TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/20 W238 2131517-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.09.2021
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Entscheidungsdatum

20.09.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9 Abs2
AsylG 2005 §9 Abs2 Z3
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z5
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W238 2131517-2/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Claudia MARIK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.04.2021, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.07.2021 zu Recht erkannt:

A)       Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass gemäß § 55 Abs. 1 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt wird, die gemäß § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft dieser Entscheidung beträgt.

B)       Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer stellte am 29.01.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, Außenstelle Graz (in weiterer Folge: BFA), vom 04.07.2016 wurde der Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.07.2017 erteilt (Spruchpunkt III.). Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass der Beschwerdeführer keine asylrelevante Verfolgungsgefahr dargetan habe. Da der Beschwerdeführer minderjährig sei und über keinen Familienbezug in seinem Heimatland verfüge, könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass er im Falle einer Rückkehr in eine aussichtslose Situation geraten würde, weshalb ihm subsidiärer Schutz zuerkannt werde.

Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides brachte der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde ein.

3. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 04.05.2017 wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 2a zweiter Fall und nach § 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt nachgesehen für eine Probezeit von drei Jahren, rechtskräftig verurteilt.

4. Am 13.06.2017 brachte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung beim BFA ein, die ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 mit Bescheid der belangten Behörde vom 06.09.2017 bis zum 04.07.2019 erteilt wurde.

5. Am 06.10.2017 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Nach Schluss der Verhandlung wurde die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides vom 04.07.2016 mit mündlich verkündetem Erkenntnis abgewiesen. Die Revision wurde für nicht zulässig erklärt. Am 13.10.2017 erging zu Zahl W102 2131517-1/11Z eine schriftliche Ausfertigung der am 06.10.2017 mündlich verkündeten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes.

6. Am 15.05.2019 stellte der Beschwerdeführer einen weiteren Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung, die ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 mit Bescheid der belangten Behörde vom 16.07.2019 bis zum 04.07.2021 erteilt wurde.

7. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 02.03.2021 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach §§ 15, 84 Abs. 4 StGB, wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und Abs. 2 erster Fall StGB und wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, davon 16 Monate bedingt nachgesehen für eine Probezeit von drei Jahren, rechtskräftig verurteilt.

8. Mit Schreiben des BFA vom 15.03.2021 wurde der Beschwerdeführer über die Einleitung eines Aberkennungsverfahrens benachrichtigt und ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu binnen zwei Wochen eine Stellungnahme abzugeben.

Am 23.04.2021 erstattete der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zu seiner Straffälligkeit, seinem Privat- und Familienleben in Österreich und einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan. Der Stellungnahme wurden Unterlagen beigelegt.

9. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 29.04.2021 wurde dem Beschwerdeführer der mit Bescheid vom 04.07.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.). Die mit Bescheid vom 16.07.2019 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter wurde ihm gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan unzulässig ist (Spruchpunkt V.). Schließlich wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein für die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.).

10. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde. Darin wurde insbesondere vorgebracht, dass die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten rechtswidrig erfolgt sei, da unter Berücksichtigung der Judikatur des EuGH und der konkreten Umstände des Falles keine „schwere Straftat“ im Sinne des Art. 17 Abs. 1 lit. b der Statusrichtlinie vorliege. Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, davon 16 Monate bedingt, verurteilt worden sei, was ein Indiz dafür sei, dass er keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass sich die zweite Verurteilung des Beschwerdeführers auf eine Tat beziehe, die im Rahmen einer Beziehungstat allein gegen seine Freundin gerichtet gewesen und nur in Folge Alkoholkonsums erfolgt sei, weshalb eine von ihm ausgehende Allgemeingefährdung für die Sicherheit der Republik Österreich nicht erkennbar sei. Der Beschwerdeführer sei nach wie vor in einer Beziehung mit seiner Freundin, die er inzwischen geheiratet habe; er habe aus seinem Fehler gelernt und konsumiere keinen Alkohol mehr. Zudem sei der Beschwerdeführer der gerichtlichen Weisung zu einem Anti-Gewalt-Training nachgekommen und nehme regelmäßig an einer Einzeltherapie bei der Männerberatung teil. Schließlich wurde ausgeführt, dass die Rückkehrentscheidung mit Blick auf die Integrationsverfestigung des Beschwerdeführers in Österreich sowie die Dauer des Einreiseverbotes unrechtmäßig seien. Der Beschwerde wurde eine Stellungnahme der Patin des Beschwerdeführers beigefügt.

