Entscheidungsdatum
05.08.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
L507 2209533-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. HABERSACK über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch RAe Dr. Kapferer, Dr. Lechner, Dr. Dellasega, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.10.2018, Zl. 15-1084707402 / 151202062, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.07.2021,
A)
I. den Beschluss gefasst:
Das Verfahren wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheides wegen Zurückziehung der Beschwerde gemäß §§ 28 Abs. 1, 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.
II. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG wird XXXX , der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer ein Staatsangehöriger des Irak stellte am 27.08.2015, nachdem er zuvor illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist ist, einen Antrag auf internationalen Schutz.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 18.10.2018,
Zl. 15-1084707402 / 151202062, wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß
§ 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Mit Spruchpunkt II. wurde gemäß
§ 8 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß
§ 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß
§ 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 24.10.2018 persönlich zugestellt, wogegen am 09.11.2018 fristgerecht Beschwerde erhoben wurde.
2. Am 01.07.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.
Im Zuge dieser Verhandlung wurde die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheides zurückgezogen. Hinsichtlich der Spruchpunkte IV. bis VI. des angefochtenen Bescheides wurde die Beschwerde aufrechterhalten.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Irak und trägt den Namen XXXX .
Der Beschwerdeführer hält sich seit Ende August 2015 ununterbrochen und aufgrund des Antrages auf internationalen Schutz, rechtmäßig in Österreich auf, wobei ihm die bisherige Verfahrensdauer nicht anzulasten ist.
Der Beschwerdeführer hat am XXXX das ÖSD Zertifikat B1 bestanden.
Am 06.10.2016 absolvierte der Beschwerdeführer einen Werte-und Orientierungskurs.
Der Beschwerdeführer lebt seit 2015 in Tirol in XXXX bzw. in der Umgebung von XXXX und ist dort sehr gut integriert. Er hat in dieser Region soziale Kontakte geknüpft, insbesondere im Rahmen seiner musikalischen und künstlerischen Tätigkeit als auch bei Sportveranstaltungen und vor allem aufgrund seines Engagements im Rahmen seines erlernten Berufes als Vermessungstechniker beim Breitbandausbau in der Gemeinde XXXX . Der Beschwerdeführer hat sich auch im Rahmen von sozialen Projekten als Dolmetscher und Übersetzer engagiert und schreckte auch nicht davor zurück, im Seniorenheim XXXX einfache Hilfsdienste zu verrichten. Der Beschwerdeführer absolvierte im Irak eine Berufsausbildung zum Vermessungstechniker und ist bestrebt, dass seine berufliche Ausbildung in Österreich anerkannt wird. Diesbezüglich war der Beschwerdeführer auch bemüht in seinem erlernten Beruf eine Beschäftigung zu finden und ist es ihm im Rahmen seiner Mitwirkung beim Breitbandausbau in der Gemeinde XXXX gelungen, Kontakte zu in Österreich tätigen Baufirmen zu knüpfen, sodass ihm ein Arbeitsplatz bei der XXXX in Form eines Arbeitsvorvertrages zugesichert wurde. Ferner war der Beschwerdeführer mehrfach bemüht eine Beschäftigung in der Gastronomie zu erhalten, was von seinem Willen, sich im österreichischen Arbeitsmarkt zu integrieren, zeigt.
Der Beschwerdeführer spricht die deutsche Sprache sehr gut, wobei die mündliche Verhandlung in deutscher Sprache durchgeführt wurde.
