Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, Dr. Parzmayr sowie die Hofrätin Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Familienrechtssache der Antragstellerin L* B*, geboren am * 1997, *, vertreten durch Dr. Thomas Kainz, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, gegen den Antragsgegner J* M*, vertreten durch Freimüller Obereder Pilz RA GmbH in Wien, wegen Unterhalt, über den Revisionsrekurs des Antragsgegners gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 30. März 2021, GZ 44 R 54/21y-77, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 21. September 2020, GZ 98 Fam 22/18g-58, teilweise bestätigt, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner ist schuldig, der Antragstellerin deren mit 1.017,90 EUR (darin 169,65 EUR USt) bestimmte Kosten der Revisionsrekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Der Vater, der ein Friseurunternehmen betreibt, ist derzeit zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 335 EUR für seine Tochter verpflichtet. Diese ist Studentin. Sie absolvierte im Juni 2015 die Matura, im Anschluss scheiterte sie an der Aufnahmeprüfung für das Studium Sportwissenschaft und inskribierte im Oktober 2015 für Englisch sowie mit 12. 1. 2016 für das Bachelorstudium Wirtschaftsrecht an der Wirtschaftsuniversität Wien, welches sie nach wie vor betreibt. Neben dem Studium absolvierte sie eine Ausbildung zur Sportinstruktorin und beendete diese mit 10. 12. 2016. Die durchschnittliche Studiendauer für ihr derzeitiges Studium beträgt neun Semester, die Mindeststudiendauer sechs Semester.
[2] Die nunmehr 24-jährige Antragstellerin (Tochter) beantragte die (unbezifferte) Erhöhung der derzeitigen Unterhaltsverpflichtung des Vaters.
[3] Der Antragsgegner (Vater) beantragte, die Unterhaltsverpflichtung (unbeziffert) herabzusetzen bzw festzustellen, dass der Unterhaltsanspruch ihm gegenüber seit 1. 10. 2016 (in eventu zu späteren Terminen) infolge Selbsterhaltungsfähigkeit der Tochter erloschen sei.
[4] Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters, ihn von seiner Unterhaltsverpflichtung für den Zeitraum 1. 10. 2016 bis 30. 6. 2020 zur Gänze zu entheben, ab, enthob ihn ab 1. 7. 2020 von seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber der Antragstellerin und sprach aus, dass deren Unterhaltsanspruch aufgrund des Gerichtsbeschlusses vom 14. 3. 2008, zu dessen Hereinbringung die Exekution bewilligt worden war, ab 1. 7. 2020 gänzlich erloschen sei. Den Erhöhungsantrag der Antragstellerin betreffend den Zeitraum ab 1. 7. 2020 wies es ab.
[5] Das Rekursgericht änderte diesen Beschluss dahingehend ab, dass es dem Enthebungsantrag des Vaters erst ab 1. 10. 2020 Folge gab und den Erhöhungsantrag der Antragstellerin erst ab 1. 10. 2020 abwies und hinsichtlich des Zeitraums 1. 7. 2020 bis 30. 9. 2020 dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung über den Erhöhungsantrag auftrug.
[6] Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs nachträglich zur Klarstellung der maßgeblichen Kriterien und des Zeitpunkts für die Prüfung und die Annahme der fiktiven Selbsterhaltungsfähigkeit während des laufenden Studiums der Unterhaltsberechtigten zu.
[7] Der Antragsgegner beantragt mit seinem – von der Antragstellerin beantworteten – Revisionsrekurs, ihn ab 1. 3. 2017, in eventu 1. 7. 2017 bzw 1. 7. 2018 von seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber der Antragstellerin zu entheben. Die Antragstellerin, der hinsichtlich des Studiums bereits ein Orientierungsjahr zugestanden worden sei, habe in keinem Semester die im rechnerischen Durchschnitt auf ein Semester entfallenden ECTS-Punkte auch nur annähernd erreicht. Mangels zielstrebiger Betreibung des Studiums sei die Antragstellerin daher bereits zu den genannten Daten als selbsterhaltungsfähig anzusehen.
