Revisionswerbers im Bundesgebiet als Angehöriger) gemäß § 123 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG) zu entrichtenden Zusatzbeitrag, somit in Summe ca. € 614,--, an.
9 Die Ehegattin des Revisionswerbers bewohne mit ihren drei Kindern eine ca. 70 m² große Wohnung, für die sie über einen unbefristeten Mietvertrag verfüge. Ein Zeugnis betreffend Deutschkenntnisse des in Ghana und in Österreich unbescholtenen Revisionswerbers auf A1-Niveau seien vorgelegt worden. Er habe außer seiner Ehegattin, dem gemeinsamen Sohn sowie den zwei Stiefkindern keine Angehörigen in Österreich. Zwei erwachsene Töchter sowie weitere Familienmitglieder lebten in Ghana, wo der Revisionswerber als Landwirt tätig sei.
10 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, dass die Voraussetzungen nach § 11 Abs. 2 Z 4 in Verbindung mit Abs. 5 NAG vorliegend nicht erfüllt seien. Der Revisionswerber habe seiner Mitwirkungsverpflichtung nicht entsprochen, weil die durch das Verwaltungsgericht angeforderten Kontoauszüge der Zusammenführenden für die letzten sechs Monate nicht vollständig vorgelegt worden seien. Es sei davon auszugehen, dass mit deren Nichtvorlage der Zweck verfolgt werde, die wahren finanziellen Verhältnisse im Dunkeln zu belassen. Das Verwaltungsgericht ging weiters unter Zugrundelegung der in § 293 ASVG vorgesehenen Richtsätze für ein Ehepaar mit zwei Kindern (gemäß § 293 Abs. 1 letzter Satz ASVG) zuzüglich des für Vollwaisen bis zum 24. Lebensjahr normierten Richtsatzes davon aus, dass Unterhaltsmittel in der Höhe von monatlich € 2.439,63 nachgewiesen werden müssten. Hinzu kämen die regelmäßigen monatlichen Aufwendungen in der Höhe von € 614,--, sodass in Summe ein Nachweis über monatlich zur Verfügung stehende finanzielle Mittel in der Höhe von € 3.053,-- zu erbringen sei. Die der Familie monatlich zur Verfügung stehenden Mittel von insgesamt € 2.711,-- (Erwerbseinkommen der Zusammenführenden sowie die aus dem Sparguthaben und dem Familienbonus Plus für zwei Kinder zu errechnenden Beträge) lägen somit deutlich unter dem erforderlichen Betrag.
11 Eine konkrete Prüfung des Einzelfalls gehe nicht zu Gunsten des Revisionswerbers aus, weil zum einen keine geringfügige Richtsatzunterschreitung vorliege und zum anderen die Ehe noch nicht lange bestehe.
12 Auch eine gemäß § 11 Abs. 3 NAG in Verbindung mit Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung führe nicht zu einem zu Gunsten des Revisionswerbers ausfallenden Ergebnis. Er habe die maßgeblichen Zeiten seiner Sozialisierung in seinem Herkunftsstaat, dessen Sprache er spreche und in dem er auch die Schule besucht habe, verbracht; dort sei er einer Arbeit als Landwirt nachgegangen. Er weise Deutschkenntnisse auf A1-Niveau auf, die nicht ausreichten, um eine längere Alltagskommunikation auf Deutsch zu ermöglichen. Im Übrigen würde auch eine tiefgehende sprachliche Integration des Revisionswerbers nichts am Ergebnis der gegenständlichen Interessenabwägung ändern. Es sei zwar zutreffend, dass der Revisionswerber insofern in Österreich über enge familiäre Beziehungen verfüge, als hier seine Ehegattin, der gemeinsame Sohn und seine zwei Stiefkinder lebten. Seiner Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin komme auch besonderes Gewicht zu. Im Jahr 2016 sei den beiden Ehegatten jedoch bewusst gewesen, dass der Revisionswerber zwecks Begründung eines gemeinsamen Familienlebens in Österreich einen Aufenthaltstitel benötigen werde. Auch die Geburt des gemeinsamen Sohnes sei im Februar 2017 zu einem Zeitpunkt erfolgt, als sich der Revisionswerber in seinem Herkunftsstaat aufgehalten habe. Vor diesem Hintergrund sei das Gewicht der bislang im Bundesgebiet erlangten Bindungen des Revisionswerbers als entsprechend geschmälert zu betrachten. Die Ehe bzw. die Beziehung zu seiner Ehegattin werde seit der Eheschließung im Mai 2016 im Wesentlichen über elektronische Kommunikationsmittel aufrechterhalten. Der Revisionswerber lebe in Ghana, wo sich seine Ehegattin lediglich im Jahr 2017 ein weiteres Mal aufgehalten habe.