11. Die Beschwerde und der Verwaltungsakt langten am 04.06.2021 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

12. Am 22.07.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertreterin teilnahmen und der ein Dolmetscher für die Sprachen Dari und Farsi beigezogen wurde. Im Rahmen der Verhandlung wurden auch zwei Zeuginnen einvernommen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm nicht an der Verhandlung teil. Die Niederschrift der Verhandlung wurde dem BFA im Anschluss übermittelt.

Der Beschwerdeführer wurde vom Gericht eingehend zu seiner Identität, Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich befragt. Im Zuge der Verhandlung wurden vom Gericht auch die Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren eingebracht. Die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers erstattete dazu eine schriftliche Stellungnahme.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Dari. Er verfügt auch über Sprachkenntnisse in Farsi, Deutsch und Englisch.

Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in Afghanistan, Provinz Ghazni, Distrikt XXXX geboren und lebte dort bis zu seinem sechsten Lebensjahr im Jahr 2007. Danach reiste er mit seiner Familie in den Iran aus und lebte dort bis zu seiner Ausreise nach Europa im Herbst 2014. Der Beschwerdeführer besuchte im Iran von 2008 bis 2010 eine Schule. Er kann lesen und schreiben. Im Iran arbeitete er als Minderjähriger in einer Glaserei, als Blumenverkäufer und als Hochzeits-DJ. Im Jänner 2015 erfolgte seine Einreise nach Österreich.

Die Familie des Beschwerdeführers lebt im Iran. Der Beschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seiner Familie (mütterlicherseits) bzw. zu seiner Mutter, die vom Vater des Beschwerdeführers geschieden ist, im Iran als Reinigungskraft arbeitet und die Familie versorgt. Zur Familie väterlicherseits besteht kein Kontakt bzw. kein Interesse des Beschwerdeführers an einem Kontakt. Der Beschwerdeführer unterstützt seine im Iran lebende Familie nach wie vor finanziell.

Der Beschwerdeführer ist volljährig, arbeitsfähig und gesund. Er nahm ab 04.04.2017 für einige Monate eine psychologische Behandlung in Anspruch. In Folge einer strafgerichtlichen Verurteilung (s. unten) und Anordnung der Bewährungshilfe besucht er seit April 2021 eine Psychotherapie bei der Männerberatung. Bei ihm bestehen aktuell weder physische noch psychische Funktionseinschränkungen. Er nimmt keine Medikamente ein. Zum Entscheidungszeitpunkt bestehen keine Hinweise auf eine lebensbedrohliche Erkrankung des Beschwerdeführers.

1.2. Zu den Gründen der Zu- und Aberkennung des subsidiären Schutzstatus

Der Beschwerdeführer stellte am 29.01.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Mit Bescheid der belangten Behörde vom 04.07.2016 wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten abgewiesen. Dem Beschwerdeführer wurde – unter Bezugnahme auf die damals bestandene Minderjährigkeit (15 Jahre) und das Fehlen eines familiären Rückhalts in Afghanistan – der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Ihm wurde eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.07.2017 erteilt.

Mit Bescheiden des BFA vom 06.09.2017 und vom 16.07.2019 wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung jeweils um zwei Jahre verlängert.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 29.04.2021 wurde der Schutzstatus gemäß § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung des Beschwerdeführers wegen eines Verbrechens von Amts wegen aberkannt; (das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Aberkennung nach § 9 Abs. 1 leg cit. wurde verneint). Unter einem wurden die Entziehung der befristeten Aufenthaltsberechtigung, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Unzulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan sowie die Erlassung eines siebenjährigen Einreiseverbotes ausgesprochen.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 04.05.2017 wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 2a zweiter Fall und nach § 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt nachgesehen für eine Probezeit von drei Jahren, rechtskräftig verurteilt.

