TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/27 W257 2185353-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.10.2021
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Entscheidungsdatum

27.10.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W257 2185353-1/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert MANTLER, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH – Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, vom 04.01.2018, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.09.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 09.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am 11.12.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er aus der Provinz Kandarhar stamme und er sich bis zuletzt dort aufgehalten habe. Er verfüge keine Schulbildung und sei Analphabet. Er habe in Afghanistan Berufserfahrung als Hilfsarbeiter gesammelt. Seine Muttersprache sei Dari, er spreche aber auch Paschtu. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekenne sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er sei verheiratet. In seinem Heimatland würden sich in seinem Heimatdorf noch seine Eltern und ein Bruder aufhalten. In Österreich habe er keine Angehörigen. Er habe sein Heimatland illegal und über den Iran und die Türkei nach Europa verlassen.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil die Taliban seiner Familie gedroht und Schutzgeld erpresst hätten. Da das Schutzgeld nicht bezahlt worden wäre, wären sie von den Taliban mit dem Tod bedroht worden. Aus diesem Grund habe er sein Heimatland verlassen. Im Falle seiner Rückkehr habe er Angst um sein Leben.

3. Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 08.11.2017 gab der BF an, dass er jünger sei und legte eine Tazkira im Original vor, die ihn als 31-jährigen ausweisen würde. Er habe den Dolmetscher bei der Erstbefragung nicht gut verstanden und werde im Laufe der Einvernahme eventuell Richtigstellungen vornehmen. Er legte auch ein Konvolut an integrationsbegründenden Unterlagen vor.

Er sei afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und Moslem, sunnitischer Glaubensrichtung. Er sei im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Kandarhar geboren worden, wo er auch aufgewachsen sei. Er sei verheiratet und habe zwei Kinder. In seinem Heimatland würden, neben seiner Ehefrau und den beiden Kindern, noch seine Eltern, und sein Bruder leben. Er habe auch noch einige weitschichtige Verwandte in der Provinz Kandarhar, zu denen würden aber kein Kontakt bestehen. Seine Kernfamilie sei mittlerweile in die Provinzhauptstadt gezogen. Er habe keine Verwandten außerhalb der Provinz Kandarhar.

Er sein in Afghanistan nur in eine Koranschule gegangen, die auch nichtreligiöse Inhalte vermittelt hätte. Er könne daher Paschtu und Englisch in Wort und Schrift und auf Dari sprechen. Er habe im Geschäft seines Vaters Berufserfahrung gesammelt, bis dieses verkauft worden sei. Nach seiner Ausreise aus Afghanistan sei er über den Iran und die Türkei nach Europa gekommen und über ihm unbekannte Länder nach Österreich gereist. Der Schlepper habe ihn hier abgeliefert und sein Onkel habe alles organisiert. Österreich sei jedenfalls nicht sein Zielland gewesen. Mit seiner Familie sei er in regelmäßigem Kontakt.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil sich sein Laden nahe der Hauptstraße befunden hätte. Diese habe das Militär benutzt, weshalb die Taliban bei einem in der Nähe befindlichen Kanal Minen versteckt hätten. Es seien einige Male Militärfahrzeuge gesprengt worden, weshalb die Polizei den BF festgenommen hätte. Diese habe ihm mitgeteilt, dass er beobachten solle, ob etwas Verdächtiges geschehe. Er habe nur gesagt, dass er nicht rund um die Uhr im Geschäft sei und die Minen wohl in der Nacht versteckt werden würden. Nach dem er nach weiteren Anschlägen immer wieder festgenommen worden sei, hätten auch die Dorfältesten nachgefragt und so sei er auch für die Taliban interessant geworden. Diese wären dann auch zu ihm in den Laden gekommen und hätten ihm vorgeworfen, dass er für die Polizei spioniere. Einige Tage danach wären die Taliban zweimal gekommen und hätten dem BF mit der Waffe aus einem Auto heraus gedroht. Bei zweiten Mal sei er auch entführt und zusammengeschlagen worden. Ein hohes Mitglied der Taliban habe ihm gesagt, dass er nicht getötet werde, wenn er für die Taliban diese Stelle am Kanal ausspioniere. Er habe zugesagt, damit er freikomme. Als er zu Hause seinem Onkel davon erzählt habe, habe sich dieser um seine Ausreise gekümmert.

