Entscheidungsdatum
29.09.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W201 2159853-2/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Angela SCHIDLOF als Einzelrichterin zu der Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Mag. Wilfried Embacher, Rechtsanwalt, in 1040 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, RD XXXX , vom XXXX , Zl: XXXX , zu Recht:
A) Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Mit dem im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangten Behörde), Regionaldirektion XXXX , wurde dem Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) der mit Erkenntnis vom 05.03.2018, GZ: W134 2159853-1, zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt und gleichzeitig gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), gemäß § 57 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 8 Abs. 3a AsylG iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 und § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung unzulässig ist (Spruchpunkt V.), gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.) und gemäß § 53 Abs. 1 iVm. Abs. 3 Z 1 FPG gegen den BF ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, aufgrund der gegen den BF vorliegenden Verurteilungen nach dem Suchmittelgesetz könne keine positive Zukunftsprognose getroffen werden. Die in relativ kurzer Zeit vermehrte Straffälligkeit des BF nach dem Suchtmittelgesetz lasse in Zusammenschau mit seiner Lebenssituation in Österreich den Schluss zu, dass eine weitere Delinquenz insbesondere im deliktischen Umfeld der Suchtmittelkriminalität jedenfalls zu befürchten sei. Der BF stelle im Ergebnis eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, weshalb ihm der Status des Asylberechtigten abzuerkennen gewesen sei. In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde aus, es handle sich beim Drogenhandel typischerweise um ein „besonders schweres“ Verbrechen.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde. Der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zufolge, genüge es nicht, dass die betroffene Person ein abstrakt schwer einzustufendes Delikt verübt habe, da sich die Tat im konkreten Einzelfall als objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend erweisen müsste und Milderungsgründe, Schuldausschließungsgründe und Rechtfertigungsgründe zu berücksichtigen seien. Der BF sei zudem nicht wegen eines besonders schweren Verbrechens verurteilt worden, da das SMG lediglich in den §§ 28 und 28a die Vorbereitung von Suchtgifthandel und den Suchtgifthandel mit einer Freiheitsstrafe bis zu 3 bzw. 5 Jahren bedrohe. Es sei daher offenkundig, dass die vom Verwaltungsgerichtshof geforderte rechtskräftige Verurteilung wegen „Drogenhandels“ ihre Entsprechung in diesen beiden Paragraphen finden würden. Ungeachtet dessen, sei der BF seit Februar 2019 als Karosseriespengler beschäftigt gewesen und habe er diese Beschäftigung ab August 2019 nach seiner Inhaftierung wiederaufnehmen können. Des Weiteren seien die Bewilligung des elektronisch überwachten Hausarrestes und die Bewährungshilfe für den BF angeordnet worden. Der BF zeige sich schuldeinsichtig und reumütig hinsichtlich seiner strafbaren Handlungen.
3. In der Folge legte das BFA den Verwaltungsakt am 11.10.2019 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.
4. Am 30.09.2020 legte die Rechtsvertretung ein vorläufiges Dienstzeugnis bezüglich des BF vor und führte ergänzend aus, dass der Verwaltungsgerichtshof mittlerweile klargestellt habe, dass für die Qualifizierung eines besonders schweren Verbrechens, dieses im Sinne des § 17 StGB begangen werden müsste. Da der BF jedoch gemäß § 27 SMG wegen eines Vergehens verurteilt worden sei, seien die Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht erfüllt.
5. Am 23.11.2020 legte die Rechtsvertretung einen Sozialbericht des Vereins Neustart vor.
1. Feststellungen:
Auf Grundlage der Niederschriften über die Erstbefragungen, der Niederschriften über die weiteren Einvernahmen durch die belangte Behörde, des Beschwerdevorbringens, der mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie der Länderberichte zur Lage in Afghanistan und den vom BF vorgelegten Unterlagen sowie nach Einsichtnahme in den aktuellen Strafregisterauszug und das Auskunftsverfahren der Sozialversicherung werden folgende Feststellungen getroffen:
1.1. Zur Person des BF:
Der BF wurde am XXXX geboren und führt den im Spruch genannten Namen. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, sunnitischer Moslem und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er stammt aus der Provinz XXXX .
