Index
41/02 Passrecht FremdenrechtNorm
AsylG 2005 §3 Abs1Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision von 1. S H, 2. M R, und 3. F R, alle vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Dezember 2019, 1. W123 2194521-1/10E, 2. W123 1433986-4/13E und 3. W123 2194522-1/4E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Erstrevisionswerberin und der Zweitrevisionswerber sind ein Ehepaar und die Eltern der im Jahr 2017 bereits in Österreich geborenen Drittrevisionswerberin. Alle sind Staatsangehörige von Afghanistan.
2 Der Zweitrevisionswerber reiste zunächst ohne die Erstrevisionswerberin - die er bereits in Afghanistan geheiratet hatte - nach Österreich ein und stellte erstmals im Jahr 2012 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er insbesondere damit, er sei vor seiner Eheschließung mit der Erstrevisionswerberin einer anderen Frau versprochen gewesen, die er jedoch nicht habe heiraten wollen; diese andere Frau sei mittlerweile verstorben, wofür ihn die Brüder dieser Frau zu Unrecht verantwortlich machen und deshalb bedrohen würden. Der Antrag wurde im Jahr 2013 abgewiesen. Zwei Folgeanträge des Zweitrevisionswerbers in den Jahren 2013 und 2014 wurden wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.
3 Im November 2015 reiste die Erstrevisionswerberin nach Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie zunächst damit begründete, dass sie, so wie ihr Ehemann, von der Familie seiner ehemaligen Verlobten bedroht werde.
4 Der Zweitrevisionswerber stellte im Juli 2016 seinen vierten Antrag auf internationalen Schutz mit der Begründung, er sei zum Christentum übergetreten.
5 Für die Drittrevisionswerberin wurde der Antrag auf internationalen Schutz nach ihrer Geburt im Juli 2017 gestellt.
6 Während der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Dezember 2017 brachte die Erstrevisionswerberin vor, sie sei nunmehr, wie ihr Ehemann, zum Christentum konvertiert und befürchte deshalb Verfolgung in Afghanistan.
7 Mit Bescheiden vom 13. April 2018 wies das BFA die Anträge der revisionswerbenden Parteien hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG 2005 und hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG 2005 ab, gewährte keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 FPG, stellte die Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan fest und legte jeweils eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
8 In den dagegen gerichteten Beschwerden wurde insbesondere geltend gemacht, der Erstrevisionswerberin drohe bei einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung aus „geschlechtsspezifischen Gründen“ wegen ihrer „westlichen Lebenseinstellung“.
9 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die Beschwerden nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
10 Das BVwG stellte im Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten insbesondere fest, die Erstrevisionswerberin habe während ihres relativ kurzen Aufenthalts in Österreich keine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstelle. Unter dem Titel „Beweiswürdigung“ führte das BVwG aus, die Erstrevisionswerberin bringe zwar vor, in Österreich ein selbstbestimmtes Leben führen zu wollen. Diese Aussage weiche jedoch erkennbar von der Lebenswirklichkeit ab. Die Erstrevisionswerberin habe bisher keine „ausreichenden Initiativen“ unternommen, um sich weiterzubilden. Der in der mündlichen Verhandlung geäußerte Wunsch, im Friseurbereich oder als Rettungssanitäterin zu arbeiten, sei zwar „nachvollziehbar“. Die Erstrevisionswerberin habe jedoch noch keine konkreten Schritte gesetzt, um einen Beruf bzw. einen Ausbildungsplatz zu erlangen. Wäre sie wirklich an einem selbstbestimmten Leben in Österreich interessiert, hätte sie während ihres Aufenthalts außerdem mehr Engagement gezeigt, gute Deutschkenntnisse zu erwerben; tatsächlich verfüge sie lediglich über das ÖSD-Zertifikat A1. Dass die Erstrevisionswerberin ihre Zeit in Österreich nicht im erforderlichen Maß dazu genutzt habe, um sich zu einer „überzeugten westlich orientierten Frau“ zu entwickeln, liege nicht zuletzt im Umstand begründet, dass sie während dieser Zeit ihr erstes Kind bekommen habe, wobei sie in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage des erkennenden Richters ausdrücklich bestätigt habe, dass es ein „Wunschkind“ gewesen sei. Dazu komme, dass die Erstrevisionswerberin behaupte, wieder schwanger zu sein. Auch diese Schwangerschaft sei - wie sie auf Nachfrage ausgesagt habe - gewollt gewesen. Zwar liege es dem BVwG fern, sich in höchstpersönliche Lebensentscheidungen von Frauen wie die Planung der Anzahl der Kinder einzumischen. Dies ändere aber nichts an der Tatsache, dass die Erstrevisionswerberin in naher Zukunft zwei Kinder zu betreuen habe, was zusätzlicher Kraftanstrengung bedürfe. Eine Verfolgung aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils habe die Erstrevisionswerberin insgesamt nicht glaubhaft machen können.