Er meinte, dass er dies bei der Erstbefragung nicht erwähnt habe, weil der Dolmetscher, ab dem der BF das Wort Taliban erwähnt habe, eine Geschichte erfunden hätte. Auf Vorhalt, dass es bei den anderen Fragen offensichtlich keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben habe, vermeinte der BF, dass diese Frage kompliziert sei und bei dieser Frage die Verständigung sehr schwer gewesen sei.

Die Frage, wie viele Anschläge es an der dortigen Stelle gegeben habe, beantwortete er dahingehend, dass es über die Jahre sehr viele gewesen wären und die Polizei auch viele Minen ausgeforscht hätte. Die LKW wären dann meistens um diese Stelle gefahren. Die Polizei habe sich an ihn gewandt, weil sie nicht ständig diese Stelle überwachen könne. Die Taliban hätten ihm vorgeworfen, dass er mit der Polizei über die Minen spreche. Er hätte für die Taliban zählen sollen, wie viele Konvois die Stelle passieren würden. Diese Informationen hätte er den Soldaten entlocken sollen, die in sei Geschäft gekommen wären. Auf Nachfrage, dass die Taliban diese Informationen durch eigene Leute auch bekommen hätten können, vermeinte er, dass er die Auskunftsperson hätte sein sollen. Er hätte den Taliban die Informationen geben sollen, damit diese sofort einen Überraschungsangriff hätten starten können. Er sei aber schon geflohen, bevor er nähere Informationen erhalten hätte.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative habe er nicht in Betracht gezogen, weil die Taliban ihn auch in anderen Provinzen aufgespürt hätten und er sich nicht immer hätte verstecken wollen. Ob seine Familie von den Taliban ausspioniert worden sei, könne er nicht sagen. Es sei möglich, dass ihm dies seine Verwandten verheimlicht hätten. Im Falle einer Rückkehr hätte er sofort wieder Angst vor den Taliban. Sonst fürchte er in Afghanistan nichts.

In Österreich sei kein Mitglied in einem Verein, habe aber bereits viele ehrenamtliche Tätigkeiten durchgeführt. Er gehe auch in ein Fitnesscenter. Danach wurden dem BF noch die aktuellen Länderfeststellungen zur Kenntnis gebracht und ihm die Möglichkeit zu einer Stellungnahme eingeräumt.

4. Mit Bescheid vom 04.01.2018 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde festgehalten, dass es nicht als glaubwürdig angesehen hat werden können, dass der BF Verständigungsschwierigkeiten bei Erstbefragung bezüglich des Fluchtgrundes gegeben habe, zumal der BF alle sonstigen Fragen ohne Schwierigkeiten beantworten habe können. Dass der Dolmetscher sich eine Fluchtgeschichte ausgedachte hätte, sei der Lebenserfahrung nach nicht wahrscheinlich. Warum der BF nicht die bei der Einvernahme geschilderten Fluchtgründe schon bei der Erstbefragung erwähnte habe, sei nicht nachvollziehbar gewesen und beinträchtige daher die Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens des BF. Die in der Einvernahme vor der Behörde vorgebrachte Fluchtgeschichte, konnte der BF nicht nachvollziehbar darlegen. Weder habe der BF glaubhaft darlegen können, dass die Polizei ihn aufgefordert habe, dass er verdächtige Personen zu melden habe noch habe er plausibel darlegen können, dass ihn die Taliban als Spion einsetzen hätten wollen. Wenig nachvollziehbar sei es gewesen, dass der BF für die Taliban der geeignetste Ansprechpartner für diese Aufgabe gewesen sei, obgleich ihm die Taliban keine näheren Details über die Durchführung dieser Tätigkeiten gegeben hätten und diese noch danach auch nicht mit seinen Angehörigen in Verbindung gesetzt hätten. Außerdem sei es nicht möglich, dass die Taliban nach einem Anruf des BF, dass ein Konvoi vorbeifahren würde, diese sogleich einen Überraschungsangriff durchführen hätten können. Dass dem BF aufgrund der Bedrohung durch die Taliban keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung gestanden wäre, sei schon alleine deswegen nicht glaubwürdig, weil sich diese nicht einmal mit den im Heimatland verbliebenen Angehörigen in Verbindung gesetzt hätten. Dies wäre aber wohl der erste Schritt, wenn man den BF wirklich wegen seiner angeblichen Spionagetätigkeit belangen hätte wollen. Daher wäre dem BF gegen diese Art der Bedrohung jedenfalls eine innerstaatliche Fluchtalternative (etwa in Kabul) zur Verfügung gestanden.

