Entscheidungsdatum
07.10.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W233 2217583-1/62E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Andreas FELLNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.03.2019, Zl. 15-1093352704-151688445, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der Spruchpunkt zu lauten hat: „Ihr Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Ihren Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Absatz 2 Z 2 AsylG 2005 abgewiesen.“
II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt III., IV., VIII. und IX. wird als unbegründet abgewiesen.
III. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt V. wird stattgegeben und gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 festgestellt, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung von XXXX nach Afghanistan unzulässig ist.
IV. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheids wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer eine Frist zur freiwilligen Ausreise von zwei Wochen ab seiner Entlassung aus einer mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßnahme gewährt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte nach seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 10.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 07.02.2019, GZ: XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß § 21 Abs. 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen, nachdem er eine mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedrohte Tat begangen hat, die ihm außerhalb seines Zustandes, der auf einer seelisch-geistigen Abnormität höheren Grades beruht, als das Verbrechen der schweren Nötigung nach den §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 StGB zugerechnet würde.
Nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens in Bezug auf den Antrag auf internationalen Schutz wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den gegenständlichen Antrag mit Bescheid vom 20.03.2019, Zl. 15-1093352704-151688445, sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen ihn wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Dafür wurde ihm keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.) Gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG wurde die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diese Entscheidung aberkannt (Spruchpunkt VII.) und festgestellt, dass er sein Recht gemäß § 13 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 3 AsylG zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 07.11.2018 verloren hat (Spruchpunkt VIII.). Darüber hinaus wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IX.).
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 11.04.2019, ergänzt am 14.09.20210, fristgerecht Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften, insbesondere wegen Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens, infolge mangelhafter Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung.
Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.04.2019, GZ: W233 2217583-1/3Z, wurde der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Am 26.04.2019 wurde ein psychiatrisch/neurologisches Sachverständigengutachten über den Beschwerdeführer eingeholt und den Parteien hierzu die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme eingeräumt wurde. Am 09.10.2019 brachte der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung diesbezüglich eine Stellungnahme ein.
Durch die Justizanstalt XXXX wurde am 07.10.2019 auf Anordnung des Bundesverwaltungsgerichts eine Stellungnahme zur bedingten Entlassung des nach § 21 Abs. 1 StGB untergebrachten Beschwerdeführers erstellt. Darüber hinaus wurde durch das Bundesverwaltungsgericht das im Zuge des Strafprozesses erstellte psychiatrisch/neurologische Sachverständigengutachten über den Beschwerdeführer vom 11.11.2018 eingeholt.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 16.12.2019 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer zu seiner Identität und Herkunft, den persönlichen Lebensumständen, seinem Leben in Österreich, den Fluchtgründen sowie zur Situation im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat befragt wurde. Darüber hinaus wurde im Rahmen dieser mündlichen Verhandlung das psychiatrisch/neurologisches Gutachten vom 26.04.2019 zusammen mit der zur Sachverständigen bestellten Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie sowie mit dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers erörtert. Ferner wurde das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan mit Stand vom 13.11.2019, die UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie die EASO Country Guidance über Afghanistan von Juni 2019 in das Verfahren eingebracht. Aufgrund des schlechten psychischen Zustandes des Beschwerdeführers musste diese Verhandlung jedoch unterbrochen werden.
Den Parteien wurde die Möglichkeit eingeräumt, zu der Stellungnahme der Justizanstalt XXXX vom 07.10.2019 sowie zum Protokoll der Verhandlung vom 16.12.2019 und den darin eingebrachten Länderinformationen Stellung zu nehmen. Am 10.01.2020 machte der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsvertreter von dieser Möglichkeit Gebrauch und brachte eine Stellungnahme ein.
Mit Erkenntnis vom 13.02.2020, GZ: W233 2217583-1/31E, wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet ab. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wurde der Beschwerde stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wurde dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 13.02.2021 erteilt (Spruchpunkt III.). Zudem wurde der Beschwerde dahingehend stattgegeben, dass die gegen den Beschwerdeführer erlassene Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan, der Ausspruch über die Frist zur freiwilligen Ausreise, den Verlust des Aufenthaltsrechts ab dem 07.11.2018 und die Erlassung eines für die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot ersatzlos behoben wurden (Spruchpunkt IV.).