Der BF leidet an keiner lebensbedrohenden Erkrankung und ist arbeitsfähig.
Folgende strafrechtliche Verurteilungen sind im Strafregister zum Entscheidungszeitpunkt evident:
01) Landesgericht für Strafsachen Wien, GZ: XXXX vom XXXX , RK XXXX
§ 27 Abs. 2a 2. Fall SMG, § 15 StGB
Freiheitsstrafe 4 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Geldstrafe von 180 Tagessätze zu je EUR 23,00 (EUR 4.140), im NEF 90 Tage Ersatzfreiheitsstrafe
zu LG XXXX RK XXXX
Bedingte Nachsicht der Strafe wird widerrufen
Landesgericht für Strafsachen Wien, GZ: XXXX vom XXXX
02) Landesgericht für Strafsachen Wien, GZ: XXXX vom XXXX , RK XXXX
§ 27 Abs. 1 8. Fall, 27 Abs. 2a 2. Fall, 27 Abs. 3 SMG, § 15 StGB
Freiheitsstrafe 7 Monate
zu Landesgericht für Strafsachen Wien, GZ: XXXX RK XXXX
zu Landesgericht für Strafsachen Wien, GZ: XXXX RK XXXX
Aus der Freiheitsstrafe entlassen am XXXX , bedingt, Probezeit 3 Jahre
Anordnung der Bewährungshilfe
Landesgericht für Strafsachen Wien, GZ: XXXX vom XXXX
Der BF war von XXXX bis zum XXXX bzw. nach seiner Entlassung aus der Haft als Karosseriespengler bei der XXXX GmbH tätig und bezieht seit September 2020 ein Gehalt von EUR XXXX . Seit seiner Haftentlassung hat sich der BF wohlverhalten und sich nichts mehr zu Schulden kommen lassen.
1.2. Zu einer Rückkehr des BF in das Herkunftsland:
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellt. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
Der BF wäre im Fall einer Rückführung in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einem realen Risiko einer ernsthaften Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bzw. der Gefährdung des Lebens, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch einen konkreten Akteur ausgesetzt.
Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.
Der BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.
Dem BF ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht ihm ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).
1.4. Zur Lage in Afghanistan (LIB in der Fassung 10.08.2021)
Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Zur Lage in Afghanistan werden im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation der Gesamtaktualisierung vom 10.08.2021, in den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Dezember 2020 enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:
COVID-19
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan:
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).
Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)
Maßnahmen der Regierung und der Taliban:
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020).
Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).
Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).
Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung:
COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).
Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt:
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).
Frauen und Kinder
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.8.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 1.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
Taliban
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020).
Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021).
Ethnische Gruppen
Tadschiken:
Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan (MRG o.D.d; vgl. RFE/RL 9.8.2019) und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land (MRG o.D.d). Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.d).
Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit (GIZ 4.2019).
Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation
(GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.d). Heute werden unter dem Terminus t?jik „Tadschike“ fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (STDOK 7.2016).
Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten (MRG o.D.d). Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (BI 29.9.2017).
Auszug aus der Kurzinformation der Staatendokumentation: Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan Stand vom 20.8.2021
Aktuelle Lage
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).
Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a). Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b). Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c). Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).
Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021). Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SRVerlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021)
Exkurs
Die Anführer der Taliban
Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen TalibanFührer auch nach außen auf. Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des SchariaGerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird.
Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban-Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht. Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban-Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).
Stärke der Taliban-Kampftruppen
Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).