Rechtliche Beurteilung
[8] Dem Antragsgegner ist es jedoch nicht gelungen, eine iSv § 62 Abs 1 AußStrG erhebliche Rechtsfrage aufzuzeigen. Der Revisionsrekurs ist daher, ungeachtet des – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Zulassungsausspruchs des Rekursgerichts, nicht zulässig und folglich zurückzuweisen.
[9] 1. Zur Beurteilung der Frage, wann ein Studium ausreichend ernsthaft und zielstrebig betrieben wird und zu einem weiteren Unterhalt berechtigt, besteht umfassende Judikatur.
[10] 1.1. Grundsätzlich kann die Frage, ob ein Kind seinen Unterhaltsanspruch verliert, weil es seine Ausbildung nicht zielstrebig betreibt, nur nach den Umständen des Einzelfalls entschieden werden (RS0008857, RS0109289). Eine erhebliche Rechtsfrage wird daher dadurch in der Regel nur dann aufgeworfen, wenn eine erhebliche Fehlbeurteilung vorliegt (vgl RS0044088).
[11] 1.2. Nach ständiger Rechtsprechung hat ein noch nicht selbsterhaltungsfähiges studierendes Kind so lange Anspruch auf Unterhalt, als es sein Studium ernsthaft und zielstrebig betreibt, was in der Regel zu bejahen ist, wenn die durchschnittliche Studiendauer für das betreffende Fach nicht überschritten wird (RS0083694, RS0110596).
[12] 1.3. Bei der Beurteilung der Frage, ob das Studium ernsthaft und zielstrebig betrieben wird, ist nur der tatsächliche Studienfortgang ex post zu betrachten. Es kommt aber nicht darauf an, ob es möglich oder wahrscheinlich ist, dass das Kind das Studium oder einen Studienabschnitt in der durchschnittlichen Zeit beendet (RS0110600). Aus der Erfüllung der Kriterien für die Gewährung von Familienbeihilfe kann im Allgemeinen abgeleitet werden, dass das Studium ernsthaft und zielstrebig betrieben wird (RS0110600 [T2]). Entscheidend für das Bestehen eines Unterhaltsanspruchs ist nicht, ob ein Studium in der Vergangenheit mit ausreichender Intensität betrieben wurde, sondern ob diese Voraussetzung im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu bejahen ist (RS0110600 [T3]).
[13] 1.4. Die Kontrolle, ob ein Studium ernsthaft und zielstrebig betrieben wird, hat bei fehlender Gliederung in Studienabschnitte durch eigenständige Beurteilung der vom Unterhaltswerber erbrachten Leistungen zu erfolgen (RS0120928). Eine starre Differenzierung danach, ob das Studium in Studienabschnitte gegliedert ist, würde zu völlig unsachlichen Ergebnissen führen, beruht die Gliederung eines Studiums in Studienabschnitte oder in ein (nicht weiter untergliedertes) Bachelor- und Masterstudium doch teilweise auf völlig zufälligen Umständen, ohne dass dem der Sache nach ein entsprechender Unterschied zugrunde läge (RS0110600 [T11]). Ein zielstrebiger Studienerfolg ist nicht zwingend bereits dann zu verneinen, wenn nach schlichtem Dividieren die pro Semester erreichten ECTS-Punkte nicht (stets) jenen Punkten entsprechen, die bei einer durchschnittlichen Studiendauer im rechnerischen Durchschnitt auf ein Semester entfallen (RS0110600 [T15]).
[14] 1.5. Dass jede – wenn auch allenfalls nur vorübergehende oder geringfügige – Unterschreitung der Durchschnittsstudienleistung automatisch zum Entfall des Unterhaltsanspruchs führen würde, ist aus der (im Revisionsrekurs zitierten) Entscheidung 6 Ob 118/14t nicht abzuleiten (6 Ob 217/15b).