13 Im Übrigen sei nicht ausgeschlossen, dass ein gemeinsames Familienleben auch in Ghana geführt werden könne. Die Ehegattin des Revisionswerbers sei selbst in Accra (Ghana) geboren und könne sich als österreichische Staatsbürgerin unter Einhaltung der geltenden Einreise- und Aufenthaltsvorschriften in Ghana aufhalten. So seien auch regelmäßige Aufenthalte der Zusammenführenden in Ghana anhand des von ihr vorgelegten Reisepasses nachgewiesen. Bei der Eheschließung in Ghana sei auch ihr Vater anwesend gewesen. Einer Familienzusammenführung sowie der Begründung eines gemeinsamen Familienlebens in Ghana stünden im Beschwerdefall keine schwerwiegenden oder unzumutbaren Hindernisse entgegen. Dass die Begründung eines Familienlebens in Ghana vom Revisionswerber und dessen Ehegattin als nachteilig empfunden werde, sei in diesem Zusammenhang nicht ausschlaggebend. Es sei davon auszugehen, dass das Führen eines gemeinsamen Familienlebens in Ghana möglich und zumutbar wäre. Der gemeinsame Sohn des Ehepaares sei vier Jahre alt und lebe gemeinsam mit seiner schulpflichtigen Halbschwester und seinem volljährigen Halbbruder bei der Zusammenführenden, die seit neunzehn Jahren alleinerziehende Mutter sei. Der Revisionswerber habe zudem mit seiner Familie bis dato weitgehend ein Familienleben auf Distanz geführt. Der vierjährige Sohn des Revisionswerbers könne sich als österreichischer Staatsbürger ebenso wie die Zusammenführende unter Einhaltung der geltenden Einreise- und Aufenthaltsvorschriften in Ghana bei seinem Vater, dem mit der Kindesmutter die gemeinsame Obsorge zukomme, aufhalten; dies umso mehr, als der Sohn noch nicht schulpflichtig sei und damit die Aufenthalte bei seinem Vater in Ghana grundsätzlich auch außerhalb der Schulferien erfolgen könnten.
14 Ferner sei davon auszugehen, dass die Erledigung eines neuen Antrags unter Beibringung sämtlicher angeforderter Unterlagen eine Zeitspanne von etwa zwei Jahren bis zum Eintritt der Schulpflicht des vierjährigen Sohnes nicht überschreiten würde und erscheine eine zeitlich befristete Beibehaltung der Trennung des Vaters von seinem vierjährigen Sohn zumutbar. Damit würde insofern auch dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen Rechnung getragen, da jederzeit Aufenthalte des Vierjährigen in Ghana, etwa in Begleitung des volljährigen Halbbruders, der keiner durchgehenden Beschäftigung nachgehe, auch über den der Zusammenführenden aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit zustehenden Erholungsurlaub von etwa sechs Wochen jährlich hinaus stattfinden könnten.
15 Durch die gegenständliche Entscheidung erfolge zwar ein Eingriff in die durch Art. 8 EMRK geschützten Interessen des Revisionswerbers insofern, als er daran gehindert sei, ein gemeinsames Familienleben mit seiner Ehegattin, dem gemeinsamen vierjährigen Sohn und den beiden Stiefkindern in Österreich zu führen. Dieser zeitlich mit etwa zwei Jahren befristete, auf gesetzlicher Grundlage beruhende Eingriff erweise sich jedoch aus öffentlichen Interessen als dringend erforderlich und auch im Hinblick auf die verfolgte Zielsetzung (Vermeidung finanzieller Belastungen von Gebietskörperschaften durch den Zuzug von Drittstaatsangehörigen, die nicht über die erforderlichen Unterhaltsmittel verfügten) als verhältnismäßig.
16 Die vorliegende Entscheidung führe auch nicht dazu, dass die Ehegattin des Revisionswerbers, dessen vierjähriger Sohn und die beiden Stiefkinder im Genuss des Kernbestandes ihrer durch die Unionsbürgerschaft garantierten Rechte beeinträchtigt wären. Die Zusammenführende sei in Österreich erwerbstätig und finanziere den eigenen Lebensunterhalt sowie den ihrer Kinder. Sie seien daher finanziell unabhängig. Für den vierjährigen Sohn und die Stieftochter des Revisionswerbers bestehe Anspruch auf Familienbeihilfe. Unterhaltszahlungen oder Leistungen der Familienbeihilfe für den volljährigen Stiefsohn seien im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht nachgewiesen worden.