UNHCR POSITION ON RETURNS TO AFGHANISTAN
[…] 4. All claims of nationals and former habitual residents of Afghanistan seeking international protection should be processed in fair and efficient procedures in accordance with international and regional refugee law. UNHCR is concerned that recent developments in Afghanistan are giving rise to an increase in international protection needs for people fleeing Afghanistan, whether as refugees under the 1951 Convention or regional refugee instruments, or as beneficiaries of other forms of international protection.7 The same applies to those who were already in countries of asylum before the recent escalation of violence in Afghanistan. In light of the volatile situation in Afghanistan, UNHCR welcomes steps taken by some countries of asylum to suspend decision-making on international protection needs of nationals and former habitual residents of Afghanistan, until such time as the situation in the country has stabilized and reliable information about the security and human rights situation is available to assess the international protection needs of individual applicants. In view of the volatility of the situation in Afghanistan, UNHCR does not consider it appropriate to deny international protection to Afghans and former habitual residents of Afghanistan on the basis of an internal flight or relocation alternative. […]
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person des BF:
Die Feststellungen über die familiären Verhältnisse des BF, Namensführung, Geburtsdaten, Staatsangehörigkeit, Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit sowie Muttersprache basieren auf den auf den diesbezüglich gleichbleibenden und glaubhaften Aussagen des BF im Verwaltungsverfahren und in der mündlichen Verhandlung vom 16.10.2017 vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Der BF hat im Laufe des Verfahrens stets erklärt, gesund zu sein.
Dass zum Zeitpunkt der Entscheidung im Strafregister die oben angeführten Verurteilungen evident sind, ergibt sich aus einem Strafregisterauszug. Die Feststellung zur Aufenthaltsdauer, zur Situation und Integration des BF in Österreich stützen sich auf die Aktenlage, insbesondere auf die vorgelegten Unterlagen.
Die Feststellung zu der erfolgten Asylgewährung bzw. der Aberkennung des Status des Asylberechtigten beruhen auf dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 05.03.2018, GZ: W134 2159853-1 bzw. dem fallgegenständlichen Bescheid der belangten Behörde vom XXXX .
Die Feststellungen zu den Einkommens- und Lebensverhältnissen beruhen auf den diesbezüglich mit Urkunden belegten Angaben des BF. So wurde dazu ein vorläufiges Dienstzeugnis vorgelegt. Die Feststellung, dass sich der BF seit seiner Haftentlassung nichts mehr zu Schulden hat kommen lassen ergibt sich aus dem Strafregister der Republik Österreich sowie einem Schreiben der Bewährungshilfe durch den Verein Neustart.
2.2. Zur Rückkehrmöglichkeit nach Afghanistan
Die Feststellungen zu den Folgen einer Ansiedelung in der Herkunftsprovinz ergibt sich aus den o.a. Länderberichten. Auf das Wesentliche zusammengefasst geht aus den Länderberichten hervor, dass eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar ist:
Aus den angeführten Gründen und aufgrund der grundsätzlich nicht einfachen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die erforderliche Versorgung im Herkunftsstaat ist festzustellen, dass der BF bei einer Rückkehr nach Kabul oder Mazar-e Sharif einem realen Risiko ausgesetzt wäre, in eine existenzbedrohende (Not-)Lage zu geraten.
2.3. Zur Lage im Herkunftsstaat
Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat ergeben sich aufgrund des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation sowie die Kurzinformation der Staatendokumentation vom 20.08.2021, den EASO-Richtlinien (Country Guidance Afghanistan) von Dezember 2020 und der UNHCR-RL vom 30.08.2018, der UNHCR Position zu Afghanistan aus 08/2021 sowie der zahlreichen nationalen und internationalen Berichterstattung zum Vormarsch und zur Machtübernahme der Taliban. Aufgrund der derzeitigen Entwicklung war der aktuellsten Kurzinformationen der Staatendokumentation, der aktuellen UNHCR Position und den aktuellen Medienberichten in der Beweiswürdigung der größte Stellenwert aufgrund der notwendigen Aktualität einzuräumen.
