Entscheidungsdatum
04.08.2021Norm
AsylG 2005 §55 Abs1Spruch
L516 1229175-4/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Paul NIEDERSCHICK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb XXXX , StA Iran, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.10.2017, IFA-Zahl: 712802007-151349675, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.07.2021 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird gemäß § 68 Abs 1 AVG hinsichtlich Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
Gemäß § 55 Abs 1 iVm Abs 2 AsylG wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
III. Die Spruchpunkte III und IV des angefochtenen Bescheides werden gemäß § 28 Abs 2 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
Der Beschwerdeführer stellte am 15.09.2015 den verfahrensgegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 13.10.2017 (I.) gemäß gemäß § 68 Abs 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück. Das BFA erteilte unter einem (II.) keine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG, erließ gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG, stellte gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass die Abschiebung in den Iran gemäß § 46 FPG zulässig, sprach (III.) aus, dass gemäß § 55 Abs 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe und erließ (IV.) gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 ein auf die Dauer von 5 Jahren befristetes Einreiseverbot.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Der Bescheid wird zur Gänze angefochten.
Das Bundesverwaltungsgericht erkannte der Beschwerde mit Beschluss vom 12.12.2017 die aufschiebende Wirkung zu und führte in der Sache am 22.07.2021 eine mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer teilnahm; die belangte Behörde erschien nicht.
1. Sachverhaltsfeststellungen:
[regelmäßige Beweismittel-Abkürzungen: S=Seite; AS=Aktenseite des Verwaltungsaktes des BFA zum Folgeantrag; NS=Niederschrift; EB=Erstbefragung; VS=Verhandlungsschrift; OZ=Ordnungszahl des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes; ZMR=Zentrales Melderegister; IZR=Zentrales Fremdenregister; GVS= Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich]
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Lebensverhältnissen in Österreich
Der Beschwerdeführer führt in Österreich den im Spruch angeführten Namen sowie das ebenso dort angeführte Geburtsdatum. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Iran, gehört der armenischen Volksgruppe sowie von Geburt an der christlich-orthodoxen armenischen Glaubensgemeinschaft an. Seine Identität steht nicht fest. (NS 15.11.2013, S 1).
Der Beschwerdeführer lebt seit 01.12.2001 und somit seit fast 20 Jahren – abgesehen von einer mehrmonatigen Unterbrechung im Jahr 2015 durch einen Aufenthalt in Deutschland –durchgehend in Österreich auf. Gegenständlich handelt es sich zwar nicht um den ersten, sondern um seinen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, wobei jedoch demgegenüber zu berücksichtigen ist, dass das Verfahren zu seinem ersten Antrag bereits über neuneinhalb Jahre dauerte, währenddessen er über ein Aufenthaltsrecht nach dem Asylgesetz verfügte, auch das Verfahren zum gegenständlichen Folgeantrag zugelassen wurde (§ 51 AsylG) und das gegenständliche Verfahren bereits rund sechs Jahre dauert, ohne dass die bisherige Verfahrensdauer dem Beschwerdeführer anzulasten ist. Der Beschwerdeführer hat von Beginn seines Verfahrens an sämtlichen Ladungen Folge geleistet und an seinen Verfahren mitgewirkt, weshalb ihm die bisherige Verfahrensdauer nicht anzulasten ist. (Verwaltungsakten des BFA zum ersten und zweiten Antrag; zur Zulassung des Folgeantrages AS 33; IZR)
Der Beschwerdeführer ist gesund, arbeitsfähig und arbeitswillig. Er hat zwei Deutschkurse für das Sprachniveau A1 besucht. In der Praxis kann er sich alltagstauglich auf Deutsch verständigen. Er verfügt in Österreich über einen Freundes- und Bekanntenkreis und besucht regelmäßig die katholische Kirche in seinem Wohnumfeld. (VS 22.07.2021 S 5 f; VS 22.07.2021 Beilage Deutschkursbestätigungen)
Mit rechtskräftigem Urteil vom XXXX wurde der Beschwerdeführer von einem österreichischen Landesgericht für eine (zuletzt) am XXXX begangene Tat wegen des Delikts der Gefährlichen Drohung gemäß § 107 (1) StGB bei einem Strafrahmen von bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten bei einer Probezeit von 3 Jahren verurteilt. Mit weiterem rechtskräftigem Urteil vom XXXX wurde der Beschwerdeführer von einem österreichischen Landesgericht für eine (zuletzt) am XXXX begangene Tat wegen des Delikts der Gefährlichen Drohung gemäß § 107 (1) StGB bei einem Strafrahmen von bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten bei einer Probezeit von 3 Jahren verurteilt. Seit der letzten Verurteilung im XXXX erfolgte keine weitere Verurteilung. Die Auskunftsbeschränkung trat mit XXXX ein. (Strafregister der Republik Österreich (SA))
1.2 Zum ersten Antrag auf internationalen Schutz vom 01.12.2001
Der Beschwerdeführer stellte am 01.12.2001 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz, welcher im Rechtsmittelweg vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 29.08.2011, E3 229175-3/2011/7E, zur Gänze abgewiesen wurde; unter einem wurde der Beschwerdeführer in den Iran ausgewiesen. Jene Entscheidung wurde mit 30.08.2011 rechtskräftig.
