TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/25 W242 1437011-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.10.2021
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Entscheidungsdatum

25.10.2021

Norm

AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W242 1437011-2/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HEUMAYR als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.09.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.02.2021, zu Recht:

A)       I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
II.         Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III.         Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.
IV.         Die übrigen Spruchpunkte III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)       Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Zum Vorverfahren:

Der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich und stellte am 10.01.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 11.01.2013 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari die Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen an, dass sein Vater von seinem Onkel aufgrund von Familienstreitigkeiten getötet worden sei. Die Familie seines Onkels wolle Rache nehmen, weshalb seine Mutter mit seinem älteren Bruder nach Pakistan geflohen sei. Der Bruder seiner Mutter habe ihm geholfen, Afghanistan zu verlassen, weil sein Leben in Gefahr gewesen sei.

Am 23.04.2013 wurde der Beschwerdeführer in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und seiner damaligen gesetzlichen Vertreterin vor dem Bundesasylamt einvernommen. Zu seinen Fluchtgründen führte er aus, dass seine Cousine mit seinem Bruder verlobt gewesen sei. Weder seine Cousine noch ihre Familie sei jedoch mit der Heirat einverstanden gewesen, sodass es zum Streit gekommen sei. Im Zuge dessen habe sein Onkel seinen Vater erschossen. Anschließend habe sein Bruder die Waffe an sich genommen und auf seinen Onkel geschossen, jedoch seine Cousine getroffen.

Mit Bescheid vom 29.07.2013, Zl. XXXX , wies das Bundesasylamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab und wies den Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan aus (Spruchpunkt III.).

Dagegen erhob der Beschwerdeführer am 01.08.2013 Beschwerde.

Am 21.07.2015 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher der Beschwerdeführer seine bisherigen Ausführungen zu den Fluchtgründen im Wesentlichen wiederholte.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.07.2015, Zl. XXXX , wurde dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuerkannt und festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Cousine des Beschwerdeführers seinem Bruder versprochen worden sei. Als die Familie der Cousine die Hochzeit nicht mehr gewollt habe, sei es zu Auseinandersetzungen gekommen. Im Zuge dessen habe der Onkel den Vater des Beschwerdeführers erschossen. Anschließend habe der ebenfalls anwesende Bruder des Beschwerdeführers die Waffe an sich genommen und auf den Onkel geschossen, jedoch die Verlobte getroffen. Da das Leben des Beschwerdeführers deshalb in seiner Herkunftsprovinz in Gefahr sei, es den afghanischen Behörden mangels staatlicher Schutzmechanismen nicht möglich sei, für die grundlegenden Rechte und Freiheiten Sorge zu tragen und nicht davon auszugehen sei, dass sich der Beschwerdeführer in anderen Landesteilen eine auch nur notdürftige Lebensgrundlage schaffen könne, seien die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten erfüllt.

Am 18.04.2017 langte beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Urteil eines Landesgerichts vom 29.03.2017 ein, mit welchem der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung nach § 205a Abs. 1 erster Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten, die unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, sowie zum Ersatz von EUR 300,00 an das Opfer verurteilt wurde.

Über Ersuchen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl übermittelte ein Landesgericht am 02.04.2020 ein Urteil vom 17.03.2015, mit welchem der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 Z 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Wochen, die unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt und die Probezeit zur Verurteilung vom 29.03.2017 auf insgesamt fünf Jahre verlängert wurde.

2. Zum gegenständlichen Verfahren:

Mit Aktenvermerk vom 23.07.2020 leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gegen den Beschwerdeführer ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten ein, weil sich Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass sich seine persönlichen Umstände, die zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten geführt haben, nicht mehr vorliegen würden.