Die Feststellungen zu den Folgen einer Rückkehr des BF nach Afghanistan ergeben sich aus den oben angeführten Länderberichten in Zusammenschau mit den persönlichen Umständen des BF sowie der zahlreichen, aktuellen nationalen und internationalen Berichterstattung:
Dem BF wäre es aufgrund der nunmehr in Afghanistan herrschenden Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit derzeit nicht möglich, Afghanistan zu erreichen und sich dort eine Existenz aufzubauen, ohne eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner körperlichen Unversehrtheit zu riskieren. Auch nicht mehr, wie festgestellt, in den zuvor relativ sicheren Städten Mazar-e Sharif und Herat.
Herat, ebenso wie Kandahar, fiel am 12.08.2021, wie aus der unzähligen nationalen und internationalen Berichterstattung hervorging, an die Taliban. Mazar-e Sharif wurde am 14.08.2021 erobert. Die Hauptstadt Kabul fiel mit 15.08.2021 ebenfalls an die Taliban und begab sich der afghanische Präsident außer Landes. In der Folge wurde der Präsidentenpalast durch die Taliban besetzt und es kam zu chaotischen Szenen am Flughafen Kabul sowie zur Stellungnahme der afghanischen Behörde für Flugsicherheit, den afghanischen Luftraum in der Zivilluftfahrt zu meiden, da dieser nur für militärische Flüge freigegeben sei, weshalb aus Sicht des erkennenden Gerichts keine Erreichbarkeit mehr gegeben ist. Auch zeigt sich die grundsätzlich instabile Sicherheitslage darin, dass nach Afghanistan entsandten Vertreter zahlreicher Staaten von ihren Heimatstaaten aufgefordert wurden, Afghanistan zu verlassen.
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afghanistan-taliban-erobern-mit-kandahar -die-zweitgroesste-stadt-17483081.html [Frankfurter Allgemeine, 13.08.2021]
https://www.sn.at/politik/weltpolitik/bereits-18-provinzhauptstaedte-afghanistans-in-taliban-hand-107903731 [Salzburger Nachrichten, 14.08.2021]
https://www.sn.at/politik/weltpolitik/taliban-verkuenden-sieg-praesidentenpalast-besetzt-108029776 [Salzburger Nachrichten, 15.08.2021]
https://orf.at/stories/3225020/ [orf.at, 16.08.2021]
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afghanistan-ein-fluechtling-berichtet-vom-taliban-terror-17486919.html [Frankfurter Allgemeine, 16.08.2021]
https://www.sn.at/politik/weltpolitik/chaotische-szenen-am-flughafen-in-kabul-108078907 [Salzburger Nachrichten, 16.08.2021]
https://www.spiegel.de/ausland/afghanistan-flucht-vor-taliban-chaos-am-flughafen-von-kabul-a-497a0d6c-fecc-406f-bc71-07d8b0d39707 [Spiegel, 16.08.2021]
https://www.bbc.com/news/world-asia-58227029 [BBC News, 16.08.2021]
https://www.reuters.com/world/asia-pacific/airlines-reroute-flights-avoid-afghanistan-airspace-2021-08-16/ [CNN News, 16.08.2021]
Die derzeit in ganz Afghanistan herrschende schlechte Sicherheitslage zeigt sich auch darin, dass bereits viele europäische Staaten, wie unter anderem Deutschland, Frankreich, Schweden und die Niederlande, vorübergehend Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt haben, zumal der Wunsch danach von mittlerweile abgelösten Regierungsvertretern geäußert wurde, die die Lage aus nächster Nähe einschätzen konnten.
https://www.derstandard.at/story/2000128854309/niederlande-und-deutschland-setzen-abschiebungen-nach-afghanistan-aus [Der Standard, 11.08.2021]
https://www.spiegel.de/ausland/afghanistan-frankreich-stoppt-abschiebefluege-nach-kabul-a-cad7bdae-7ed7-427a-b0c6-d9451c3f7891 [Spiegel, 12.08.2021]
Vor dem Hintergrund der, de facto derzeit aufgrund der aktuellen Ereignisse, nicht beurteilbaren Sicherheits- und Versorgungslage, somit der Faktenlage zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, und deren Entwicklung in naher Zukunft in Afghanistan war in einer Gesamtschau festzustellen, dass nunmehr in ganz Afghanistan ein solcher Grad an willkürlicher Gewalt herrscht, dass der BF allein durch seine Anwesenheit tatsächlich einer ernsthaften, individuellen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt sind, und dass er Gefahr laufe, dort grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Eine Gesamtschau der Umstände führt zur Feststellung, dass es dem BF aufgrund der angespannten Situation in allen Teilen Afghanistan nicht zumutbar ist eine Existenz im Herkunftsstaat aufzubauen.