Zur Begründung seines ersten Antrages auf internationalen Schutz vom 12.04.2021 führte der Beschwerdeführer – zusammengefasst – aus, er wolle nicht mit Moslems zusammenleben, wolle Alkohol trinken dürfen und er habe ein unerlaubtes sexuelles Verhältnis mit einer verheirateten muslimischen Frau gehabt.
Der Asylgerichtshof erachtete in jenem Verfahren das Vorbringen des Beschwerdeführers zu dessen Ausreisegründen mit näherer Begründung für nicht glaubhaft und führte aus, dass auch kein Sachverhalt im Sinne der Art 2 und 3 EMRK vorliege und eine Ausweisung im Falle des Beschwerdeführers in den Iran keine Verletzung des Art 8 EMRK darstelle. (AsylGH 29.08.2011, E3 229175-3/2011/7E)
1.3 Zum gegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz vom 15.09.2015
Am 15.09.2015 stellte der Beschwerdeführer den dem gegenständlichen Verfahren zugrundeliegenden zweiten Antrag auf internationalen Schutz, nachdem er an diesem Tag in Durchführung der Dublin-Verordnung von Deutschland nach Österreich rücküberstellt worden war. (NS EB 15.09.2015 S 2; AS 13-15; Verwaltungsverfahrensakt zum ersten Antrag, Aktenseiten 761-769)
Zur Begründung seines zweiten Antrages gab der Beschwerdeführer bei der Erstbefragung am selben Tag sowie der Einvernahme vor dem BFA am 04.04.2017 – zusammengefasst – an, er habe keine neuen Gründe, der Mann seiner türkischen Freundin bedrohe ihn noch immer, er fürchte sich noch immer. (NS EB 15.09.2015 S 3; NS EV 04.04.2017 S 6, 7)
2. Beweiswürdigung:
Die Sachverhaltsfeststellungen stützen sich auf den vorgelegten Verwaltungsverfahrensakt des BFA, den Gerichtsakten des Bundesverwaltungsgerichtes und auf das Ergebnis der am 22.07.2021 durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die konkreten Beweismittel sind bei den Sachverhaltsfeststellungen bzw in der Beweiswürdigung jeweils in Klammer angeführt.
Der Sachverhalt zum Beschwerdeführer und seinen Lebensverhältnissen in Österreich ergibt sich aus den vom BFA vorgelegten Verwaltungsverfahrensakten, den im Verfahren vorgelegte Dokumenten und den Registerauszügen der Republik Österreich (IZR, ZMR, Deutschkursteilnahmebestätigungen, Strafregister der Republik Österreich) sowie nach Durchführung der mündlichen Verhandlung und dem dabei vom Beschwerdeführer glaubhaft erstatteten Vorbringen. Die dem Beschwerdeführer in der Verhandlung auf Deutsch gestellten Fragen verstand der Beschwerdeführer zumeist sofort und er beantwortete diese auch verständlich in freier zusammenhängender Erzählung, wenn auch nicht immer ganz grammatisch korrekt. Er wollte auch während der Verhandlung immer wieder spontan auf Deutsch antworten, wurde jedoch aus Gründen der Vorsicht vom Bundesverwaltungsgericht angehalten, die Übersetzung in seine Sprache abzuwarten und auch in seiner Muttersprache zu antworten.
3. Rechtliche Beurteilung:
A)
Spruchpunkt I
Zur Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache (§ 68 Abs 1 AVG)
3.1 Das Bundesverwaltungsgericht hat fallbezogen zu prüfen, ob die Behörde auf Grund des von ihr zu berücksichtigenden Sachverhalts zu Recht zum Ergebnis gelangt ist, dass im Vergleich zum rechtskräftig entschiedenen ersten Asylverfahren keine wesentliche Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten ist (vgl VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307).
3.2 Maßstab der Rechtskraftwirkung bildet die Entscheidung, mit der zuletzt in der Sache entschieden wurde (VwGH 06.11.2009, 2008/19/0783), im vorliegenden Fall ist somit das Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 29.08.2011, E3 229175-3/2011/7E, welcher 30.11.2011 rechtskräftig wurde.