Der dagegen vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingebrachten außerordentlichen Revision hat der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 20.11.2020, GZ: Ra 2020/01/0109-5, Folge gegeben und das angefochtene Erkenntnis hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung sowie der ersatzlosen Behebung der Rückkehrentscheidung, der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan, des Ausspruchs über die Frist für die freiwillige Ausreise und der Erlassung eines Einreiseverbotes wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts und soweit es den Verlust des Aufenthaltsrechts betraf wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensschritten aufgehoben.
In der Folge wurden vom Bundesverwaltungsgericht der aktuelle Beschluss des Landesgerichts XXXX vom 03.02.2021 zur Ablehnung der Entlassung des Beschwerdeführers aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher und der Beschluss des Oberlandesgerichts XXXX vom 03.03.2021 über die Abweisung der Beschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichts XXXX eingeholt.
Mit „Verständigung von der Beweisaufnahme“ vom 10.05.2021 informierte das Bundesverwaltungsgericht die belangte Behörde und den von der Bundesagentur für Betreuung- und Unterstützungsleistungen (BBU) vertretenen Beschwerdeführer darüber, dass auf Grundlage des Beschlusses des Landesgerichts XXXX davon auszugehen sei, dass zum aktuellen Zeitpunkt vom Beschwerdeführer noch eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich ausgehe. Daher sei – aus jetziger Sicht des erkennenden Richters – die Beschwerde gegen die Abweisung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, zugleich aber festzustellen, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde.
Der belangten Behörde und dem Beschwerdeführer wurde eine Frist von 14 Tagen gewährt, um dazu eine Stellungnahme abzugeben bzw. bekanntzugeben, falls die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung notwendig erscheine. Mit Stellungnahme vom 27.05.2021 erklärte der Vertreter des Beschwerdeführers, dass der Beschwerdeführer bis auf die gezeigte angedrohte Gewaltanwendung während seines bisherigen Aufenthalts noch nie gegenüber Menschen gewalttätig wurde und auch sonst völlig unbescholten sei. Zur Anlasstat sei zu sagen, dass er nicht aktiv von sich aus das Opfer aufgesucht habe, sondern, dass er nach einem heftigen Streit seine Ruhe haben wollte und er sich gegen das Eindringen des Opfers in sein Zimmer und damit in seinen Rückzugsbereich – wenn auch in völlig unangemessener Weise – zu Wehr setzen habe wollen. Da der Beschwerdeführer eine gewisse Stabilisierung seines Zustandes aufweise und ein gewisses Vertrauen in seine Person bestehe, sei ihm gegenüber eine Unterbrechung der Unterbringung genehmigt worden. Deshalb sei die „Nicht-Befürwortung“ der bedingten Entlassung durch das Gericht, weniger mit der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers begründet, sondern habe damit zu tun, dass es sich hier um einen ganz normalen Prozess der vorherigen „extramuralen Bewährung“ handle. Zusammenfassend könne man daher sagen, dass der Beschwerdeführer seit seiner Einreise erst- und einmalig straffällig geworden sei und sich sein Zustand während des Maßnahmenvollzugs soweit stabilisiert habe, dass eine Unterbrechung der Unterbringung und somit die Voraussetzung für die Befürwortung einer bedingten Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug geschaffen werde. Somit liege bei näherer Betrachtung kein Ausschlussgrund für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz vor. Zudem verzichtete der Beschwerdeführer auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat sich weder zum Ergebnis der Beweisaufnahme noch zur Frage der Durchführung einer mündlichen Verhandlung geäußert.