[15] 1.6. Es ist grundsätzlich auf die durchschnittliche Studiendauer für einzelne Studienabschnitte abzustellen (RS0083694 [T10]). Diese Judikaturlinie, nach der die Studienzeit in den einzelnen Studienabschnitten als „Richtschnur“ für die Beurteilung der Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit eines Studiums bedeutsam ist, setzt implizit eine Prognose dahin voraus, ob der Studienabschluss insgesamt innerhalb einer angemessenen Dauer möglich sein wird (RS0083694 [T11]). Eine Überprüfung des angemessenen Studienfortgangs ist daher auch während des Studiums vor Ablauf der Studienhöchstdauer unerlässlich (RS0083694 [T12]).
[16] 2.1. Im konkreten Fall befand sich die Antragstellerin zum Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz im neunten Studiensemester und somit noch innerhalb der durchschnittlichen Studiendauer. Es fehlten ihr auf die für einen Abschluss des Bachelorstudiums erforderlichen 180 ECTS-Punkte noch 58 Punkte. Eine Beendigung des Studiums wird erst nach der durchschnittlichen Studiendauer von neun Semestern möglich sein. Das Rekursgericht ging daher davon aus, dass zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Beschlussfassung keine ernsthafte und zielstrebige Betreibung des Studiums mehr vorliege. Daher sei sie mit Abschluss des Sommersemesters 2020 (30. 9. 2020) als fiktiv selbsterhaltungsfähig zu beurteilen.
[17] 2.2. Der Revisionsrekurswerber argumentiert, die Antragstellerin habe von Beginn an ihr Studium „Wirtschaftsrecht“ nicht ernsthaft und zielstrebig betrieben, da sie bereits zum Stichtag 15. 7. 2018 (Ende des fünften Semesters) einen geringen Studienerfolg, nämlich im Durchschnitt 4,4 ECTS-Punkte pro Semester (insgesamt 22 ECTS-Punkte) anstatt 20 ECTS-Punkte pro Semester aufgewiesen habe, den sie auch in der Folge nicht mehr aufgeholt habe.
[18] 2.3. Dem ist allerdings entgegen zu halten, dass nach der Rechtsprechung Anpassungs- und Umstellungsschwierigkeiten beim Beginn eines Universitätsstudiums angemessen zu berücksichtigen sind (3 Ob 181/19t mwN). Die Antragstellerin hat zwar in den ersten Semestern des Studiums den geforderten Punktedurchschnitt unterschritten, allerdings ist sie diesem in den folgenden Semestern recht nahe gekommen und hat nach neun Semestern insgesamt über 2/3 der erforderlichen ECTS-Punkte erlangt.
[19] 2.4. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin in der Anfangsphase ihres Studiums die Ausbildung zur Sportinstruktorin abschloss, was ihre berufliche Qualifikation erhöhte, allerdings ihr Wirtschaftsstudium offensichtlich etwas verlangsamte. Damit konnten aber die Vorinstanzen vertretbar annehmen, die Antragstellerin habe es nicht bereits in den ersten Semestern ihres Wirtschaftsstudiums an der nötigen Zielstrebigkeit und Ernsthaftigkeit missen lassen. Denn das Erlangen einer weiteren Qualifikation ist jedenfalls positiv zu beurteilen. Außerdem ist ein zielstrebiger Studienerfolg nicht zwingend bereits dann zu verneinen, wenn nach schlichtem Dividieren die pro Semester erreichten ECTS-Punkte nicht stets jenen Punkten entsprechen, die bei einer durchschnittlichen Studiendauer im rechnerischen Durchschnitt auf ein Semester entfallen (3 Ob 181/19t mwN).
[20] 2.5. In Gesamtbetrachtung der festgestellten Studienfortschritte und Lebensumstände hat das Rekursgericht den ihm in dieser Frage eingeräumten Ermessensspielraum nicht überschritten, wenn es die Selbsterhaltungsfähigkeit der Antragstellerin erst ab dem neunten Studiensemester annahm.
[21] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO. Die Antragstellerin hat auf die Unzulässigkeit des Revisionsrekurses hingewiesen.
Textnummer
E133326European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:E133326Im RIS seit
23.12.2021Zuletzt aktualisiert am
16.02.2022