Zur Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten
3.3 Der Beschwerdeführer begründete den gegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz mit seinen Fluchtgründen, die er bereits bei seinem ersten Antrag auf internationalen Schutz genannt hat. Über diese Fluchtgründe hat bereits der Asylgerichtshof im ersten Asylverfahren rechtskräftig entschieden. Der Beschwerdeführer brachte im gegenständlichen Verfahren keine neuen Antragsgründe vor.
3.4 Mit dem gegenständlich zweiten Antrag auf internationalen Schutz wird daher im Ergebnis die erneute sachliche Behandlung einer bereits rechtskräftig entschiedenen Sache ohne nachträgliche Änderungen der Sachlage und Rechtslage bezweckt, was durch § 68 Abs 1 AVG verhindert werden soll (vgl VwGH 17.02.2015, Ra 2014/09/0029).
3.5 Die Beschwerde erweist sich daher in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten als unberechtigt.
Zur Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten
3.6 Durch die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten durch das BFA im Erstverfahren wurde rechtskräftig darüber abgesprochen, dass dem Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in den Iran kein reales Risiko einer gegen Art 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht bzw relevante exzeptionelle Umstände nicht vorliegen. Die Rechtskraft dieser Entscheidung wäre daher nur durchbrochen, wenn der Beschwerdeführer im Folgeverfahren den Beweis des realen Risikos einer derartigen Behandlung bzw des Vorliegens außergewöhnlicher Umstände erbracht hätte.
3.7 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes obliegt es nach der ständigen Judikatur des EGMR – abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art 3 MRK darstellen würde – grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art 3 MRK widersprechende Behandlung drohen würde (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134). Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art 3 MRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art 3 MRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art 3 MRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307).
Derartige Nachweise hat der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall nicht erbracht. Besondere, in der Person des Beschwerdeführers neu begründete Umstände, die dazu führten, dass gerade bei ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Iran im Allgemeinen – höheres Risiko bestünde, einer dem Art 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen, wurden nicht glaubhaft vorgebracht und sind nicht ersichtlich.
3.8 Die Beschwerde erweist sich daher auch in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten als unberechtigt.
3.9 Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides wird daher sowohl in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten als auch in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten spruchgemäß abgewiesen.
Spruchpunkt II
Zu einem Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (§ 57 AsylG; Spruchpunkt II Satz 1 des angefochtenen Bescheides)
3.10 Fallbezogen liegen nach dem festgestellten Sachverhalt die gesetzlichen Voraussetzungen des § 57 AsylG für die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels nicht vor. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers ist weder seit einem Jahr geduldet noch ist eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen zu erteilen; schließlich hat der Beschwerdeführer auch nicht glaubhaft gemacht, Opfer von Gewalt geworden zu sein sowie, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
3.11 Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II Satz 1 des angefochtenen Bescheides erweist sich daher als unberechtigt.
Zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung auf Dauer und Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 9 BFA-VG; § 55 AsylG)
3.12 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325). Es ist zwar auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (ebenso VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325).
Zum gegenständlichen Fall
3.13 Fallbezogen befindet sich der Beschwerdeführer seit fast 20 Jahren in Österreich. Er kann damit nicht schlichtweg auf einen mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt verweisen, sondern auf einen solchen, der schon fast das Doppelte dieses in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für maßgeblich erkannten Zeitraumes ausmacht. (vgl dazu VwGH 20.12.2018, Ra 2018/21/0174)
Im Fall, dass – wie auch im gegenständlichen Fall des Beschwerdeführers – ein insgesamt mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt für einige Monate unterbrochen war, legte der Verwaltungsgerichtshof seine Judikatur zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt des Fremden zugrunde. (vgl VwGH 17.03.2016, Ro 2015/22/0016)
Gegenständlich handelt es sich zwar nicht um den ersten, sondern um seinen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, wobei jedoch demgegenüber zu berücksichtigen ist, dass das Verfahren zu seinem ersten Antrag bereits über neuneinhalb Jahre dauerte, währenddessen er über ein Aufenthaltsrecht nach dem Asylgesetz verfügte, auch das Verfahren zum gegenständlichen Folgeantrag zugelassen wurde (§ 51 AsylG) und das gegenständliche Verfahren bereits rund sechs Jahre dauert, ohne dass die bisherige Verfahrensdauer dem Beschwerdeführer anzulasten ist. Der Beschwerdeführer hat von Beginn seines Verfahrens an sämtlichen Ladungen Folge geleistet und an seinen Verfahren mitgewirkt, weshalb ihm die bisherige Verfahrensdauer nicht anzulasten ist.