Am 21.07.2021 wurde durch das Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme des ärztlichen Leiters der Justizanstalt XXXX , in welcher der Beschwerdeführer untergebracht ist, eingeholt, welche am 23.07.2021 an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt wurde. Darin wird ausgeführt, dass beim Beschwerdeführer nach dem VRAG-R (Violence Risk Appraisal Guide-Revised – Vorhersage des gewalttätigen Rückfall-Ereignisses - revidierte Fassung) ein grenzwertig unterdurchschnittliches Rückfallrisiko festgestellt worden sei. Allerdings stellen sich beim Beschwerdeführer nach dem HCR-20-V3 (Historical-Clinical-Risk-20-V3 –Beurteilung des Risikos gewalttätigen Verhaltens) gegenwärtige Probleme in den Bereichen „Einsicht“, „Symptome einer schwerwiegenden, psychischen Störung“, „Instabilität“, und „Ansprechen auf Behandlungs-oder Kontrollmaßnamen“ dar. Der Beschwerdeführer weise daher zusammengefasst einige Faktoren auf, die weitere Arbeit benötigen würden und müsse das Hauptaugenmerk auf eine kontinuierliche Medikamenteneinnahme mitsamt Kontrolle gelegt werden, wobei der bisherige Verlauf die Notwendigkeit einer kontinuierlichen, hoch strukturierteren Betreuung des Beschwerdeführers verdeutliche.
Zudem ist diesem Bericht zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer derzeit im Zuge einer ihm gewährten Unterbrechung der Unterbringung in einer Nachsorgeeinrichtung im Rahmen eines ihm dort gebotenen hoch strukturierten Settings die bei ihm noch aktuell bestehenden Gefährlichkeitsfaktoren gut kompensieren könne. Darüber hinaus wird in diesem Bericht festgehalten, dass sich die bisherigen Rückmeldungen der Nachsorgeeinrichtung durchwegs positiv in Bezug auf eigen-oder fremdgefährdendes Verhalten des Beschwerdeführers gestalten, weshalb mit einer Verlängerung der Unterbrechung der Unterbringung bis zum Erhalt einer Wohnplatzzusage zu rechnen sei.
Am 10.09.2021 nahm der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung die Möglichkeit des Parteiengehörs wahr und führte in diesem Zusammenhang aus, dass dieser ärztlichen Stellungnahme zu entnehmen sei, dass beim Beschwerdeführer aufgrund einer überdauernden Stabilisierung und der bisherigen Rückmeldungen die noch bestehenden Gefährdungsfaktoren durch das in der Nachsorgeeinrichtung bestehende hoch strukturierte Setting gut kompensiert werden könnten, weshalb nicht mehr von der Gefahr der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung und der Gefahr der Fremd- oder Eigengefährdung beim Beschwerdeführer auszugehen sei. Auch in dieser Stellungnahme verzichtet der Beschwerdeführer ausdrücklich auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat sich auch diesmal weder zum Ergebnis der Beweisaufnahme noch zur Frage der Durchführung einer mündlichen Verhandlung geäußert.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist afghanischer Staatsangehöriger und wurde im Jahr XXXX geboren. Er ist Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari, zudem verfügt er über Kenntnisse der Sprache Farsi.
Der Beschwerdeführer hat – mit Ausnahme seines in Österreich als subsidiär Schutzberechtigten aufhältigen Bruders - keine Kenntnis davon, wo sich seine Familienangehörigen aufhalten und weiß insbesondere nicht darüber Bescheid, ob Mitglieder seiner Kernfamilie in Afghanistan aufhältig sind.
1.2. Zu einer vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefährdung:
Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 07.02.2019, GZ: XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß § 21 Abs. 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Grund dafür war, dass der Beschwerdeführer am 20.09.2018 unter einem die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustand, der auf einer seelisch-geistigen Abnormität höheren Grades beruht, nämlich einer schweren Persönlichkeitsstörung in Kombination mit einer dissoziativen Belastungsreaktion, einen anderen durch gefährliche Drohung mit dem Tod zu einer Handlung genötigt hat. Dadurch hat er eine mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedrohte Tat begangen, die ihm außerhalb dieses Zustandes als das Verbrechen der schweren Nötigung nach den §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 StGB zugerechnet würde und er war daher, weil nach seiner Person, seinem Zustand und der Art der Tat zu befürchten ist, dass er ohne Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit weitere mit Strafe bedrohte Handlungen mit schweren Folgen begehen wird, gemäß § 21 Abs. 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.