2. Beweiswürdigung:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
? Einsicht in den Verwaltungsakt des BFA;
? mündliche Verhandlung am 01.07.2021;
? Einsicht in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden und Bestätigungen:
- Kopie des irakischen Reisepasses des Beschwerdeführers, der am 21.10.2012 in Bagdad ausgestellt wurde;
- ÖSD Zertifikat Deutsch B1 vom XXXX ;
- ÖIF Bestätigung über die Teilnahme bei einem Werte- und Orientierungskurs am XXXX ;
- Arbeitsvorvertrag der Firma XXXX vom 10.06.2021, worin zugesichert wird, den Beschwerdeführer ab einem Zugang zum Arbeitsmarkt im Ausmaß von 39 Stunden pro Woche als Hilfsarbeiter zu beschäftigen;
- Schreiben des Roten Kreuzes, Bezirksstelle XXXX , vom 02.11.2020, woraus hervorgeht, dass der Beschwerdeführer als ehrenamtliches Mitglied bei der Tafel XXXX tätig war;
- Schreiben der XXXX vom 25.07.2017, woraus hervorgeht, dass der Beschwerdeführer bei den Sommerfestspielen 2017 mitgewirkt hat;
- Schreiben der Gemeinde XXXX vom 01.06.2021, woraus hervorgeht, dass der Beschwerdeführer bei der Massentestung der Initiative „ XXXX “ unterstützend tätig war;
- Jahreszeugnis der Musikschule XXXX für das Schuljahr 2019/2020
- Schreiben von „ XXXX “ vom 17.04.2018, woraus hervorgeht, dass der Beschwerdeführer Mitglied des Fanclubs von XXXX ist;
- Schreiben des Theaterprojektes „ XXXX “ vom 02.10.2020, woraus hervorgeht, dass der Beschwerdeführer an einem Theaterprojekt teilgenommen hat;
- Schreiben der XXXX vom 29.01.2018, woraus hervorgeht, dass der Beschwerdeführer für diese Organisation gemeinnützige Tätigkeiten verrichtet hat;
- Schreiben des Seniorenheims XXXX vom 03.12.2019, woraus hervorgeht, dass der Beschwerdeführer für das Seniorenheim verschiedene Tätigkeiten verrichtet hat;
- Bestätigung über die Einholung auf Bewertung eines im Irak erworbenen Abschlusses beim Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung des XXXX vom 17.06.2021;
- Dienstzeugnis der Gemeinde XXXX vom 12.05.2021, woraus hervorgeht, dass der Beschwerdeführer gemeinnützige Tätigkeiten im Rahmen des Bereichs des Breitbandausbaues verrichtet hat, wie z.B. die Dokumentation der Leitungsführung, das Erfassen von Arbeitsaufträgen, Vorbereitungsarbeiten für diverse Projekte, Botendienste sowie diverse administrative Hilfsdienste;
- Empfehlungsschreiben des XXXX vom 16.06.2021;
- Bestätigung der Universität XXXX vom 11.03.2019 betreffend den Besuch einzelner Lehrveranstaltungen;
- Schreiben der XXXX vom 24.07.2020, worin bestätigt wird, dass der Beschwerdeführer als Dolmetscher für diese Organisation tätig war;
- Schreiben der XXXX vom 29.01.2018, woraus hervorgeht, dass der Beschwerdeführer in der Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Kufstein gemeinnützig tätig war;
- Schreiben des Gasthauses XXXX vom 14.10.2020, woraus hervorgeht, dass sich der Beschwerdeführer in diesem Betrieb als Hilfskraft beworben hat;
- Schreiben von „ XXXX “ vom Oktober 2020, woraus hervorgeht, dass sich der Beschwerdeführer auf eine Stellenanzeige in diesem Betrieb gemeldet hat und persönlich zu einem Vorstellungsgespräch erschienen ist;
- Schreiben der XXXX vom 28.06.2021, woraus hervorgeht, dass der Beschwerdeführer Übersetzungstätigkeiten für diese Organisation geleistet hat;
ein Konvolut von Empfehlungsschreiben.
2.1. Zum Verfahrensgang:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus Akteninhalt.
2.2. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen hinsichtlich der Staatsangehörigkeit sowie hinsichtlich seiner illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet und des Datums seiner Asylantragstellung in Österreich ergeben sich aus dem Akteninhalt und den vorgelegten Dokumenten.
Die Feststellung zum Namen des Beschwerdeführers war aufgrund der Eintragungen im irakischen Reisepass des Beschwerdeführers zu treffen.
Die Feststellungen zur absolvierten Deutschprüfung, zum Aufenthalt in Österreich, des sozialen und kulturellen Engagements des Beschwerdeführers, zur Nostrifizierung seiner Berufsausbildung und bisherigen ehrenamtlichen beruflichen Tätigkeiten des Beschwerdeführers sowie zu seiner sozialen Integration insbesondere in der Region XXXX ergeben sich aus den diesbezüglich in Vorlage gebrachten Unterlagen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das VwGVG geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
3.1. Zu Spruchteil A) I.
Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist, erfolgen gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG die Entscheidungen und Anordnungen des Bundesverwaltungsgerichtes durch Beschluss.