Bezüglich der vom erkennenden Gericht getätigten Feststellungen zur aktuellen Situation in Afghanistan (Machtübernahme der Taliban Mitte August 2021) ist festzuhalten, dass diese Kenntnisse als notorisch vorauszusetzen sind. Gemäß § 45 Absatz 1 AVG bedürfen nämlich Tatsachen, die bei der Behörde offenkundig sind (so genannte „notorische“ Tatsachen; vergleiche Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze 13-MSA1998-89) keines Beweises. „Offenkundig“ ist eine Tatsache dann, wenn sie entweder „allgemein bekannt“ (notorisch) oder der Behörde im Zuge ihrer Amtstätigkeit bekannt und dadurch „bei der Behörde notorisch“ (amtsbekannt) geworden ist; „allgemein bekannt“ sind Tatsachen, die aus der alltäglichen Erfahrung eines Durchschnittsmenschen – ohne besondere Fachkenntnisse – hergeleitet werden können (VwGH 23.01.1986, 85/02/0210; vergleiche auch Fasching; Lehrbuch 2 Rz 853). Zu den notorischen Tatsachen zählen auch Tatsachen, die in einer Vielzahl von Massenmedien in einer der Allgemeinheit zugänglichen Form über Wochen hin im Wesentlichen gleichlautend und oftmals wiederholt auch für einen Durchschnittsmenschen leicht überprüfbar publiziert wurden.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Ersatzlose Behebung des angefochtenen Bescheides
Der mit „Aberkennung des Status des Asylberechtigten“ betitelte § 7 AsylG 2005 lautet wie folgt:
„(1) Der Status des Asylberechtigten ist einem Fremden von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn
1. ein Asylausschlussgrund nach § 6 vorliegt;
2. einer der in Art. 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Endigungsgründe eingetreten ist oder
3. der Asylberechtigte den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in einem anderen Staat hat.
(2) Ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten ist jedenfalls einzuleiten, wenn der Fremde straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3) und das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß Abs. 1 wahrscheinlich ist.
(3) Das Bundesamt kann einem Fremden, der nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3), den Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 nicht aberkennen, wenn die Aberkennung durch das Bundesamt - wenn auch nicht rechtskräftig - nicht innerhalb von fünf Jahren nach Zuerkennung erfolgt und der Fremde seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hat. Kann nach dem ersten Satz nicht aberkannt werden, hat das Bundesamt die nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005, zuständige Aufenthaltsbehörde vom Sachverhalt zu verständigen. Teilt diese dem Bundesamt mit, dass sie dem Fremden einen Aufenthaltstitel rechtskräftig erteilt hat, kann auch einem solchen Fremden der Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 aberkannt werden.
(4) Die Aberkennung nach Abs. 1 Z 1 und 2 ist mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt. Dieser hat nach Rechtskraft der Aberkennung der Behörde Ausweise und Karten, die den Status des Asylberechtigten oder die Flüchtlingseigenschaft bestätigen, zurückzustellen.“
Gemäß Art. 1 Abschnitt C der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), BGBl. Nr. 55/1955 und 78/1974, wird dieses Abkommen auf eine Person, die unter die Bestimmungen des Abschnittes A fällt, nicht mehr angewendet werden, wenn sie
1. sich freiwillig wieder unter den Schutz ihres Heimatlandes gestellt hat; oder
2. die verlorene Staatsangehörigkeit freiwillig wieder erworben hat; oder
3. eine andere Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz des neuen Heimatlandes genießt; oder
4. sich freiwillig in den Staat, den sie aus Furcht vor Verfolgung verlassen oder nicht betreten hat, niedergelassen hat; oder
5. wenn die Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist. bestehen und sie daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen.