Eine Ansiedlung in seiner Heimatprovinz sei dem BF laut den Länderinformationen nicht zumutbar, jedoch sei ihm in Kabul eine Wiederansiedlung jedenfalls zumutbar. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan könne davon ausgegangen werden, dass der BF, der sogar über dichtmaschige familiärere Anknüpfungspunkte in seinem Heimatland verfügen würde, jedenfalls von seiner Familie unterstützt werden würde, zumal diese bei der Volksgruppe der Paschtunen als evident angenommen werden könne. Ebenso gäbe es in Afghanistan für Rückkehrer auch Unterstützung abseits der Familien und der BF könne auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Eine Gefahrenlage im Sinne des Art. 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Der BF sei jung, gesund und arbeitsfähig sowie in Afghanistan bzw. in einem afghanischen Familienumfeld sozialisiert worden. Er verfüge auch über eine profunde Bildung und habe Arbeitserfahrung am afghanischen Arbeitsmarkt. Betreffend den Ausspruch einer Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.

5. Mit Verfahrensanordnung vom 05.01.2018 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe für das Beschwerdeverfahren als Rechtsberatung zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 05.01.2018 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

6. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 05.02.2018 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung in vollem Umfang erhobene Beschwerde. Begründet wurde dies mit einer Verletzung von Verfahrensvorschriften im Zuge eines mangelhaften Ermittlungsverfahrens und aufgrund mangelhaften Länderfeststellungen. In Ermangelung von tragfähigen Solidarnetzwerken sei dem BF auch keine innerstaatliche Fluchtalternative offen gestanden. Aufgrund der individuellen Verhältnisse des BF und der schlechten Sicherheitslage in Afghanistan, sei dem BF auch keine Rückkehr nach Kabul zumutbar. Bezüglich des Fluchtvorbringens habe der BF nachvollziehbar dargelegt, dass es bei der Erstbefragung Verständigungsschwierigkeiten gegeben habe und ihm daher diese Divergenz nicht angelastet werden könne. Sein eigentliches Fluchtvorbringen habe der BF in der Einvernahme auch detailliert und nachvollziehbar geschildert. Dass die Familie nicht von den Taliban kontaktiert worden sei, habe der BF nicht gesagt, zumal er gemeint hätte, dass diese ihm solche Besuche auch verschweigen hätte können. Ebenso wären in Afghanistan auch die familiären Netzwerke unter den Paschtunen aufgrund der angespannten Lage nicht mehr tragfähig. Der BF habe sohin glaubhaft dargelegt, dass ihm von den Taliban die Unterstützung der Regierung unterstellt werde, weshalb er aufgrund seiner unterstellten politischen Gesinnung in Afghanistan verfolgt werde. Der afghanische Staat sei aber nicht in der Lage, den BF vor dieser Verfolgung ausreichend zu schützen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei dem BF ebenfalls nicht zumutbar und schon alleine die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan stelle jedenfalls eine Verletzung der in Art. 2 und Art. 3 EMRK gewährten Rechte dar. Aufgrund seiner Integration würde eine Abschiebung nach Afghanistan auch einen unzulässigen Eingriff in sein Privatleben bedeuten. Abschließend wurde noch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

7. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 05.02.2018 vom BFA vorgelegt, wobei die belangte Behörde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verzichte habe.