Aufgrund der Zurückziehung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des Bescheides des BFA vom 18.10.2018, Zl. 15-1084707402 / 151202062, sind die Spruchpunkte I. bis III. dieses Bescheides in Rechtskraft erwachsen, weshalb das diesbezügliche hg. Verfahren mit Beschluss einzustellen war.
3.2. Zu Spruchteil A) II.
3.2.1. Zur Rückkehrentscheidung:
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG nicht erteilt wird.
Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen: die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9).
Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.
Nach Art 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren sowie die Frage zu berücksichtigen, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (vgl. VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479).
Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art 8 Abs. 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VwGH vom 26.06.2007, 2007/01/0479).
3.2.1.1. Unter dem Privatleben sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. EGMR 16.6.2005, Fall Sisojeva ua, Appl 60.654/00, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Bei der Beurteilung der Frage, ob der Beschwerdeführer in Österreich über ein schützenswertes Privatleben verfügen, spielt die zeitliche Komponente eine zentrale Rolle, da – abseits familiärer Umstände – eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541). Hervorgehoben wird hierbei, dass im Falle eines bloß auf die Stellung eines Asylantrags gestützten Aufenthalts in der Entscheidung des EGMR (N. gegen United Kingdom vom 27.05.2008, Nr. 26565/05) ein Aufenthalt in der Dauer von zehn Jahren nicht als allfälliger Hinderungsgrund gegen eine Ausweisung unter dem Aspekt einer Verletzung von Art. 8 EMRK thematisiert wurde. Der Verwaltungsgerichtshof geht bei einem dreieinhalbjährigen Aufenthalt im Allgemeinen von einer eher kürzeren Aufenthaltsdauer aus (vgl. Chvosta, ÖJZ 2007/74 unter Hinweis auf VwGH 08.03.2005, 2004/18/0354; 27.03.2007, 2005/21/0378). Im Erkenntnis vom 26.06.2007, 2007/10/0479, argumentiert er, "dass der Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von drei Jahren [..] jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte".
3.2.1.2. Der Beschwerdeführer hält sich seit sechs Jahren im Bundesgebiet auf und ist sehr gut integriert. Der Beschwerdeführer hat mehrere Deutschkurse besucht und zuletzt die Sprachprüfung auf dem Niveau B1 erfolgreich absolviert. Wie in der mündlichen Verhandlung festgestellt werden konnte, kann er sich sehr gut auf Deutsch verständigen, sodass die mündliche Verhandlung in deutscher Sprache durchgeführt werden konnte.
Der Beschwerdeführer ist seit 2015 in Tirol in der Region XXXX wohnhaft, wo er von Beginn an soziale Kontakte knüpfte und sich um Integration innerhalb der ansässigen Bevölkerung bemühte. Sehr wichtig war dem Beschwerdeführer das Erlernen der deutschen Sprache, weshalb er sogleich damit begann, die deutsche Sprache zu erlernen und seine Sprachkenntnisse durch den Besuch von Sprachkursen zu verfestigen und die entsprechenden Sprachprüfungen zu absolvieren. Der Beschwerdeführer engagierte sich zudem nicht nur im Bereich der Altenpflege in der Gemeinde XXXX sondern auch im musikalischen, kulturellen und sportlichen Bereich. So besuchte er die Musikschule, wo er das Musizieren auf einer Ziehharmonika und einer Gitarre erlernte und nahm an Theateraufführungen teil. Da der Beschwerdeführer von Beruf Vermessungstechniker ist, suchte er sich in diesem Bereich eine Beschäftigung und wirkte diesbezüglich beim Breitbandausbau in der Gemeinde XXXX mit, wobei er die entsprechende Dokumentation für die Gemeinde erstellte und auch andere nützliche Hilfstätigkeiten durchführte. Im Rahmen dieser Beschäftigung konnte er auch Kontakte zu in Österreich tätigen Baufirmen knüpfen, wobei ihm schlussendlich eine Beschäftigung in Form eines Arbeitsvorvertrages zugesichert wurde. In beruflicher Hinsicht ist der Beschwerdeführer auch bemüht seine im Irak erfolgte berufliche Ausbildung in Österreich anerkennen zu lassen. Des weiteren ist der Beschwerdeführer auch im sozialen Bereich sehr engagiert, wobei er verschiedene Tätigkeiten, wie z.B. Dolmetscher- oder Übersetzungstätigkeiten im Bereich der Asylwerberbetreuung übernommen hat. Der Beschwerdeführer verfügt mittlerweile auch über einen großen Freundeskreis insbesondere in der Region Wögl.