11 Im Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung des Status subsidiär Schutzberechtigter ging das BVwG insbesondere davon aus, dass für die junge, arbeitsfähige und gesunde Erstrevisionswerberin, die auf eine 12-jährige Schulbildung und eine achtmonatige Friseurlehre zurückgreifen könne, die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne. Zur minderjährigen Drittrevisionswerberin hielt das BVwG fest, minderjährige Kinder würden zwar als besonders vulnerabel gelten. Die Höchstgerichte hätten diese besondere Vulnerabilität bisher allerdings in Fällen aufgegriffen, die Familien mit vier minderjährigen Kindern betroffen hätten. Im vorliegenden Fall habe die Erstrevisionswerberin ihr einziges Kind erst in Österreich geboren. Sie habe zwar angegeben, wieder schwanger zu sein, habe diesen Umstand jedoch bloß eher beiläufig im Rahmen der mündlichen Verhandlung erwähnt und kein ärztliches Zeugnis über die Schwangerschaft vorgelegt.
12 Der Verfassungsgerichtshof lehnte die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde mit dem Beschluss VfGH 16.1.2020, E 205-207/2020, ab und trat sie dem Verwaltungsgerichtshof ab.
13 Die vorliegende außerordentliche Revision macht insbesondere geltend, das BVwG sei bei der Beurteilung, eine asylrelevante westliche Lebensweise der Erstrevisionswerberin liege nicht vor, von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Außerdem habe es sich im Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes nicht ausreichend mit der Vulnerabilität der minderjährigen Drittrevisionswerberin auseinandergesetzt.
14 Das BFA hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
15 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
16 Die Revision ist zulässig und begründet.
17 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren.
18 Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, führt jedoch dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 15.9.2021, Ra 2021/18/0143, mwN).
19 Im vorliegenden Fall hat das BVwG einen Asylanspruch der Erstrevisionswerberin im Kern mit dem Argument verneint, sie habe ihre Zeit in Österreich nicht im erforderlichen Maß dazu genutzt, um sich zu einer „überzeugten westlich orientierten Frau“ zu entwickeln. Dies sei „nicht zuletzt“ dadurch begründet, dass sie während dieser Zeit ihr erstes Kind bekommen habe, wobei sie in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage des erkennenden Richters ausdrücklich bestätigt habe, dass es ein „Wunschkind“ gewesen sei. Dazu komme, dass die Erstrevisionswerberin behaupte, wieder schwanger zu sein. Auch diese Schwangerschaft sei - wie sie auf Nachfrage ausgesagt habe - gewollt gewesen. Die Erstrevisionswerberin werde in naher Zukunft zwei Kinder zu betreuen haben, was zusätzlicher Kraftanstrengung bedürfe.
20 Aus diesen Erwägungen wird deutlich, dass das BVwG seiner Entscheidung eine Rechtsansicht betreffend das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer asylrechtlich geschützten „westlich“ orientierten Lebensweise einer Frau zugrunde legt, die von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht. Den vom BVwG ins Zentrum seiner Überlegungen gerückten Fragen, ob die Frau ihr Kind als „Wunschkind“ geboren hat und ob eine weitere Schwangerschaft geplant oder ungeplant eingetreten ist, kommt nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung keine Bedeutung zu. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Lebensführung der betroffenen Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt und die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist. Diesbezüglich aussagekräftige Schlussfolgerungen hat das BVwG mit dem zentralen Abstellen auf die erwähnten Fragen und dem Hinweis, die Erstrevisionswerberin werde in naher Zukunft zwei Kinder zu betreuen haben, nicht angestellt.
21 Dazu kommt noch, dass das BVwG hinsichtlich des Bestehens bzw. Nichtbestehens einer neuerlichen Schwangerschaft der Erstrevisionswerberin offenbar widersprüchliche Annahmen getroffen hat (vgl. den beweiswürdigenden Hinweis im Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes, die Erstrevisionswerberin habe die Schwangerschaft bloß beiläufig in der Verhandlung erwähnt und darüber kein ärztliches Zeugnis vorgelegt).
22 Das angefochtene Erkenntnis ist somit sowohl mit Begründungsmängeln als auch mit einer inhaltlichen Rechtswidrigkeit belastet; letztere ist vorrangig aufzugreifen und schlägt im Familienverfahren auf alle Familienangehörigen durch.
23 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
24 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 26. November 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180050.L00Im RIS seit
27.12.2021Zuletzt aktualisiert am
04.01.2022