8. Mit Schriftsatz vom 06.07.2021 legte die Rechtsvertretung des BF, nunmehr die BBU GmbH, ein Konvolut an integrationsbegründenden Unterlagen vor.

9. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 07.09.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF und seine Rechtsvertretung sowie eine Zeugin und ein Vertreter der belangten Behörde persönlich teilnahmen.

Der BF gab an, dass gesund und in der Lage der Verhandlung folgen zu können. Er berief sich darauf, dass er im Verlauf des bisherigen Verfahrens immer die Wahrheit gesagt habe. Er verzichtete nach eingehender Belehrung auf die Verlesung des Aktes. Er gab an, dass es bei der Erstbefragung Unstimmigkeiten gegeben habe, weil er einen Dolmetscher für Farsi gehabt habe, er selbst aber nur unzureichend Dari sprechen würde. Er sei auch im Jahr 1987 geboren worden und nicht 1981. Seine vorgelegte Tazkira würde auch 1987 als Geburtsjahr ausweisen.

Er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppen der Paschtunen und gehöre der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er sei afghanischer Staatsangehöriger und sei in Afghanistan in der Provinz Kandarhar, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX in der Gemeinde XXXX geboren worden und aufgewachsen. Er habe dort sechs Jahre lang eine Koranschule besucht und danach in einem familieneigenen Lebensmittelgeschäft gearbeitet. Er habe etwa drei Jahre lang dort gearbeitet. Seine Muttersprache sei Paschtu. Dari spreche er nur wenig. Das Geschäft habe sein Onkel nach seiner Ausreise verkauft. Er selbst habe das Geschäft in den letzten drei Jahren von seinem Vater übernommen gehabt. Seine Familie sei es mittelmäßig gegangen. Seine nahen Angehörigen würden von seinem Onkel und seinen Schwagern betreut werden.

Zu seinem Fluchtgrund gefragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass sich in der Nähe seines Geschäftes ein Brücke befunden habe, die die Taliban einmal mit einem Polizeiauto zusammen in die Luft gesprengt hätten. Die Polizei sei danach zu ihm ins Geschäft gekommen, habe nachgefragt, ob er etwas beobachtet hätte und er sei aufgefordert nachzuschauen, wer sich hier umhertreiben würde. Als sich noch ein weiteres Mal so ein Vorfall zugetragen habe, sei er festgenommen worden, jedoch dank der Unterstützung der Weißbärtigen wieder freigekommen. Danach wären die Taliban ins Geschäft gekommen und hätten den BF beschimpft. Zwei Tage später wären zwei Unbekannte mit Pistolen in einem Auto auf ihn zugefahren. Sie hätten aber vom BF abgehalten. Wieder zwei bis drei Tage später sei der BF dann von drei Personen in einem Auto entführt und zusammengeschlagen worden. Es sei ein Kommandant gekommen, der meinte, dass sich der BF glücklich schätzen könne, dass er noch am Leben sei. Er habe ihn dann aber nach Hause gehen lassen, weil dem BF eingeschüchtert eingewilligt hätte, mit ihnen zu kooperieren. Als er darüber mit seiner Familie gesprochen habe, hätte sein Onkel den Entschluss gefasst, dass er das Land verlassen müsse.

Die Polizei habe ihm nichts vorgeworfen. Bei seiner Festnahme sei bereits ein Weißbärtiger mitgekommen, sodass diese Sache schnell erledigt gewesen sei. Die Polizei hätte nur gewollt, dass er mithelfe. Er selbst habe damit nichts zu tun habe wollen. Die Explosionen hätten sich beide Male am späten Nachmittag zugetragen. Bei der ersten Explosion wären zwei Dorfbewohner getötet worden, bei der zweiten Explosion habe es viele Verletzte gegeben und das Polizeiauto sei zerstört gewesen. Er kenne den Unterschied zwischen einer Landmine und einer Bombe nicht. Man habe damals im Dorf nur gesagt, dass schon wieder eine Landmine explodiert sei. Die Lehmfassade des Geschäftes sei bei der Explosion beschädigt worden.