17 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit im Wesentlichen geltend gemacht wird, das Verwaltungsgericht habe für den volljährigen Stiefsohn des Revisionswerbers zu Unrecht nicht den in § 293 Abs. 1 letzter Satz ASVG vorgesehenen Richtsatz für ein Kind, sondern den Erhöhungsbetrag für Vollwaisen herangezogen. Zudem wendet sich der Revisionswerber gegen die vom Verwaltungsgericht durchgeführte Interessenabwägung. Im Übrigen liege eine Verletzung der Verhandlungspflicht vor.
18 Die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
19 Im Hinblick auf das dargestellte Vorbringen erweist sich die Revision als zulässig und berechtigt:
20 Die im Revisionsfall maßgeblichen Bestimmungen des ASVG, BGBl. Nr. 189/1995 (§ 252 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2014; § 293 in der Fassung BGBl. I Nr. 84/2019 sowie unter Berücksichtigung der mit der Kundmachung BGBl. II Nr. 576/2020 für das Jahr 2021 festgesetzten Werte) lauten auszugsweise:
„Kinder
§ 252. (1) Als Kinder gelten bis zum vollendeten 18. Lebensjahr:
1. die Kinder und die Wahlkinder der versicherten Person;
...
(2) Die Kindeseigenschaft besteht auch nach der Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn und solange das Kind
1. sich in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht, längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres; die Kindeseigenschaft von Kindern, die eine im § 3 des Studienförderungsgesetzes 1992 genannte Einrichtung besuchen, verlängert sich nur dann, wenn für sie
a) entweder Familienbeihilfe nach dem Familienlastenausgleichsgesetz 1967 bezogen wird oder
b) zwar keine Familienbeihilfe bezogen wird, sie jedoch ein ordentliches Studium ernsthaft und zielstrebig im Sinne des § 2 Abs. 1 lit. b des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 311/1992 betreiben;
...
Richtsätze
§ 293. (1) Der Richtsatz beträgt unbeschadet des Abs. 2
a) für Pensionsberechtigte aus eigener Pensionsversicherung,
aa) wenn sie mit dem Ehegatten (der Ehegattin) oder dem/der eingetragenen PartnerIn im gemeinsamen Haushalt leben1 578,36 €
...
c) für Pensionsberechtigte auf Waisenpension:
aa) bis zur Vollendung des 24. Lebensjahres 367,98 €
falls beide Elternteile verstorben sind 552,53 €
Der Richtsatz nach lit. a erhöht sich um 154,37 € für jedes Kind (§ 252), dessen Nettoeinkommen den Richtsatz für einfach verwaiste Kinder bis zur Vollendung des 24. Lebensjahres nicht erreicht. ...“
21 Das Verwaltungsgericht Wien zog für die Beurteilung der vom Revisionswerber gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG in Verbindung mit § 293 ASVG nachzuweisenden finanziellen Mittel den Ehegattenrichtsatz (§ 293 Abs. 1 lit. a sublit. aa ASVG) sowie den Richtsatz für zwei Kinder gemäß § 293 Abs. 1 letzter Satz ASVG und betreffend den volljährigen Stiefsohn des Revisionswerbers den in § 293 Abs. 1 lit. c sublit. aa ASVG vorgesehenen Richtsatz für den Bezug einer Vollwaisenpension als „Haushaltsrichtsatz“ heran. Dem tritt die Revision zu Recht entgegen:
22 Das NAG knüpft in § 11 Abs. 5 bei der Festlegung der Referenzwerte für die erforderlichen Unterhaltsmittel an das Ausgleichszulagenrecht des ASVG an. Maßgeblich sind jene Beträge, die im § 293 ASVG als zu garantierendes Mindesteinkommen angeführt werden. Heranzuziehen ist der jeweils nach der zugrundeliegenden familiären Situation in Betracht kommende Richtsatz (VwGH 20.5.2021, Ra 2017/22/0083, Pkt. 7.2. der Entscheidungsgründe).