Ein Jahr nach dem Urteil des Landesgerichts XXXX wurde mit Beschluss des Landesgerichts XXXX vom 11.02.2020, GZ: XXXX , festgestellt, dass eine weitere Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs. 1 StGB notwendig ist. Gegen diesen Beschluss erhob der Beschwerdeführer eine Beschwerde, welcher jedoch mit Beschluss des Oberlandesgerichts XXXX vom 11.03.2020, GZ: XXXX , nicht Folge gegeben wurde.
Mit Beschluss des Landesgerichts XXXX vom 03.02.2021, GZ: XXXX , wurde erneut festgestellt, dass eine weitere Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs. 1 StGB notwendig ist. Gegen diesen Beschluss erhob der Beschwerdeführer ebenso eine Beschwerde, welcher jedoch abermals mit Beschluss des Oberlandesgerichts XXXX vom 03.03.2021, GZ: XXXX , nicht Folge gegeben wurde.
Der Beschwerdeführer ist zum Zeitpunkt der gegenständlichen Entscheidung nach wie vor auf Grundlage des § 21 Abs. 2 StGB XXXX (Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher) untergebracht.
Der Beschwerdeführer stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit und Sicherheit dar.
1.3. Zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer leidet an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit Elementen einer emotional instabilen und einer histrionischen Persönlichkeitsstörung. Dabei handelt es sich um eine krankheitswertige psychische Störung, die vorrangig mit Defiziten der Sozialanpassung einhergeht. Dieses Krankheitsbild führt zu einer Ausgrenzung des Beschwerdeführers von der Gesellschaft in Afghanistan.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat:
Der an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit Elementen einer emotional instabilen und einer histrionischen Persönlichkeitsstörung leidende Beschwerdeführer verfügt in Afghanistan über kein soziales oder familiäres Netzwerk ist angesichts der aktuellen Lage in Afghanistan nicht in der Lage, im Fall der Rückkehr seine grundlegenden existenziellen Bedürfnisse befriedigen zu können. Ferner besteht für ihn als Zivilperson im Fall der Rückkehr nach Afghanistan eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts. Dem Beschwerdeführer droht somit im Falle seiner Verbringung nach Afghanistan ein reales Risiko einer Verletzung seiner von Art. 2 und Art. 3 EMRK geschützten Rechte.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.09.2021):
1.5.1. Sicherheitslage
Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]
Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).
Vorfälle am Flughafen Kabul
Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).
Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 1.9.2021; vgl. BBC 30.8.2021). Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021).
Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021).
Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefägnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021): Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021).
Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Die Sicherheitslage im Jahr 2020
Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielte nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).
Zivile Opfer vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Zwischen dem 1.1.2021 und dem 30.6.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 5.183 zivile Opfer (1.659 Tote und 3.524 Verletzte). In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres dokumentierte UNAMA fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte (UNAMA 26.7.2021). Im gesamten Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das war ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).
Obwohl ein Rückgang von durch regierungsfeindliche Elemente verletzte Zivilisten im Jahr 2020 festgestellt werden konnte, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, so gab es einen Anstieg an zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch Opfern von aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (VBIEDs) (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021). Auch im Jahr 2021 kommt es weiterhin zu Angriffen und gezielten Tötungen von Zivilisten. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (AP 15.6.2021; vgl. VOA 15.6.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.6.2021; vgl. AJ 16.6.2021).
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).
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Vor der Übernahme der Großstädte durch die Taliban kam es landesweit zu aufsehenerregenden Anschlägen (sog. High Profile-Angriffe, HPAs) durch regierungsfeindliche Elemente. Zwischen dem 16.5. und dem 31.7.2021 wurden 18 Selbstmordanschläge dokumentiert, verglichen mit 11 im vorangegangenen Zeitraum, darunter 16 Selbstmordattentate mit improvisierten Sprengsätzen in Fahrzeugen (UNGASC 2.9.2021), die in erster Linie auf Stellungen der afghanischen Streitkräfte (ANDSF) erfolgten (UNGASC 2.9.2021; vgl. USDOD 12.2020). Darüber hinaus gab es 68 Angriffe mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen (IEDs), darunter 14 in Kabul (UNGASC 2.9.2021).
Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar 2020 hatten die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).
Angriffe, die vom Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) beansprucht oder ihm zugeschrieben werden, haben zugenommen. Zwischen dem 16.5. und dem 18.8.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 88 Angriffe, verglichen mit 15 im gleichen Zeitraum des Jahres 2020. Die Bewegung zielte mit asymmetrischen Taktiken auf Zivilisten in städtischen Gebieten ab (UNGASC 2.9.2021).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.5.2020, USDOD 1.7.2020). Auch 2021 kam es zu einer Reihe von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen gegen religiöse Minderheiten, darunter eine Hazara-Versammlung in der Stadt Kunduz am 13.5.2021 und eine Sufi-Moschee in Kabul am 14.5.2021 sowie mehrere Personenkraftwagen, die entweder schiitische Hazara beförderten oder zwischen dem 1. und 12.6.2021 durch überwiegend von schiitischen Hazara bewohnte Gebiete in der Provinz Parwan und Kabul fuhren (UNGASC 2.9.2021). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).
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1.5.2. Rechtsschutz / Justizwesen
Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 an, dass zukünftig eine islamische Regierung von islamischen Gesetzen angeleitet werden soll, das Regierungssystem solle auf der Scharia basieren. Sie blieben dabei allerdings sehr vage bezüglich der konkreten Auslegung. "Scharia" bedeutet auf Arabisch "der Weg" und bezieht sich auf ein breites Spektrum an moralischen und ethischen Grundsätzen, die sich aus dem Koran sowie aus den Aussprüchen und Praktiken des Propheten Mohammed ergeben. Die Grundsätze variieren je nach der Auslegung verschiedener Gelehrter, die Denkschulen gegründet haben, denen die Muslime folgen und die sie als Richtschnur für ihr tägliches Leben nutzen (AJ 23.8.2021; vgl. NYT 19.8.2021). Die Auslegung der Scharia ist in der muslimischen Welt Gegenstand von Diskussionen. Jene Gruppen und Regierungen, die ihr Rechtssystem auf die Scharia stützen, haben dies auf unterschiedliche Weise getan. Wenn die Taliban sagen, dass sie die Scharia einführen, bedeutet das nicht, dass sie dies auf eine Weise tun, der andere islamische Gelehrte oder islamische Autoritäten zustimmen würden (NYT 19.8.2021). Sogar in Afghanistan haben sowohl die Taliban, die das Land zwischen 1996 und 2001 regierten, als auch die Regierung von Ashraf Ghani behauptet, das islamische Recht zu wahren, obwohl sie unterschiedliche Rechtssysteme hatten (AJ 23.8.2021).
Die Auslegung des islamischen Rechts durch die Taliban entstammt nach Angaben eines Experten dem Deobandi-Strang der Hanafi-Rechtsprechung - einem Zweig, der in mehreren Teilen Südostasiens, darunter Pakistan und Indien, anzutreffen ist - und der eigenen gelebten Erfahrung als überwiegend ländliche und stammesbezogene Gesellschaft (AJ 23.8.2021; vgl. WTN 3.9.2021). Als die Taliban 1996 an die Macht kamen, setzten sie strenge Kleidervorschriften für Männer und Frauen durch und schlossen Frauen weitgehend von Arbeit und Bildung aus. Die Taliban führten auch strafrechtliche Bestrafungen (hudood) im Einklang mit ihrer strengen Auslegung des islamischen Rechts ein, darunter öffentliche Hinrichtungen von Menschen, die von Taliban-Richtern des Mordes oder des Ehebruchs für schuldig befunden wurden, und Amputationen für diejenigen, die aufgrund von Diebstahl verurteilt wurden (AJ 23.8.2021; vgl. VOA 24.8.2021).