Am 07.09.2020 fand vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er an, dass es möglich sei, dass die Blutrache erledigt sei. Er selbst habe nie Probleme mit seinem Onkel gehabt und telefoniere sogar mit ihm, weil sie noch ein Haus und ein Auto in Afghanistan hätten. Zuletzt habe er am Tag vor der Einvernahme Kontakt zu seinem Onkel gehabt. Wenn er selbst nach Afghanistan reise, werde er seinen Onkel nicht in Ruhe lassen und sich rächen. Sein Bruder wolle sich zwar auch rächen, jedoch habe er ihm dies noch nicht erlaubt. Seine beiden Schwestern, die ebenfalls in Jalalabad leben würden, habe der Onkel nicht bedroht, weil die weiblichen Familienangehörigen üblicherweise ausgespart würden. Aus Sicht seines Onkels sei die Auseinandersetzung erledigt, dieser wolle ihm jedoch nicht das Haus überlassen. Wenn es ihm gelinge, das Haus und das Auto zu erhalten, sei die Auseinandersetzung auch für ihn erledigt.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 10.09.2020 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten ab und stellte fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Dem Beschwerdeführer wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und gewährte ihm eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Fluchtgeschichte des Beschwerdeführers nicht den Tatsachen entspreche und er nie einer aktuellen und individuellen Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Seine subjektive Lage habe sich insofern geändert, als er nach Afghanistan zurückkehren könne und dort eine zumutbare Lebenssituation vorfinden könne, zumal eine landesweite Verfolgung, selbst bei Wahrunterstellung des Vorbringens, nicht vorliege und sein Onkel keine Kenntnis von der Rückkehr erlangen würde. Der Status des Asylberechtigten sei dem Beschwerdeführer daher abzuerkennen. Der Beschwerdeführer sei gesund und arbeitsfähig, habe eine Ausbildung und Arbeitserfahrung, die er in Österreich erweitert habe. Er könne daher im Falle der Rückkehr seinen Lebensunterhalt sichern und sich auch ohne familiäre oder soziale Unterstützung in Mazar-e Sharif ansiedeln. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten seien daher nicht erfüllt. Die siebenjährige Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers werde durch sein strafbares Verhalten wesentlich relativiert. Eine berufliche Verfestigung des Beschwerdeführers sei nicht zu erkennen, zumal er nur unregelmäßig und kurzfristig berufliche Tätigkeiten ausgeübt habe. Das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung überwiege daher das private Interesse des Beschwerdeführers am weiteren Verbleib in Österreich, weshalb die Rückkehrentscheidung zulässig sei.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 01.10.2020, beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingelangt am 02.10.2020, fristgerecht Beschwerde, beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und brachte im Wesentlichen vor, dass nur jener Onkel, von dem die Verfolgung ausgehe, in Afghanistan lebe sowie ein Onkel mütterlicherseits, den keine Verpflichtung zur Aufnahme und Unterstützung des Beschwerdeführers treffe. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hätte berücksichtigen müssen, dass der Beschwerdeführer die geschilderten Vorfälle als Jugendlicher erlebt habe und ihn diese traumatisiert hätten. Dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stehe es nicht zu, rechtskräftige Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen des Aberkennungsverfahrens in Frage zu stellen, da diese von der Rechtskraftwirkung erfasst und einer neuen Aufrollung nicht zugänglich seien. Aufgrund der Verschlechterung der Lage in Zusammenhang mit COVID-19 sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr keine legale Beschäftigungsmöglichkeit oder Unterkunft oder Zugang zu Nahrung und Trinkwasser finden werde.

Mit Schreiben vom 08.01.2021 gewährte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Möglichkeit, binnen zwei Wochen die Einvernahme von Zeugen unter Angabe einer ladungsfähigen Adresse und des Beweisthemas zu beantragen sowie die als Beweismittel beabsichtigten Urkunden und Dokumente im Original sowie in Kopie vorzulegen, wobei ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass fremdsprachigen Dokumenten eine beglaubigte Übersetzung in die deutsche Sprache anzuschließen ist.