23 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs kommt es bei einem gemeinsamen Haushalt darauf an, ob das Haushaltsnettoeinkommen den unter Berücksichtigung der zu versorgenden Personen (vgl. den weiteren Steigerungsbetrag nach § 293 Abs. 1 letzter Satz ASVG) jeweils zu ermittelnden „Haushaltsrichtsatz“ nach § 293 Abs. 1 ASVG deckt (vgl. grundlegend VwGH 3.4.2009, 2008/22/0711; siehe zuletzt etwa VwGH 25.5.2021, Ra 2019/22/0157 bis 0159, Rn. 9).
24 Das Verwaltungsgericht legte seinen Erwägungen zugrunde, dass der volljährige Stiefsohn des Revisionswerbers, der im Haushalt der Zusammenführenden lebt, zwar zeitweise einer Erwerbstätigkeit nachgegangen, aber nicht selbsterhaltungsfähig sei. Demnach ist von einem Unterhaltsanspruch des Stiefsohns des Revisionswerbers gegenüber der Zusammenführenden (deren Einkommen der Revisionswerber als unterhalsberechtigter Ehegatte auch für die Abdeckung seines eigenen Unterhaltsbedarfs ins Treffen führt) auszugehen (vgl. § 231 Abs. 3 ABGB). Vor diesem Hintergrund ist dem Verwaltungsgericht darin beizupflichten, dass der Bedarf des Stiefsohnes des Revisionswerbers auf Basis der in § 293 ASVG normierten Beträge bei der Ermittlung des in der vorliegenden familiären Konstellation maßgeblichen „Haushaltsrichtsatzes“ zu berücksichtigen ist.
25 Mit Blick auf § 293 Abs. 1 erster Satz in Verbindung mit § 252 ASVG ist sodann aber die Frage von Bedeutung, ob der zum Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts achtzehnjährige Stiefsohn des Revisionswerbers - wie im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht angegeben - Schüler ist. Dazu wurden im angefochtenen Erkenntnis keine Feststellungen getroffen, sodass nicht auszuschließen ist, dass - wie in der Revision behauptet - gemäß § 252 Abs. 2 Z 1 ASVG (der Besuch einer in § 3 Studienförderungsgesetz 1992 genannten Einrichtung steht nicht im Raum) vom Fortbestand seiner Kindeseigenschaft auszugehen wäre.
26 Ergäbe sich, dass der Stiefsohn des Revisionswerbers einer Schul- oder Berufsausbildung nachgeht, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht, so wäre im Revisionsfall bei Ermittlung des maßgeblichen „Haushaltsrichtsatzes“ für den Stiefsohn des Revisionswerbers daher lediglich der in § 293 Abs. 1 letzter Satz ASVG vorgesehene Richtsatz zu veranschlagen gewesen.
27 Im Übrigen trifft es zu, dass gegenständlich nach Übermittlung eines umfangreichen Konvoluts von Unterlagen an das Verwaltungsgericht von diesem infolge der vorgelegten Nachweise und des dazu erstatteten Vorbringens weitere amtswegige Ermittlungsschritte - jedenfalls auch im Wege der beantragten Beschwerdeverhandlung - zu setzen gewesen wären; dies auch um zu klären, ob der Zusammenführenden für ihren volljährigen Sohn, falls sich dieser in einer Ausbildung im Sinn von § 2 Abs. 1 lit. b Familienlastenausgleichsgesetz 1967 befindet, weiterhin Anspruch auf Familienbeihilfe zukommt. Zwar wären Leistungen der Familienbeihilfe bei Berechnung der für den Revisionswerber zur Verfügung stehenden Unterhaltsmittel nicht zu berücksichtigen (siehe grundlegend VwGH 22.3.2011, 2007/18/0689, Pkt. 3.3. der Entscheidungsgründe; ferner VwGH 20.5.2021, Ra 2017/22/0083, Pkt. 9.2. der Entscheidungsgründe), jedoch würde ein Anspruch auf Familienbeihilfe auch das Bestehen eines Anspruchs auf den Familienbonus Plus gemäß § 33 Abs. 3a Z 1 lit. b Einkommensteuergesetz 1988 (EStG 1988) indizieren. Dabei sind die Aussagen, die im hg. Erkenntnis vom 22. März 2011, 2007/18/0689, zum Kinderabsatzbetrag gemäß § 33 Abs. 4 Z 3 lit. a EStG 1988 in der damals anzuwendenden Fassung BGBl. I Nr. 24/2007 getroffen wurden (vgl. nunmehr § 33 Abs. 3 EStG 1988), auf die Frage der Berücksichtigungsfähigkeit des Familienbonus Plus für die Einkommensermittlung nach § 11 Abs. 5 NAG zu übertragen.