Zur Mitnahme auf die Polizeistation befragt, gab er an, dass Soldaten ihn abgeholt und ihn zum Kommandanten gebracht hätten. Nach drei Stunden sei er wieder freigekommen. Sein jüngerer Bruder sei in der Zeit im Geschäft gewesen. Die Taliban hätten geglaubt, dass er ein Spion sei, weil sie überall ihre Informanten hätten. Aufmerksam gemacht, dass es nicht nachvollziehbar wäre, dass die Taliban dann glauben sollten, dass er Spion sei, vermeinte der BF, dass es sein Schicksal gewesen sei, dass ihn die Taliban beschuldigt hätten. Sie hätten einen Informanten im Basar haben wollen. Zu den Talibanbeschimpfungen befragt, führte der BF aus, dass er Kunden immer Tee angeboten hätte. Da er aber die Taliban erkannt hätte und er nicht mit diesen diskutieren habe wollen, habe er mit ihnen gestritten. Dies hätte er nicht tun sollen, aber die Taliban wären aggressiv gewesen und es sei ihm nicht gelungen, locker zu bleiben. Er sei gefragt worden, warum er bei der Polizei gewesen sei. Er habe ihnen die Wahrheit gesagt, aber die Taliban hätten ihm nicht geglaubt, dass er dort nur ein paar Fragen beantwortet haben hätte müssen. Auf Nachfrage, warum die Taliban dies hätten wissen wollen, zumal sie sowieso alles wissen würden, gab der BF an, dass er dies nicht wissen würde.

Zwischen den beiden Explosionen sei eine Woche vergangen. Er sei auf dem Heimweg nach der Arbeit entführt worden. Er sei in ein Auto gezerrt worden und an einen unbekannten Ort gebracht worden. Er sei in einem Kellerzimmer mit einer Stange im Fußbereich mehrmals geschlagen worden. Am nächsten Tag sei dann der Mullah gekommen. Er habe ihn belehrt und dann gemeint, dass er getötet worden wäre, wenn sie Beweise gehabt hätten, dass er für die Regierung gearbeitet hätte. Er sei wahrscheinlich deswegen beschuldigt worden, weil er aufgrund seines Aufenthaltes bei der Polizei im Dorf angeschwärzt worden sei. Der Mullah habe Zweifel daran, dass der BF etwas bei der Polizei gemacht hätte und so hätten sie gemeint, dass er ihnen helfen solle. Auf die Feststellung, dass dies nicht nachvollziehbar sei, zumal die Taliban zwei erfolgreiche Explosionen durchgeführt hätten, vermeinte der BF, dass er nicht wisse, was diese Leute vorgehabt hätten. Diese Leute wären nur aggressiv gewesen. Sie hätten von ihm verlangt, dass er sie regelmäßig informiere, wie viele Polizeiautos dort täglich vorbeifahren würden. Er habe zugesagt, dass er kooperiere, damit er wieder freikomme. Das Gespräch habe eine Stunde gedauert. Er selbst sei erst eine Nacht später freigekommen. In dieser Zeit habe er nur mit den Entführern und dem Mullah Kontakt gehabt. Er sei erst in der zweiten Nacht versorgt worden. Wie er die Taliban hätte informieren sollen, wisse er nicht. Er vermute, dass diese mit ihm die Sache im Geschäft geklärt hätten. Der Mullah habe nicht mit ihm darüber gesprochen. Zwei Tage nach der Entführung hätte die Familie dann das Heimatdorf verlassen. Das Geschäft sei nicht mehr geöffnet worden. Zur Polizei sei er nicht mehr gegangen, weil diese naiv wie die Taliban sei. Auch abseits des Heimatdorfes sei er nicht zur Polizei gegangen, weil sie ihre Hoffnung verloren hätten. Kurz nach dem Verlassen des Heimatdorfes habe sein Schwiegervater schon die Schleppung organisiert gehabt. Das Geld habe so schnell aufgetrieben werden können, weil die Waren zurück an die Lieferanten verkauf worden wären. Seine Ehe mit seiner Cousine habe er im Jahr 2011 geschlossen. Seine Kinder wären 8,5 und 7,5 Jahre alt.