Mit Stellungnahme vom 12.01.2021 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Mitteilung der französischen Asylbehörde, wonach der Beschwerdeführer am 27.10.2020 in Frankreich einen Asylantrag gestellt habe und führte aus, dass bisher keine Überstellung des Beschwerdeführers aus Frankreich stattgefunden habe und er sich derzeit nicht im Bundesgebiet aufhalte. Aus § 7 Abs. 1 Z 3 AsylG, der die Aberkennung des Status des Asylberechtigten vorsehe, wenn dieser seinen Lebensmittelpunkt in einem anderen Staat habe, folge, dass einem Fremden kein Schutz zukommen solle, wenn sich dieser nicht in Österreich aufhalte. Im Übrigen sei der verfahrensrelevante Sachverhalt entscheidungsreif und habe der Beschwerdeführer seine Mitwirkungspflicht verletzt, indem er ausgereist sei und seinen Aufenthaltsort nicht bekanntgegeben habe.

Am 05.02.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari sowie der Rechtsberaterin des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seiner Identität und seinen persönlichen Lebensumständen, seinen Asylgründen, seiner Integration in Österreich und zur Situation im Falle der Rückkehr nach Afghanistan einvernommen wurde.

Mit Schreiben vom 24.09.2021 gab das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Gelegenheit, zum Länderinformationsblatt zu Afghanistan vom 16.09.2021, Version 5, Stellung zu nehmen.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl brachte in seiner Stellungnahme vom 29.09.2021 vor, dass der BF während des gesamten Verfahrens keine Bedrohung durch die Taliban vorgebracht habe, sodass eine Gefährdung im Sinne des Art. 2 oder 3 EMRK im Falle der Rückkehr nicht zu erwarten sei. Laut Länderfeststellungen sei eine verbesserte Sicherheitslage für Zivilpersonen festzustellen, zumal die bisher von den Taliban verübten Anschläge nicht mehr stattfinden würden.

Der Beschwerdeführer brachte in seiner Stellungnahme vom 01.10.2021 vor, dass er befürchte, aufgrund seines langjährigen Aufenthaltes in Europa von den Taliban als Christ und Abtrünniger gesehen und verfolgt zu werden und die Taliban durch die landesweite Machtübernahme in der Lage seien, ihn als ihren Gegner zu qualifizieren.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen und das Geburtsdatum. Seine Identität steht fest. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist seit August 2020 mit einer afghanischen Staatsangehörigen, die in Pakistan lebt, verlobt und kinderlos. Die Verlobung fand in Abwesenheit des Beschwerdeführers in Pakistan statt.

Der Beschwerdeführer ist in der Provinz Nangarhar, im Dorf XXXX innerhalb des Distrikts XXXX , der die Provinzhauptstadt Jalalabad umgibt, geboren und besuchte dort zumindest sieben Jahre die Schule. Für seinen Lebensunterhalt sorgte sein Vater. Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan keine abgeschlossene Berufsausbildung und lebte bis zu seiner Ausreise im Mai 2012 in seinem Herkunftsort.

Der Beschwerdeführer hat zwei Schwestern, die in Jalalabad leben und verheiratet sind und einen Bruder sowie eine Tante, die in Pakistan leben. Ein Onkel des Beschwerdeführers väterlicherseits lebt in seinem Herkunftsort, ein Onkel mütterlicherseits in der Stadt Jalalabad. Die Familie des Beschwerdeführers hat in seinem Herkunftsort ein Haus, das von seinem Onkel väterlicherseits in Besitz genommen wurde. Der Beschwerdeführer telefonierte zumindest bis Anfang Oktober 2020 regelmäßig mit seinem Onkel, um das Haus zurückzuerlangen und hatte zumindest bis September 2020 regelmäßig Kontakt zu seinen Schwestern in Afghanistan. Zudem hat der Beschwerdeführer regelmäßig Kontakt zu seiner Tante und seinem Bruder in Pakistan.

Der Beschwerdeführer hat Nierensteine und nimmt Durotiv. Eine schwerwiegende oder lebensbedrohliche Gesundheitsbeeinträchtigung liegt nicht vor.