28 Den Familienbonus Plus berücksichtigte das Verwaltungsgericht für die beiden minderjährigen Kinder der Zusammenführenden. Offen ist jedoch die Frage, ob der Zusammenführenden auch für ihren volljährigen Sohn Anspruch auf diese Leistung zusteht, sodass auch dieser Betrag in die Kalkulation der gegenständlich verfügbaren Unterhaltsmittel einzufließen hätte.
29 Aus den genannten Erwägungen erlauben die Feststellungen des Verwaltungsgerichts schon keine abschließende Beurteilung, ob fallbezogen die Voraussetzungen gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG erfüllt sind und ob, falls dies nicht der Fall sein sollte, eventuell nur eine geringfügige Richtsatzunterschreitung besteht.
30 Weiters erweist sich die (unter der Annahme des Nichtvorliegens der Voraussetzungen nach § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG) vom Verwaltungsgericht erstellte Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK in entscheidenden Punkten als mangelhaft und steht diese nicht im Einklang mit den dazu entwickelten Leitlinien der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes.
31 Zum einen ließ das Verwaltungsgericht bei seinen Überlegungen betreffend die persönlichen Kontaktmöglichkeiten der Ehegatten in Ghana unberücksichtigt, dass die im Haushalt der Ehegattin lebende Stieftochter des Revisionswerbers in Österreich schulpflichtig ist. Regelmäßige Besuche der berufstätigen Ehegattin des Revisionswerbers in Ghana, die - wie das Verwaltungsgericht selbst ausführt - dem Umfang nach überdies auf sechs Wochen jährlich beschränkt wären, wären außerhalb der Schulferien vermutlich mit einer Trennung von deren minderjährigen Tochter verbunden (eine Betreuung des Kindes in dieser Zeit blieb ebenfalls ungeklärt). Zum anderen könnte, was die persönlichen Kontakte des Revisionswerbers zu seinem vierjährigen Sohn anbelangt, auch der volljährige Stiefsohn des Revisionswerbers, sollte er sich in einer Schulausbildung in Österreich befinden, nicht jederzeit - so wie vom Verwaltungsgericht angenommen - außerhalb der Ferienzeiten seinen vierjährigen Halbbruder (Sohn des Revisionswerbers) nach Ghana zu dessen Vater begleiten. In welcher Weise schließlich ein gemeinsames Familienleben unter Berücksichtigung des Wohls aller im Revisionsfall betroffener minderjähriger Kinder in Ghana zu bewerkstelligen wäre, lässt das angefochtene Erkenntnis nicht erkennen.
32 Aus welchem Grund das Verwaltungsgericht zur Auffassung gelangte, dass die der verwaltungsgerichtlichen Aufforderung teilweise dem Umfang nach nicht entsprechende Vorlage von Kontoauszügen sowie eines Auszugs aus dem Exekutionsregister zum Ergebnis führen könnte, dass eine Trennung des Revisionswerbers von seiner Ehegattin und seinem vierjährigen noch nicht schulpflichtigen Sohn für einen Zeitraum von bis zu etwa zwei Jahren in Kauf zu nehmen und der Revisionswerber auf die Möglichkeit einer neuerlichen Antragstellung unter Beibringung sämtlicher Unterlagen zu verweisen sei, bleibt ebenfalls offen.
33 Zudem ist der Revisionswerber auch damit im Recht, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zwecks Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von den von der vorliegenden Entscheidung betroffenen Familienmitgliedern geboten gewesen wäre. Es handelt sich in der gegenständlichen Konstellation - im Hinblick auf das vom Verwaltungsgericht bei der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK zu Ungunsten des Revisionswerbers erzielte Ergebnis - keinesfalls um einen eindeutigen Fall. Abgesehen von den oben aufgezeigten vorwiegend sekundären Ermittlungs- und Feststellungsmängeln erwiesen sich auch für die Interessenabwägung maßgebliche, sachverhaltsbezogene Gesichtspunkte als klärungsbedürftig, weshalb entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung nicht in der Bestimmung des § 19 Abs. 12 NAG Deckung findet (dazu VwGH 3.6.2020, Ra 2019/22/0156, Rn. 18).
34 Aus den dargelegten Erwägungen belastete das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit - prävalierender - inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Dieses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
35 Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 18. November 2021
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Besondere Rechtsgebiete VerfahrensbestimmungenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021220092.L00Im RIS seit
27.12.2021Zuletzt aktualisiert am
04.01.2022