[Weitergehende Informationen zum konkreten Rechtssystem und Justizwesen unter der im Entstehen begriffenen Talibanregierung sind zum aktuellen Zeitpunkt mit September 2021 noch nicht bekannt]
1.5.3. Folter und unmenschliche Behandlung
Unter der vormaligen Regierung war laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) Folter verboten (UNAMA 2.2021b; vgl. AA 16.7.2021). Die Regierung erzielte Fortschritte bei der Verringerung der Folter in einigen Haftanstalten, versäumte es jedoch, Mitglieder der Sicherheitskräfte und prominente politische Persönlichkeiten für Misshandlungen, einschließlich sexueller Übergriffe, zur Rechenschaft zu ziehen (HRW 4.2.2021; vgl. HRW 13.1.2021).
Es gibt zahlreiche Berichte über Folter und grausame, unmenschliche und erniedrigende Bestrafung durch die Taliban, ISKP und andere regierungsfeindliche Gruppen. UNAMA berichtet, dass zu den von den Taliban durchgeführten Bestrafungen Schläge, Amputationen und Hinrichtungen gehörten. Die Taliban hielten UNAMA zufolge Häftlinge unter schlechten Bedingungen fest und setzten sie Zwangsarbeit aus (UNAMA 26.5.2019; vgl. USDOS 30.3.2021).
1.5.4. Korruption
Mit einer Bewertung von 19 Punkten (von 100 möglichen Punkten - 0= highly corrupt und 100 = very clean), belegt Afghanistan auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2020 von Transparency International von 180 untersuchten Ländern den 165. Platz, was eine Verbesserung um acht Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (TI 28.1.2021; vgl. TI 23.1.2020).
Die [ehemalige] Regierung setzte Maßnahmen gegen Korruption nicht effektiv um (USDOS 30.3.2021) und unternahm nur kleine Schritte, um gegen Korruption vorzugehen, wie das Verfassen von Vorschriften oder das Abhalten von Treffen, anstatt konkreter Maßnahmen (SIGAR 30.1.2021), während Beamte häufig ungestraft korrupte Praktiken ausübten. Berichte deuten an, dass Korruption innerhalb der Gesellschaft endemisch ist - Geldflüsse von Militär, internationalen Gebern und aus dem Drogenhandel verstärken das Problem (USDOS 30.3.2021). Die weit verbreitete Korruption und Misswirtschaft schwächten in weiterer Folge die staatlichen Strukturen. Das gilt für die Sicherheitskräfte ebenso wie für das Parlament und die Gerichte (NZZ 11.8.2021).
Der hohe Grad an Korruption wird von vielen auch als einer der Gründe für den schnellen Erfolg der Taliban gesehen (NZZ 11.8.2021; vgl. TD 17.8.2021, BBC 13.8.2021).
Der mit August 2021 neue amtierende Bürgermeister von Kabul erklärt, dass gegen korrupte Elemente nach den Regeln der Scharia vorgegangen wird. Seinen Angaben zufolge gab es in der Vergangenheit in allen Bereichen Afghanistans massive Korruption, aber das "Islamische Emirat" hätte nun alle Personen begnadigt und würde niemand für frühere Korruption verhaftet werden (PAJ 30.8.2021).
1.5.5. Allgemeine Menschenrechtslage
Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 23.8.2021). Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet (BBC 20.8.2021; vgl. AP 3.9.2021). Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, sie hätten Angst vor Repressalien (BBC 20.8.2021).
Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt (MPI 2.9.2021; vgl. REU 3.9.2021).
1.5.6. Bewegungsfreiheit
Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 16.7.2021). Nach der Machtübernahme der Taliban gab es Berichte über härtere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für Frauen (HRW 17.8.2021).
Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischsten ist, da viele von ihnen - zumindest anfangs - regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln. Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht "man kenne seine Nachbarn nicht mehr" (AAN 19.3.2019).
Die Absorptionsfähigkeit der Ausweichmöglichkeiten, vor allem im Umfeld größerer Städte, ist durch die hohe Zahl der Binnenvertriebenen und Rückkehrer bereits stark beansprucht. Dies schlägt sich sowohl im Anstieg der Lebenshaltungskosten als auch im erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder. Die Auswirkungen des anhaltenden Konflikts und der Covid-19- Pandemie haben die Lage weiter verschärft. (AA 16.7.2021).