Zum (Privat-)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer verließ seinen Herkunftsstaat im Mai 2012, reiste über den Iran und die Türkei nach Griechenland, wo er sich etwa sechs Monate aufhielt, begab sich Anfang 2013 unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich und stellte am 10.01.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Beschwerdeführer hält sich seither – abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Frankreich – durchgehend in Österreich auf.

Mit Urteil eines Landesgerichts vom 17.03.2015, rechtskräftig seit 21.03.2015, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung (§§ 83, 84 Abs. 2 Z 2 StGB in der damals geltenden Fassung) unter Anwendung des § 5 Z 4 JGG zu einer Freiheitsstrafe von acht Wochen verurteilt, die unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer gemeinsam mit fünf Mittätern am 09.08.2014 einer weiteren Person Tritte und Schläge versetzte, die dadurch multiple Prellungen erlitt, wobei das Gericht davon ausging, dass die Tat zuvor verabredet wurde.

Bei der Strafzumessung wertete das Gericht den bisher ordentlichen Lebenswandel und das Geständnis als mildernd, Erschwerungsgründe waren nicht zu berücksichtigen.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.07.2015, Zl. XXXX , wurde dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuerkannt und festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Das Bundesverwaltungsgericht stellte im Hinblick auf die Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung in seiner Entscheidung fest, dass die Cousine des Beschwerdeführers seinem Bruder versprochen wurde und es zu einer Auseinandersetzung kam, als die Familie der Cousine die Hochzeit nicht mehr wollte. Im Zuge dessen erschoss der Onkel des Beschwerdeführers seinen Vater. Anschließend nahm der ebenfalls anwesende Bruder des Beschwerdeführers die Waffe an sich und schoss auf den Onkel, traf stattdessen jedoch seine Verlobte. Rechtlich ging das Bundesverwaltungsgericht aufgrund der getroffenen Feststellungen davon aus, dass das Leben des Beschwerdeführers in seiner Herkunftsprovinz in Gefahr ist, es den afghanischen Behörden mangels staatlicher Schutzmechanismen nicht möglich ist, für die grundlegenden Rechte und Freiheiten Sorge zu tragen und daher nicht davon auszugehen ist, dass sich der Beschwerdeführer in anderen Landesteilen eine auch nur notdürftige Lebensgrundlage schaffen könnte.

Mit Urteil eines Landesgerichts vom 29.03.2017, rechtskräftig seit 03.04.2017, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung (§ 205a Abs. 1 erster Fall StGB) zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten, die unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, sowie zum Ersatz von EUR 300,00 an das Opfer verurteilt. Gleichzeitig wurde die mit Urteil vom 17.03.2015 gewährte Probezeit auf fünf Jahre verlängert.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer am 31.08.2016 mit einer Frau ohne Gewaltanwendung den Geschlechtsverkehr vollzog, obwohl sie ihm davor und währenddessen klar zu verstehen gab, dass sie damit nicht einverstanden war, indem sie seinen Annäherungsversuchen auszuweichen versuchte und sinngemäß zu ihm sagte, dass er schlafen gehen solle und alkoholisiert sei und jedes Mal den Kopf wegdrehte, wenn er versuchte, sie zu küssen. Der Beschwerdeführer antwortete darauf lediglich „Ja, ja“, fuhr fort und drang mit dem Penis in sie ein, wobei sie vor Schmerz erstickt aufschrie. Der Beschwerdeführer sein Verhalten fort, bis die Frau sich aus ihrer Schreckstarre befreien, ihn wegstoßen und davonlaufen konnte.

Bei der Strafzumessung wertete das Gericht als mildernd das Alter unter 21 Jahren und das Geständnis, als erschwerend die einschlägige Vorstrafe.