6. staatenlos ist und die Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen, sie daher in der Lage ist, in ihr früheres Aufenthaltsland zurückzukehren.
Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH müssen für die Anwendung des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 kumulativ vier Voraussetzungen erfüllt sein, damit ein Flüchtling trotz drohender Verfolgung in den Herkunftsstaat verbracht werden darf: Er muss erstens ein besonders schweres Verbrechen verübt haben, dafür zweitens rechtskräftig verurteilt worden und drittens gemeingefährlich sein, und viertens müssen die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung seine Interessen am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat überwiegen.
Der Verwaltungsgerichtshof führt in seiner Rechtsprechung weiter aus, dass § 17 StGB mit der Einteilung in Verbrechen und Vergehen eine grundsätzliche Unterscheidung der Straftaten trifft, durch die das besondere Gewicht der als Verbrechen geltenden Straftaten ihrer Art nach betont werden soll; über die Bezeichnung dieser Straftaten hinaus mit „Verbrechen“ wird schon rein sprachlich ein höherer Unwert konnotiert, bringt die Anknüpfung an ein Mindestmaß der Strafdrohung von mehr als dreijähriger oder lebenslanger Freiheitsstrafe sowie die Einschränkung auf Vorsatztaten zum Ausdruck, dass es sich um solche handelt, denen ein besonders hoher Unrechtsgehalt innewohnt (vgl. VwGH 05.04.2018, Ra 2017/19/0531). Unter den Begriff des „besonders schweren Verbrechens“ fallen nur Straftaten, die objektiv besonders wichtige Rechtsgüter verletzen; typischerweise schwere Verbrechen sind etwa Tötungsdelikte, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung, Brandstiftung, Drogenhandel, bewaffneter Raub und dergleichen (s. VwGH 25.10.2018, Ra 2018/20/0360; 05.04.2018, Ra 2017/19/0531, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hielt weiters fest, dass es sich dabei um eine demonstrative und daher keineswegs abschließende Aufzählung von Delikten in Zusammenhang mit Art. 33 Abs. 2 GFK handelt (vgl. erneut VwGH 18.10.2018, Ra 2017/19/0109, mit Verweis auf VwGH 03.12.2002, 99/01/0449). Auch im Fall einer Vielzahl einschlägiger rechtskräftiger Verurteilungen und insofern verhängter, beträchtlicher und überwiegend unbedingter Freiheitsstrafen können verwirklichte Delikte in einer Gesamtbetrachtung als „besonders schweres Verbrechen“ qualifiziert werden (VwGH 18.10.2018, Ra 2017/19/0109; 23.09.2009, 2006/01/0626).
Auf die Strafdrohung allein kommt es bei der Beurteilung, ob ein „besonders schweres Verbrechen“ vorliegt, nicht an (vgl. VwGH 25.10.2018, Ra 2018/20/0360). So genügt es demnach nicht, wenn ein abstrakt als „schwer“ einzustufendes Delikt verübt worden ist. Die Tat muss sich im konkreten Einzelfall als objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend erweisen, wobei u.a. auf Milderungsgründe Bedacht zu nehmen ist (VwGH 29.08.2019, Ra 2018/19/0522). Bei der Beurteilung, ob ein „besonders schweres Verbrechen“ vorliegt, ist daher eine konkrete fallbezogene Prüfung vorzunehmen und sind insbesondere die Tatumstände zu berücksichtigen (VwGH 23.09.2009, 2006/01/0626; 29.08.2019, Ra 2018/19/0522). Bei einer auf § 13 Abs. 2 zweiter Fall AsylG 1997 (nunmehr § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005) gestützten Entscheidung ist eine entsprechende Zukunftsprognose (zur Beurteilung der Gemeingefährlichkeit des Straftäters) zu erstellen, wobei es auf das gesamte Verhalten des Betroffenen ankommt. Demgemäß ist seine Einstellung während der Dauer seines Aufenthaltes gegenüber dem Staat bzw. der Gemeinschaft der in diesem Staat lebenden Bürger und seine in diesem Zeitraum gesetzten Handlungen maßgeblich, welche geeignet sind, das ordentliche und sichere Zusammenleben der Gemeinschaft zu gefährden (vgl. VwGH 06.10.1999, 99/01/0288). Lediglich in gravierenden Fällen schwerer Verbrechen erweist sich bereits ohne umfassende Prüfung der einzelnen Tatumstände eine eindeutige Wertung als schweres Verbrechen mit negativer Zukunftsprognose als zulässig (s. etwa in Zusammenhang mit der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren wegen des Verbrechens des versuchten Mordes: VwGH 14.02.2018, Ra 2017/18/0419, mwN).