In Österreich lebe er alleine in einer Genossenschaftswohnung. Er habe Deutsch gelernt und sei mittlerweile als Hausbetreuer selbstständig tätig geworden. Er verdiene rund € 1.500,- im Monat und unterstütze seine Familie in Afghanistan nicht.

Die einvernommene Zeugin habe den BF im Jahr 2016 über ihre Tätigkeit an der Pädagogischen Hochschule kennengelernt. Er sei ein ruhiger und besonnener Mensch, der sich auch viel um die jungen Leute gekümmert und zahlreiche Veranstaltungen organisiert habe. Da der BF ihr Sohn sein könnte, wisse sie nicht, ob sie eine Freundschaft zu ihm haben könne. Jedenfalls sei er der einzige, zu dem sie noch Kontakt aus der Gruppe habe. Sie habe ihm geholfen, dass er eine Wohnung bekomme. Er arbeite auch sehr gewissenhaft, wodurch er auch in Zukunft die Wohnung finanzieren werden wird können. Sie sehe ihn wöchentlich und habe den BF auch zwei Wochen bei sich wohnen lassen, bi die Wohnung bezugsfertig gewesen sei. Er habe auch ein gutes Verhältnis zu ihrer gesamten Familie.

Nach Übermittlung der neuesten Länderberichte hielt die Rechtsvertretung fest, dass die Lage derzeit katastrophal und eine innerstaatliche Fluchtalternative ausgeschlossen sei. Ebenso müsse die vorbildliche Integration des BF, insbesondere die erlangte Selbsterhaltungsfähigkeit, berücksichtigt werden. Danach wurde die mündliche Verhandlung geschlossen. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.

10. Mit Schreiben vom 24.09.2021 gab die Rechtsvertretung im Zuge einer Stellungnahme zur aktuellen Situation in Afghanistan ab. In dieser führte sie aus, dass die Machtübernahme der Taliban dazu geführt habe, dass die Situation von Angehöriger der Risikoprofile der UNHCR-Richtlinie nochmals volatiler geworden sei. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei ausgeschlossen und aufgrund der verschlechterten Sicherheitslage liege jedenfalls ein unzulässiger Eingriff in die nach Art. 3 EMRK gewährten Rechte vor. Aufgrund seiner außerordentlichen Integration sei dem BF jedenfalls eine Aufenthaltsberechtigung plus zu erteilen.

11. Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Afghanische Tazkira im Original

?        Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen

?        ÖSD-Zertifikate (Niveau A1 und A2)

?        Bestätigungen über die Durchführung gemeinnütziger Tätigkeiten

?        Stellungnahme und Entwicklungsbericht

?        Teilnahmebestätigungen an diversen Projekten und an Integrationskursen

?        Zahlreiche Referenz- und Empfehlungsschreiben

?        Auszug aus dem Gewerberegister (Gewerbeberechtigung: Hausbetreuung)

?        Anmeldung zum Gewerbe Hausbetreuung

?        Teilnahmebestätigung und Zeugnis der ÖIF Integrationsprüfung B1

?        Vereinbarung zur Miete einer Wohnung

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den Namen von XXXX , geb. XXXX alias XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und Moslem sunnitischer Glaubensrichtung. Die Muttersprache des BF ist Paschtu. Er ist im erwerbsfähigen Alter und gesund.

Der BF wurde nach seinen Angaben in Afghanistan in der Provinz Kandarhar, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX in der Gemeinde XXXX geboren und wuchs dort auch auf. Er besuchte sechs Jahre eine Koranschule und sammelte Berufserfahrung als Verkäufer im familieneigenen Lebensmittelgeschäft. In seinem Heimatland sind noch zahlreiche Verwandte, unter ihnen seine Eltern, sein Bruder, seine Ehefrau und seine beiden Kinder aufhältig. Zu diesen hat der BF noch regelmäßigen Kontakt. In Österreich hat der BF keine Angehörigen. Der BF ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Der BF ist daher in seinem Herkunftsstaat auch nicht vorbestraft und hatte keine nennenswerten Probleme mit Behörden und war dort politisch nicht aktiv. Der BF ist in Österreich unbescholten.

Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan über den Iran und die Türkei auf das Gebiet der EU eingereist. Am 09.12.2015 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist daher mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF stellte am 09.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil die Taliban seiner Familie gedroht und Schutzgeld erpresst hätten. Da das Schutzgeld nicht bezahlt worden wäre, wären sie von den Taliban mit dem Tod bedroht worden. Aus diesem Grund habe er sein Heimatland verlassen. Im Falle seiner Rückkehr habe er Angst um sein Leben. Im Verlauf des weiteren Verfahrens änderte der BF sein Vorbringen dahingehend, dass er von den Taliban entführt worden sei und er für diese als Spion hätte tätig werden sollen.

Der BF wurde weder von Privatpersonen noch von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht noch wird er von den staatlichen Behörden gesucht. Der BF wurde seitens Privatpersonen, der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung, er wird von diesen oder dieser auch nicht gesucht.

Es wird festgestellt, dass der BF durch eine „verwestlichte Lebensweise im Falle seiner Rückkehr einer landesweiten asylrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt ist. Der BF hat eine „verwestlichte Lebensweise“ nicht derart verinnerlicht, dass sich dieser in seiner inneren Einstellung derart manifestiert hätte, dass es dem BF unmöglich macht, mit seinen Ansichten im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan leben zu können.

Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung ausgesetzt ist.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Privatpersonen oder durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch staatliche Behörden.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Paschtunen oder der Zugehörigkeit zu einer sonstigen sozialen Gruppe konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.

1.3.    Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dem BF ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.

Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat würde diesem daher auch ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), drohen.

Der BF verfügt über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und einer Sprache seines Herkunftsstaates als Muttersprache vertraut, weil er in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen und er hat in Afghanistan eine sechsjährige Schulbildung erhalten und jahrelange Berufserfahrung als Verkäufer im familieneigenen Geschäft gesammelt.

1.4.    Zum Leben in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 09.12.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 09.12.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF hat keine weiteren Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich keine besonderen Merkmale der Abhängigkeit zu sonstigen in Österreich lebenden oder aufenthaltsberechtigten Personen.

Der BF pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Asylwerbern. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und ist auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften ist er auch kein Mitglied in einem Verein.

Er besuchte auch zahlreiche Deutschkurse und konnte seine Sprachkenntnisse auch durch Teilnahmebestätigungen und Prüfungszertifikate sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG darlegen. Er ist in der Lage, bei klarer Standardsprache über vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. auf Deutsch zu reden. Darüber hinaus kann er über Erfahrungen und Ereignisse berichten, Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben und zu Plänen und Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen geben.

Der BF lebt von Einkünften einer selbstständigen Tätigkeit als Hausbetreuer. Zuvor hat er sich bei gemeinnützigen bzw. ehrenamtlichen Tätigkeiten engagiert. Auch wenn der BF nicht mehr von der Grundversorgung abhängig ist, weil mit seinen Einkünften aus dieser Tätigkeit selbsterhaltungsfähig ist, gilt es zu bedenken, dass der BF erst seit vier Monaten im Besitz einer Gewerbeberechtigung ist, wodurch noch nicht festgehalten werden kann, dass der auch in Zukunft selbsterhaltungsfähig sein wird. Eine wirtschaftliche Integration ist dem BF nur bedingt gelungen.

Im Strafregister der Republik Österreich scheint keine strafrechtliche Verurteilung des BF auf. Er ist unbescholten.

1.5.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 16.09.2021:

COVID-19

Letzte Änderung: 16.09.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Politische Lage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

Letzte Änderung: 16.09.2021

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).

Abzug der Internationalen Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präs

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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