Am 04.03.2018 wurde gegen den BF Anzeige wegen Ordnungsstörung (§ 81 Abs. 1 SPG), Anstandsverletzung (§ 11 Abs. 1 LPolizeiG Tirol) und ungebührlicher Lärmerregung (§ 1 Abs. 1 LPolizeiG Tirol) erstattet. Im März 2020 wurde gegen den BF Anzeige wegen Körperverletzung erstattet, die zu keiner Verurteilung führte.

Der Beschwerdeführer ist in der Lage, einfache Fragen auf Deutsch zu beantworten. Er besuchte von 13.01.2020 bis zumindest 24.08.2020 einen Pflichtschulabschlusskurs, den er abgebrochen hat und ist Mitglied in einem Jugendzentrum und in einem Fitnessclub.

Der Beschwerdeführer war zwischen 20.06.2018 und 19.09.2019 jeweils mit Unterbrechungen bei fünf verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt. Derzeit ist er nicht erwerbstätig und bezieht Sozialhilfeleistungen. Er hat mehrere Bewerbungen geschrieben und möchte in Zukunft eine HTL mit Schwerpunkt IT absolvieren.

Am 15.10.2020 begab sich der Beschwerdeführer unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Frankreich und stellte am 27.10.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz, weshalb in Frankreich ein Verfahren nach der Dublin III-Verordnung eingeleitet wurde. Der Beschwerdeführer kehrte freiwillig nach Österreich zurück.

Zur Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Die zwischen der Familie des Beschwerdeführers und der Familie seines Onkels väterlicherseits durch die Ermordung des Vaters des Beschwerdeführers und die anschließende Tötung der Tochter seines Onkels entstandene Familienfehde besteht nicht mehr.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Afghanistan und in seine Herkunftsprovinz Nangarhar keine Gefahr mehr, von seinem Onkel mit der Anwendung von physischer und/oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.

Auch sonst droht dem Beschwerdeführer keine Gefahr, aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung mit der Anwendung von physischer und/oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.

Dem Beschwerdeführer ist eine Rückkehr nach Afghanistan jedoch aus folgenden Gründen nicht möglich:

Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan drastisch verschlechtert. Es kam zu verstärkten Kampfhandlungen zwischen den Taliban und Regierungstruppen in ganz Afghanistan, die zur vollständigen Machtübernahme der Taliban führte, die aktuell das gesamte Land kontrollieren. Es kommt zu schwerwiegenden Übergriffen von Taliban-Kämpfern gegenüber der Zivilbevölkerung, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen sowie Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen und andere grobe Menschenrechtsverletzungen umfassen.

Dem Beschwerdeführer würde daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Wiederansiedelung in seiner Herkunftsprovinz Nangarhar oder einer Neuansiedelung in größeren Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif aufgrund der derzeit herrschenden allgemein schlechten Sicherheitslage und der Machtübernahme der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr drohen, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen Streitkräften der ehemaligen Regierung und den Taliban bzw. zwischen den Taliban und anderen Gruppierungen, die diesen feindlich gegenüberstehen oder durch Übergriffe von den Taliban oder anderen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 5 vom 16.09.2021, wiedergegeben:

COVID-19

Letzte Änderung: 16.09.2021

[…]

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

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Politische Lage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

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Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

Letzte Änderung: 16.09.2021

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).

Abzug der Internationalen Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021).

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Sicherheitslage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Sharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).

Vorfälle am Flughafen Kabul

Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).

Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 1.9.2021; vgl. BBC 30.8.2021). Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021).

Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021).

Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021): Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021).

Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielte nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).

Zivile Opfer vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 30.6.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 5.183 zivile Opfer (1.659 Tote und 3.524 Verletzte). In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres dokumentierte UNAMA fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte (UNAMA 26.7.2021). Im gesamten Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das war ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).

Obwohl ein Rückgang von durch regierungsfeindliche Elemente verletzte Zivilisten im Jahr 2020 festgestellt werden konnte, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, so gab es einen Anstieg an zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch Opfern von aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (VBIEDs) (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisati

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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