Demnach hat der Beschwerdeführer am 30.03.2017 in XXXX vorschriftswidrig Suchtgift 1. an einem allgemein zugänglichen Ort öffentlich und unter Umständen, unter denen sein Verhalten geeignet war, durch unmittelbare Wahrnehmung berechtigtes Ärgernis zu erregen, anderen überlassen, indem er im XXXX Stadtpark ca. 0,6 Gramm Delta-9-THC-hältiges Cannabiskraut an eine näher bezeichnete Person verkaufte, während sich in unmittelbarer Nähe zumindest ca. 15 bis 20 unbeteiligte Personen (Spaziergänger, Passanten) aufhielten; 2. zum Zwecke des gewinnbringenden Verkaufs besessen, indem er weitere 17,9 Gramm Delta-9-THC-hältiges Cannabiskraut, die er für den Verkauf vorgesehen hatte, in einem „Bunker“ unter einem Gebüsch im XXXX Stadtpark versteckt hielt. Weiters hat der Beschwerdeführer in XXXX (Stadtpark), vorschriftswidrig Suchtgift in einer die Grenzmenge des § 28b SMG nicht übersteigenden Menge mit dem Vorsatz besessen, es in der Folge durch gewinnbringende Verkäufe in Verkehr zu setzen, und zwar am 19.02.2017 15,75 Gramm Cannabiskraut, wobei er die Tat nicht zum persönlichen Gebrauch beging.

Bei der Strafbemessung wurden als mildernd die Unbescholtenheit des Beschwerdeführers, die Ablegung eines zur Wahrheitsfindung dienlichen Geständnisses, als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer Vergehen gewertet. Angemerkt wurde, dass mehrfache Vormerkungen, Belehrungen und auch diversionelle Maßnahmen den nicht tadellosen Lebenswandel des Beschwerdeführers zeigen.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 02.03.2021 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach §§ 15, 84 Abs. 4 StGB, wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und Abs. 2 erster Fall StGB und wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, davon 16 Monate bedingt nachgesehen für eine Probezeit von drei Jahren, rechtskräftig verurteilt.

Demnach hat der Beschwerdeführer am 17.10.2020 in XXXX XXXX eine schwere Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung, nämlich zumindest eine längere Bewusstlosigkeit, zuzufügen versucht, indem er sie an den Haaren riss, sie schlug, insbesondere in das Gesicht, sie mit seinem Gewicht am Boden fixierte und am Hals heftig würgte, sodass sie keine Luft mehr bekam und erbrechen musste, wobei es nur deshalb beim Versuch blieb, weil die Polizei einschritt und XXXX in Form von Prellungen, kleinen Hämatomen und Schürfwunden im Bereich der rechten Brustkorbhälfte, der Brustwirbelsäule, des Kopfes und des Halses dem Grade nach lediglich leicht verletzt wurde; weiters hat er XXXX gefährlich mit dem Tod bedroht, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er im Zuge des soeben dargestellten Geschehens sinngemäß zu ihr sagte, sie habe sein Leben zerstört und er werde sie töten und dann auch sich selbst; weiters hat er XXXX mit Gewalt zu einer Unterlassung genötigt, nämlich nicht vor ihm zu flüchten und um Hilfe zu rufen, indem er ihr, als die Polizei vor der Tür war und zur Klärung des Sachverhalts Einlass forderte, sie mit seinem Gewicht am Boden fixierte und ihr den Mund zuhielt.

Der Strafrahmen für die schwere Körperverletzung beträgt gemäß 84 Abs. 4 StGB sechs Monate bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe. Die Verurteilung erfolgte insoweit wegen eines Verbrechens iSd § 17 StGB.

Bei der Strafbemessung wurden als mildernd der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, und die Tatbegehung vor Vollendung des 21. Lebensjahres, als erschwerend das Zusammentreffen von zwei Verbrechen mit einem Vergehen (gemeint wohl: von einem Verbrechen mit zwei Vergehen) sowie eine auf der gleichen schädlichen Neigung beruhende Vorstrafe gewertet. Das Erfordernis der Verhängung einer Freiheitsstrafe wurde im Urteil auch damit begründet, dass der Beschwerdeführer keine Bereitschaft zeigte, Verantwortung für das zur Last gelegte Tatgeschehen zu nehmen. Für die Dauer der Probezeit wurde Bewährungshilfe angeordnet und dem Beschwerdeführer die Weisung erteilt, sich einer psychotherapeutischen Behandlung bei der Männerberatung zu unterziehen.