Im Sinne einer Zukunftsprognose ist nach dem gewonnenen Eindruck des erkennenden Richters in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich des Beschwerdeführers davon auszugehen, dass dieser seine Integration in Österreich wie bisher fortsetzen und in der Lage sein wird, selbstständig für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.
Unzweifelhaft ist im gegenständlichen Fall von einem hohen Integrationsgrad mit ausreichend Potential, diesen noch weiter voranzutreiben, auszugehen. So hat der Beschwerdeführer nachvollziehbar dargelegt, dass er seine Deutschkenntnisse noch weiter vertiefen möchte, weshalb er schon die Deutschkurse auf dem Niveau B2 absolviert, aber die Prüfung leider nicht bestanden hat. Er ist seit seiner Einreise auch bemüht, einen eigenen Beitrag zur österreichischen Gesellschaft zu leisten, indem er seine Arbeitskraft – freiwillige Tätigkeit im Bereich der Altenpflege und der Asylwerberbetreuung sowie beim Breitbandausbau in der Gemeinde XXXX – angeboten hat. Überdies hat der Beschwerdeführer durch seine Angaben in der mündlichen Verhandlung auch ausreichend belegt, dass er im Bundesgebiet gute soziale Kontakte geknüpft hat und ist von einem festen Eingliederungswillen auszugehen.
Festzuhalten ist auch, dass die Verfahrensdauer dem Beschwerdeführer nicht angelastet werden kann, zumal er keine verfahrensverzögernden Handlungen gesetzt hat (vgl. VfGH 03.10.2013, U 477/2013; VfGH vom 21.02.2014, U 2552/2013; VfGH 06.06.2014, U 145/2014). Dem nun sechs Jahre dauernden Aufenthalt des Beschwerdeführers kommt im Sinne der oben zitierten Judikatur bereits eine gewisse maßgebende Bedeutung zu. Der Beschwerdeführer setzte zudem bereits vor der Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz durch die belangte Behörde weitreichende Integrationsbemühungen.
Insgesamt überwiegt somit das Interesse an der Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens des Beschwerdeführers im konkreten Fall die in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten öffentlichen Interessen, weshalb in Erledigung der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid die Rückkehrentscheidung für dauerhaft unzulässig zu erklären war.
Es wird hierbei nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch überwiegen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes in diesem vorliegenden Fall die privaten Interessen des Beschwerdeführers angesichts der erwähnten Umstände in ihrer Gesamtheit die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens. Eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer würde sich daher zum maßgeblichen aktuellen Entscheidungszeitpunkt als unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK erweisen.
Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher aufgrund der vorgenommenen Interessenabwägung unter Berücksichtigung der genannten besonderen Umstände zu dem Ergebnis, dass eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer unzulässig ist. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer sind.
3.2.2. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass dem Beschwerdeführer ein „Aufenthaltstitel plus“ gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG von Amts wegen zu erteilen ist.
Der Beschwerdeführer legte ein Zertifikat über eine im November 2017 abgelegte Prüfung Sprachniveau B1 des Österreichischen Integrationsfonds vor, wodurch er das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG und somit die Voraussetzungen für die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG erfüllt.
Das BFA hat dem Beschwerdeführer den Aufenthaltstitel gemäß § 58 Abs. 7 AsylG auszufolgen, der Beschwerdeführer hat dabei gemäß § 58 Abs. 11 AsylG mitzuwirken. Der Aufenthaltstitel gilt gemäß § 54 Abs. 2 AsylG zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.
Zu Spruchteil B):
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.
Schlagworte
Arbeitswilligkeit Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltsdauer Deutschkenntnisse Integrationsvereinbarung Interessenabwägung private Interessen Privatleben Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Teileinstellung ZurückziehungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:L507.2209533.1.01Im RIS seit
22.12.2021Zuletzt aktualisiert am
22.12.2021