Der Beschwerdeführer ist gesund, arbeitsfähig und arbeitswillig. Er hat zwei Deutschkurse für das Sprachniveau A1 besucht. In der Praxis kann er sich alltagstauglich auf Deutsch verständigen. An der zukünftigen Selbsterhaltungsfähigkeit und Selbsterhaltungswilligkeit des Beschwerdeführers bestehen deshalb keine Zweifel. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist nicht nur die gegenwärtige Selbsterhaltungsfähigkeit, sondern auch die Frage einer zukünftig erwartbaren Selbsterhaltungsfähigkeit durch eine erlaubte Beschäftigung einzubeziehen und dabei auf den hypothetischen Fall der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels, der die Ausübung einer unselbständigen Tätigkeit grundsätzlich gestattet. (VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282)
Er hat nach fast 20 Jahren in Österreich mittlerweile seinen Lebensmittelpunkt, seine Freunde, seine Bekannte und sein soziales Netz in Österreich.
Hinsichtlich der beiden Verurteilung im Jahr 2011 und 2016 ist festzuhalten, dass das Strafgericht in beiden Fällen jeweils ausschließlich bedingte Strafen verhängte und dabei zudem im untersten Drittel des Strafrahmen blieb. Die Auskunftsbeschränkung trat bereits mit XXXX ein. Darüber weist der Beschwerdeführer während seines langjährigen Aufenthaltes in Österreich sowohl davor und danach keine weitere Verurteilung auf; er hat sich auch nach der letzten Tatbegehung im Oktober 2015 und somit seit mittlerweile über sechs Jahren nichts mehr strafrechtlich zu Schulden kommen lassen, weshalb diesbezüglich von einer positiven Zukunftsprognose auszugehen ist. Diese Verurteilungen vermögen somit für das Bundesverwaltungsgericht kein solches Gewicht aufzuweisen, als dass sie die gesamte Aufenthaltsdauer und das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers derart relativieren würde, als dass die Ausreise des Beschwerdeführers zwingend erforderlich wäre um die öffentlichen Interessen zu wahren. Gleiches gilt auch für die Nichtbefolgung des Ausreisebefehls aus dem 2011, auch sie tritt angesichts der Aufenthaltsdauer und der im gegenständlichen Verfahren erfolgten Zulassung in den Hintergrund (vgl dazu VwGH 04.03.2020, Ra 2020/21/0010 zu einem Fall in dem die 10-Jahres Judikatur einschlägig war).
3.14 Der Beschwerdeführer hat somit ein gewisses Maß an Integration erlangt und es kann unter Berücksichtigung der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, zu Personen die fast zehn Jahre oder darüber in Österreich aufhältig sind, nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer seine in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich zu integrieren.
3.15 Das Bundesverwaltungsgericht hat schließlich sich in der mündlichen Verhandlung am 22.07.2021 einen persönlichen Eindruck verschafft und gelangt aufgrund dessen in Verbindung mit dem dargestellten Ergebnis des durchgeführten Beweisverfahrens hinsichtlich der bereits erfolgten Integration des Beschwerdeführers in die österreichische Gesellschaft und der positiven Zukunftsprognose zu dem Ergebnis, dass unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des vorliegenden Falles das private Interesse des Beschwerdeführers an der Fortführung seines Privatlebens in Österreich das öffentliche Interesse an einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme überwiegt. Es ist auch keine ausreichende Rechtfertigung zu erkennen, warum öffentliche Interessen es zwingend erfordern würden, dass der Beschwerdeführer nach fast 20 Jahren Aufenthalt Österreich verlassen müsste.
3.16 Es erweist sich daher die im angefochtenen Bescheid angeordnete aufenthaltsbeendende Maßnahme als unzulässig und eine Rückkehrentscheidung daher auf Dauer unzulässig.
3.17 Der Beschwerdeführer hat nicht das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz erfüllt und übt zum Entscheidungszeitpunkt keine erlaubte Erwerbstätigkeit aus, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreicht wird.
3.18 Es wird daher im Ergebnis spruchgemäß der Beschwerde gegen Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides stattgegeben, festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, sowie dem Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs 1 iVm Abs 2 AsylG den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
Spruchpunkt III
Zur ersatzlosen Behebung der Spruchpunkte III und IV des angefochtenen Bescheides (§ 55 Abs 1aFPG; § 53 FPG)
3.19 Nach dem zuvor dargestellten Ergebnis liegen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Festlegung keiner Frist für die freiwillige Ausreise sowie die Erlassung eines Einreiseverbotes nicht mehr vor, weshalb gleichzeitig die betreffenden Spruchpunkte ersatzlos behoben werden.
Zu B)
Revision
3.20 Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, da die Rechtslage durch die zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geklärt ist.
3.21 Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
Arbeitsfähigkeit Arbeitswilligkeit Aufenthaltsberechtigung Aufenthaltsdauer Deutschkenntnisse ersatzlose Teilbehebung Folgeantrag Identität der Sache Integration Interessenabwägung private Interessen Privatleben Prozesshindernis der entschiedenen Sache Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässigEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:L516.1229175.4.00Im RIS seit
22.12.2021Zuletzt aktualisiert am
22.12.2021