Freigesprochen wurde der Beschwerdeführer mangels Schuldbeweises vom weiteren Vorwurf, er habe XXXX am 17.10.2020 in XXXX mit Gewalt und durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben zur Duldung des Beischlafes zu nötigen versucht.

Der Beschwerdeführer befand sich vom 17.10.2020 bis 26.03.2021 in Untersuchungs- und anschließender Strafhaft.

Der gerichtlichen Weisung zu einer Therapie bei der Männerberatung kommt der Beschwerdeführer nach. Die Termine bei der Bewährungshilfe werden vom Beschwerdeführer eingehalten.

Bezüglich der Verurteilung vom 02.03.2021 ist der Beschwerdeführer nach wie vor nicht reumütig und übernimmt nicht die Verantwortung für die dem Urteil zugrunde gelegten Straftaten.

1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Asylantragstellung am 29.01.2015 in Österreich auf.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten.

Er führt seit ca. vier Jahren eine Beziehung mit XXXX , geboren am XXXX , einer afghanischen Asylberechtigten. Im August 2020 erfolgte die traditionelle Eheschließung. Der Beschwerdeführer hat keine Kinder. Die Familie seiner Ehefrau war und ist gegen die Eheschließung mit dem Beschwerdeführer, da er – wie bereits festgestellt – am 02.03.2021 wegen gegen seine Freundin gesetzter Straftaten verurteilt wurde. Der Beschwerdeführer und XXXX haben aktuell getrennte Wohnsitze. Sie waren bislang lediglich für fünf Monate an derselben Adresse gemeldet (bis Februar 2021). Ein gemeinsamer Haushalt besteht derzeit nicht. Der Beschwerdeführer und XXXX verbringen dennoch viel Zeit miteinander, sowohl in der Wohnung des Beschwerdeführers als auch bei Freizeitunternehmungen. XXXX geht derzeit keiner Beschäftigung nach und hat Anspruch auf Mindestsicherung. Zwischen dem Beschwerdeführer und XXXX besteht zwar seit einigen Jahren eine Beziehung; diese ist jedoch – auch mangels eines gemeinsamen Wohnsitzes – weder besonders intensiv noch bestehen spezifische Abhängigkeiten.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über freundschaftliche Kontakte, darunter zu einer Frau, die im April 2021 eine Patenschaft für ihn übernahm.

Er nahm an Deutschkursen sowie an einem Werte- und Orientierungskurs teil. Er legte erfolgreich die B1-Integrationsprüfung ab. Er besuchte eine Neue Mittelschule und im Schuljahr 2016/2017 die Übergangsklasse in einer Höheren Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe. Im November 2016 nahm er an einem Hallenfußballturnier teil. Er nahm eine Beratung im Rahmen eines Jugendcoachings der VHS wahr. Im April 2021 absolvierte er einen Kompetenzcheck der VHS. Im April 2021 meldete er sich als Vorbereitung für die Nachholung des Pflichtschulabschlusses für einen Brückenkurs an. Während der Haft absolvierte er einen Computerkurs.

In Österreich war der Beschwerdeführer mehrfach vollversichert (insgesamt ca. siebeneinhalb Monate) sowie auch geringfügig beschäftigt (insgesamt ca. drei Monate). Er absolvierte fünf Monate eine Maler-Lehre. Nach Abbruch der Lehre arbeitete er im Gastronomiebereich als Koch bzw. Küchenhilfe, im Verkauf und als Kellner. In Haft war er als Hausarbeiter tätig. Derzeit bezieht er Notstandshilfe und Wohnbeihilfe.

Der Beschwerdeführer wurde in Österreich zweimal rechtskräftig verurteilt (s. oben). Nach Verbüßung der Strafhaft absolvierte er ein Anti-Gewalt-Training. Seit April 2021 unterzieht er sich der Bewährungshilfe und einer Einzeltherapie bei der Männerberatung.