3.1.1. Auf den Beschwerdefall bezogen:
Die belangte Behörde begründete im angefochtenen Bescheid die gegenständlich erfolgte Aberkennung des Status des Asylberechtigten zusammengefasst mit den festgestellten Verurteilungen und einer negativen Zukunftsprognose.
Dem Verwaltungsgerichtshof zufolge ist die Voraussetzung für die Anwendung des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005, dass ein Verbrechen im Sinne des § 17 StGB begangen wurde. Erst in einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob es sich dabei - oder gegebenenfalls in einer Zusammenschau mehrerer begangener Delikte - um ein besonders schweres Verbrechen handelt.
Wenn kein Verbrechen im Sinne des § 17 StGB vorliegt, kann nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auch bei einer Vielzahl von Straftaten nicht von einem besonders schweren Verbrechen ausgegangen werden (VwGH vom 25.05.2020, Ra 2019/19/0116).
Da der BF gemäß § 27 SMG, und somit aufgrund eines Vergehens iSd § 17 StGB verurteilt wurde, ist bereits die erste Voraussetzung für die Anwendung des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 nicht erfüllt.
Mit Blick auf die wiedergegebenen Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofes, der die Aberkennungsbestimmung offenkundig restriktiv auslegt, sind die konkreten Straftaten, derentwegen der BF rechtskräftig verurteilt wurde, fallgegenständlich (bereits objektiv) nicht als "besonders schweres Verbrechen" iSd § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG zu qualifizieren.
Wenn auch die grundsätzliche Verwerflichkeit des gesetzten strafrechtswidrigen Verhaltens des BF nicht in Abrede gestellt wird, so ist der von der Judikatur geforderte besondere Schweregrad unter Berücksichtigung des vom BF konkret gesetzten Verhaltens nicht erfüllt.
Weiters ist im vorliegenden Fall auch von keiner (für die Aberkennung erforderlichen) Gemeingefährlichkeit des BF auszugehen. Vielmehr kann nach den getroffenen Feststellungen zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt für das zukünftige Verhalten des BF eine günstige Prognose getroffen werden. Der BF wurde am XXXX aus der Strafhaft entlassen. Seit seiner Haftentlassung - somit seit knapp eineinhalb Jahren - hat sich der BF wohlverhalten und sich nichts mehr zu Schulden kommen lassen. Er lebt in geordneten Wohnverhältnissen und ist seit XXXX - mit einer Unterbrechung vom XXXX bis XXXX - laufend beim selben Arbeitgeber unselbstständig erwerbstätig beschäftigt, aktuell zuletzt bei einem Bruttolohn von EUR XXXX . Es muss daher von einer insgesamt positiven Entwicklung des BF seit seiner Haftentlassung ausgegangen werden, sodass er auf Grund dieser günstigen Prognose nicht als gemeingefährlicher Straftäter im Sinne des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 06.10.1999, Zahl: 99/01/0288 anzusehen ist.
Im Hinblick auf diese Beurteilung erübrigt sich die als weitere Voraussetzung vorgesehene Interessensabwägung der öffentlichen Interessen an der Rückschiebung gegen die Interessen des Flüchtlings am Weiterb