Anmerkung: Weitere Informationen zur aktuellen Lage betreffend der COVID-19-Krise im Zusammenhang mit Flugverbindungen bzw. Bewegungsfreiheit finden sich in dem Kapitel 'COVID-19'
Anmerkung: Weitere Informationen zum nationalen und internationalen Flugverkehr sowie zum Status der Grenzen finden sich im Kapitel Erreichbarkeit. Aufgrund der aktuellen Situation - der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 - kann es zu plötzlichen Änderungen im Hinblick auf die Öffnung und Schließung von Grenzen und auf den Flugverkehr kommen. Mit Stand September 2021 ist noch nicht abschließend klar ob bzw. welche Maßnahmen die Talibanregierung erlassen wird, um die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung einzuschränken.
1.5.7. IDPs und Flüchtlinge
UNOCHA verifizierte im Jahr 2020 332.902 Menschen als neue Binnenvertriebene aufgrund des Konflikts und Naturkatastrophen (UNOCHA 27.12.2020; vgl. NRC 11.2020, AI 30.3.2021) und bis 22.8.2021 wurden von UNOCHA 558.123 neue Binnenvertriebene im laufenden Jahr 2021 verifiziert (UNOCHA 22.8.2021). Die genaue Zahl der Binnenvertriebenen lässt sich jedoch nicht bestimmen, zumal viele in abgelegenen Regionen oder städtischen Slums Zuflucht suchen oder in Gebieten leben, die von aufständischen Gruppen kontrolliert werden und daher nicht erfasst werden können (STDOK 10.2020).
Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten. Mit Stand Mai 2021 werden im laufenden Jahr etwa eine halbe Million Binnenvertriebene auf humanitäre Hilfe angewiesen sein (AA 16.7.2021).
Der begrenzte Zugang zu humanitären Hilfeleistungen führte vor der Machtübernahme durch die Taliban zu Verzögerungen bei der Identifizierung, Einschätzung und zeitnahen Unterstützung von Binnenvertriebenen. Diesen fehlte weiterhin Zugang zu grundlegendem Schutz, einschließlich der persönlichen und physischen Sicherheit sowie Unterkunft (USDOS 30.3.2021).
IDPs waren in den Möglichkeiten eingeschränkt, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Oft kam es nach der ersten Binnenvertreibung zu einer weiteren Binnenwanderung. Vor allem binnenvertriebene Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand hatten oft Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen zu erhalten, weil sie keine Identitätsdokumente besitzen (USDOS 30.3.2021). Das Einkommen von Binnenvertriebenen und Rückkehrern war gering, da die Mehrheit der Menschen innerhalb dieser Gemeinschaften von Tagelöhnern und/oder Überweisungen von Verwandten im Ausland abhängig war, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (Halle 12.2020).
Die vier Millionen Binnenvertriebenen in Afghanistan leben unter Bedingungen, die sich perfekt für die schnelle Übertragung eines Virus wie COVID-19 eignen. Die Lager sind beengt, unhygienisch und es fehlt selbst an den grundlegendsten medizinischen Einrichtungen. Sie leben in Hütten aus Lehm, Pfählen und Plastikplanen, in denen bis zu zehn Personen in nur einem oder zwei Räumen untergebracht sind, und sind nicht in der Lage, soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren (AI 30.3.2021). Der Zugang zur Gesundheitsversorgung war für Binnenvertriebene und Rückkehrer bereits vor der COVID-19-Pandemie eingeschränkt. Seit Beginn der Pandemie hat sich der Zugang weiter verschlechtert, da einige medizinische Zentren in COVID-19-Behandlungszentren umgewandelt wurden und die Finanzierung der humanitären Hilfe zurückging. Es gibt eine von Ärzte ohne Grenzen betriebene mobile Klinik in Herat, die bei der Behandlung einiger chronischer Krankheiten hilft (Halle 12.2020).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Die Auswirkungen einer schweren Dürre, einer einbrechenden Wirtschaft, der COVID-19-Pandemie und des sich verschärfenden Konflikts in den ersten acht Monaten des Jahres haben die Menschen bereits dazu veranlasst, ihre Heimat - und das Land - zu verlassen, und es wird erwartet, dass die Situation durch den Übergang zu einer Taliban-Regierung wahrscheinlich noch verschärft werden wird (NH 30.8.2021).
Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan (BBC 1.9.2021) oder über den Grenzübergang Islam Qala in den Iran geflohen (DZ 1.9.2021). Insgesamt 32 von 34 Provinzen haben ein gewisses Maß an Vertreibung zu verzeichnen (IOM 19.8.2021). Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (DZ 1.9.2021).
Tadschikistan hat die Aufnahme von 100.000 Flüchtlingen zugesagt (DZ 1.9.2021; vgl. REU 2.9.2021), jedoch müsse dafür erst die Infrastruktur geschaffen werden (REU 2.9.2021; vgl. RFE/RL 2.9.2021) und auch nach Usbekistan zieht es viele Afghanen (DZ 1.9.2021; vgl. AJ 19.8.2021).
1.5.8. Grundversorgung und Wirtschaft
Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D.). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Jedoch konnte die vormalige afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.8.2019; vgl. WB 7.2019).
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). Rund 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9% (SIGAR 30.1.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben die Banken geschlossen, so haben die Vereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. $ (7,66 Mrd. €) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt (DW 24.8.2021).
Da keine neuen Dollarlieferungen zur Stützung der Währung ankommen, ist die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen (DW 24.8.2021).
Dürre und Überschwemmungen
Starke Regenfälle haben im Mai 2021 mehrere Provinzen Afghanistans, insbesondere Herat, heimgesucht und Sturzfluten und Überschwemmungen verursacht, die zu Todesopfern und Schäden führten. Die am stärksten betroffenen Provinzen sind Herat, Ghor, Maidan Wardak, Baghlan, Samangan, Khost, Bamyan, Daikundi und Badakhshan. Medienberichten zufolge sind in der Provinz Herat bis zu 37 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden vertrieben und mehr als 150 Häuser wurden zerstört (ECHO 5.5.2021; vgl. UNOCHA 11.5.2021). 405 Familien wurden landesweit aus ihren Häusern vertrieben (BAMF 10.5.2021).
1.5.9. Medizinische Versorgung
In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten (EASO 8.2020b; vgl. UKHO 12.2020). Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Behandlung durch Mangel an gut ausgebildetem medizinischem Personal und Medikamenten, Missmanagement und maroder Infrastruktur begrenzt und korruptionsanfällig (AA 16.7.2021).
Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten (UNOCHA 19.12.2020; vgl. EASO 8.2020b, Schwörer 30.11.2020). Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Millionen Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren (UNOCHA 19.12.2020).
Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 Jahre im Jahr 2018 gestiegen (WB o.D.a.; vgl. WHO 4.2018).
Bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden (AA 16.7.2021).
Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt (WHO 12.2018). Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (RA KBL 20.10.2020). Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghaninnen und Afghanen schwierig, überhaupt eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (AA 16.7.2021). Laut einer Studie aus dem Jahr 2017, die den Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen untersuchte, wiesen viele Gesundheitszentren im ganzen Land immer noch große Mängel auf, darunter bauliche und wartungsbedingte Probleme, schlechte Hygiene- und Sanitärbedingungen, wobei ein Viertel der Einrichtungen nicht über Toiletten verfügte, vier von zehn Gesundheitseinrichtungen kein Trinkwassersystem hatten und eine von fünf Einrichtungen keinen Strom hatte. Es gab nicht genügend Krankenwagen und viele Gesundheitseinrichtungen berichteten über einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Material (IWA 8.2017).
Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (AA 16.7.2021; vgl. WHO 8.2020).
Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen (MedCOI 5.2019).
COVID-19
Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten mit Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan seit März 2020 Anzeichen und Symptome von COVID-19 gehabt (IOM 23.9.2020). Bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021). Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs im Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Einige der Regional- und Provinzkrankenhäuser in den Großstädten wurden im Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. Menschen mit Anzeichen von COVID-19 werden getestet und die schwer Erkrankten im Krankenhaus in Behandlung genommen. Die Kapazität solcher Krankenhäuser ist jedoch aufgrund fehlender Ausrüstung begrenzt. In den anderen Provinzen schicken die Gesundheitszentren, die nicht über entsprechende Einrichtungen verfügen, die Testprob