1.4. Zur Lage in Afghanistan

Betreffend die Lage in Afghanistan werden dieser Entscheidung insbesondere die in folgenden Berichten enthaltenen Informationen zugrunde gelegt:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.09.2021 (Version 5)

-        UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan vom August 2021 (UNHCR)

-        Long War Journal, Landkarte mit täglichem Update betreffend die Distriktskontrolle, https://www.longwarjournal.org/mapping-taliban-control-in-afghanistan, abgerufen am 12.09.2021

-        EASO, Country of Origin Information Report, Afghanistan Security Situation Update, September 2021

-        Homepage der WHO: https://www.who.int und https://covid19.who.int/region/emro/country/af (WHO)

Politische Lage (LIB S. 10 ff.):

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen.

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte. Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich. Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal. Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung, die schließlich nicht zustande kam. Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets. Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt.

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten.

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura. Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war, ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war. Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada, ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates.

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte.

Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen. Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden.

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen.

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt, Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten. So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt. Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar.

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen. Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen. China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten.

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen. Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen.

Abzug der Internationalen Truppen (LIB S. 14 f.):

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“, allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen. Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der „Bruch“ des Doha-Abkommens „öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat“. Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab. Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos.

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte, während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen „Besatzungstruppen“ gearbeitet hätten, „irregeführt“ worden seien und „Reue“ für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem „Verrat“ am Islam und an Afghanistan gleichkämen.

Sicherheitslage (LIB S. 16 f.):

Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu, aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil. Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan. Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in „halsbrecherischer Geschwindigkeit“, innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte. Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog. Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein. Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif. Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück. Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird, auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt.

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt, formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten. Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen. Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein, während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei. Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen.

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen.

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen.

Vorfälle am Flughafen Kabul

Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen. Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen ware. Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt.

Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag.

Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden. Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein.

Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden. Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird. Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen. Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen. Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist. Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden.

Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet. In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein. Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin. Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen: Eine Richterin wie auch eine Polizistin gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein.

Zivile Opfer vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 (LIB S. 19 f.):

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 30.6.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 5.183 zivile Opfer (1.659 Tote und 3.524 Verletzte). In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres dokumentierte UNAMA fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Im gesamten Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das war ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Obwohl ein Rückgang von durch regierungsfeindliche Elemente verletzte Zivilisten im Jahr 2020 festgestellt werden konnte, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, so gab es einen Anstieg an zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch Opfern von aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht- Selbstmord-IEDs (VBIEDs).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht.

Auch im Jahr 2021 kommt es weiterhin zu Angriffen und gezielten Tötungen von Zivilisten. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams und zehn Minenräumer getötet.

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe.

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 (LIB S. 22 f.):

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen. Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt. Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt. Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien. Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt. Auch 2021 kam es zu einer Reihe von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen gegen religiöse Minderheiten, darunter eine Hazara-Versammlung in der Stadt Kunduz am 13.5.2021 und eine Sufi-Moschee in Kabul am 14.5.2021 sowie mehrere Personenkraftwagen, die entweder schiitische Hazara beförderten oder zwischen dem 1. und 12.6.2021 durch überwiegend von schiitischen Hazara bewohnte Gebiete in der Provinz Parwan und Kabul fuhren. Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge.

Erreichbarkeit – Flugverbindungen (LIB S. 30):

Mit der Machtübernahme der Taliban Mitte August 2021 wurden internationale Flüge eingestellt. Gemäß Ankündigung vom 11.9.2021 plant eine pakistanische Fluggesellschaft, wieder Linienflüge nach Kabul aufzunehmen.

Verfolgungungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten (LIB S. 37 f.):

Nach der Machtübernahme der Taliban wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände. Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen.

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren. Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben. Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden. Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht.

Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus. Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können.

Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE („Handheld Interagency Identity Detection Equipment“-Geräte]. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenministeriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze.

Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden. Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine „wahre Fundgrube an Informationen“ für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien „wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber“.

Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros zudem keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten.

Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen von Ausländern und afghanischen Ortskräften nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine „Todesliste“ gesetzt, wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden.

Struktur und Führung der Taliban (LIB S. 43 f):

Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb.

Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde.

Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban- Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an.

Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001. Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat, sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras.

Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als „Ministerien“ fungierten. Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss.

Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten.

Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada. Er ist seit 2016 der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“, ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde. Er hat drei Stellvertreter: 1.) der Stellvertreter für Politisches ist Mullah Abdul Ghani Baradar, der Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha; 2.) der Stellvertreter für die südlichen Provinzen und Leiter der militärischen Operationen bzw. der einflussreichen Kommission für militärische Angelegenheiten ist Mullah Mohammad Yaqoob; 3.) der Stellvertreter für die östlichen Provinzen ist Sirajuddin Haqqani, der auch der Anführer des Haqqani-Netzwerks und der Miran Shah-Schura ist. Im September 2021 wurde angekündigt, dass Baradar in der „Übergangsregierung“ die Position des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats einnehmen wird, Yaqoob soll Verteidigungsminister werden, Sirajuddin Haqqani Innenminister. Haibatullah Akhunzada wird sich als „Oberster Führer“ auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren.

Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban. Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet, was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde.

Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation. Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40-45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können.

Rechtsschutz/Justizwesen (LIB S. 60 f.):

Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 an, dass zukünftig eine islamische Regierung von islamischen Gesetzen angeleitet werden soll, das Regierungssystem solle auf der Scharia basieren. Sie blieben dabei allerdings sehr vage bezüglich der konkreten Auslegung. „Scharia“ bedeutet auf Arabisch „der Weg“ und bezieht sich auf ein breites Spektrum an moralischen und ethischen Grundsätzen, die sich aus dem Koran sowie aus den Aussprüchen und Praktiken des Propheten Mohammed ergeben. Die Grundsätze variieren je nach der Auslegung verschiedener Gelehrter, die Denkschulen gegründet haben, denen die Muslime folgen und die sie als Richtschnur für ihr tägliches Leben nutzen.

Die Auslegung der Scharia ist in der muslimischen Welt Gegenstand von Diskussionen. Jene Gruppen und Regierungen, die ihr Rechtssystem auf die Scharia stützen, haben dies auf unterschiedliche Weise getan. Wenn die Taliban sagen, dass sie die Scharia einführen, bedeutet das nicht, dass sie dies auf eine Weise tun, der andere islamische Gelehrte oder islamische Autoritäten zustimmen würden. Sogar in Afghanistan haben sowohl die Taliban, die das Land zwischen 1996 und 2001 regierten, als auch die Regierung von Ashraf Ghani behauptet, das islamische Recht zu wahren, obwohl sie unterschiedliche Rechtssysteme hatten.

Die Auslegung des islamischen Rechts durch die Taliban entstammt nach Angaben eines Experten dem Deobandi-Strang der Hanafi-Rechtsprechung - einem Zweig, der in mehreren Teilen Südostasiens, darunter Pakistan und Indien, anzutreffen ist - und der eigenen gelebten Erfahrung als überwiegend ländliche und stammesbezogene Gesellschaft. Als die Taliban 1996 an die Macht kamen, setzten sie strenge Kleidervorschriften für Männer und Frauen durch und schlossen Frauen weitgehend von Arbeit und Bildung aus. Die Taliban führten auch strafrechtliche Bestrafungen (hudood) im Einklang mit ihrer strengen Auslegung des islamischen Rechts ein, darunter öffentliche Hinrichtungen von Menschen, die von Taliban-Richtern des Mordes oder des Ehebruchs für schuldig befunden wurden, und Amputationen für diejenigen, die aufgrund von Diebstahl verurteilt wurden.

Sicherheitsbehörden

Es sind zum aktuellen Zeitpunkt mit September 2021 noch keine validen Informationen den Aufbau der Sicherheitsbehörden unter den Taliban bekannt.

Folter und unmenschliche Behandlung (LIB S. 61):

Unter der vormaligen Regierung war laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) Folter verboten. Die Regierung erzielte Fortschritte bei der Verringerung der Folter in einigen Haftanstalten, versäumte es jedoch, Mitglieder der Sicherheitskräfte und prominente politische Persönlichkeiten für Misshandlungen, einschließlich sexueller Übergriffe, zur Rechenschaft zu ziehen.

Es gibt zahlreiche Berichte über Folter und grausame, unmenschliche und erniedrigende Bestrafung durch die Taliban, ISKP und andere regierungsfeindliche Gruppen. UNAMA berichtet, dass zu den von den Taliban durchgeführten Bestrafungen Schläge, Amputationen und Hinrichtungen gehörten. Die Taliban hielten UNAMA zufolge Häftlinge unter schlechten Bedingungen fest und setzten sie Zwangsarbeit aus.

Allgemeine Menschenrechtslage (LIB S. 64):

Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021. Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet. Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, sie hätten Angst vor Repressalien.

Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt.

Meinungs- und Pressefreiheit nach der Machtübernahme durch die Taliban (LIB S. 65):

Ein Protest von mehreren hundert Personen wurde am 7.9.2021 durch Taliban-Kämpfer aufgelöst, indem sie Gewehrsalven in die Luft feuerten. Augenzeugen berichteten, dass Taliban-Mitglieder Fotos und Videos der Proteste von den Telefonen der von ihnen festgenommenen Personen löschten. Auch ein Kameramann des afghanischen Nachrichtensenders Tolo News wurde kurzzeitig von den Taliban festgenommen. Es gibt auch Berichte, wonach Taliban Tränengas und Pfefferspray gegen Demonstranten einsetzen. Nach außen hin haben sich die Taliban verpflichtet, Journalisten zu schützen und die Pressefreiheit zu respektieren, doch die Realität in Afghanistan ist nach Reporter ohne Grenzen (RSF) eine andere. Die neuen Behörden verhängen bereits sehr strenge Auflagen für die Nachrichtenmedien, auch wenn sie noch nicht offiziell sind und es gibt Berichte wonach die Taliban Journalisten Schikanen, Drohungen und auch Gewalt aussetzen. Am 7.9.2021 verhafteten Sicherheitskräfte der Taliban Journalisten des in Kabul ansässigen Medienunternehmens Etilaat-e Roz. Die Reporter hatten über Proteste von Frauen in Kabul berichtet, die ein Ende der Verstöße der Taliban gegen die Rechte von Frauen und Mädchen forderten. Es wurde berichtet, dass die Taliban-Behörden die beiden Männer zu einer Polizeistation in Kabul brachten, sie in getrennte Zellen steckten und sie mit Kabeln schwer verprügelten. Beide Männer wurden am 8.9.2021 freigelassen und in einem Krankenhaus wegen ihrer Verletzungen am Rücken und im Gesicht medizinisch versorgt. Die Taliban haben ihr Vorgehen gegen die Proteste gegen ihre Herrschaft verschärft und haben alle Demonstrationen, die nicht offiziell genehmigt sind verboten, sowohl die Versammlung selbst als auch etwaige Slogans, die verwendet werden. Die Taliban warnten vor „schweren rechtlichen Konsequenzen“ sollte man sich nicht daran halten.

Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und Opposition (LIB S. 67):

Ein Protest von mehreren hundert Personen wurde am 7.9.2021 durch Taliban-Kämpfer aufgelöst, indem sie Gewehrsalven in die Luft feuerten. Augenzeugen berichteten, dass Taliban-Mitglieder Fotos und Videos der Proteste von den Telefonen der von ihnen festgenommenen Personen löschten. Auch ein Kameramann des afghanischen Nachrichtensenders Tolo News wurde kurzzeitig von den Taliban festgenommen. Es gibt auch Berichte wonach Taliban Tränengas und Pfefferspray bzw. Stöcke und Peitschen gegen Demonstranten einsetzen. Auch von Todesopfern bei Protesten wird berichtet. Die Taliban haben ihr Vorgehen gegen die Proteste gegen ihre Herrschaft verschärft und haben alle Demonstrationen, die nicht offiziell genehmigt sind verboten, sowohl die Versammlung selbst als auch etwaige Slogans, die verwendet werden. Die Taliban warnten vor „schweren rechtlichen Konsequenzen“ sollte man sich nicht daran halten.

Religionsfreiheit (LIB S. 70):

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus.

Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf Religionsfreiheit sind noch keine validen Informationen bekannt.

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wurde vor der Machtübernahme durch die Taliban auf 10 bis 19% gesc

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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