Entscheidungsdatum
28.10.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W177 2172433-1/16E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag Robert BITSCHE, Nikolsdorfergasse 7-11/Top 15, 1050 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, vom XXXX , Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29.07.2021, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 19.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen der am 19.10.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, er stamme aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX , in der Provinz Ghazni. Er habe eine dreijährige Schulbildung, jedoch keine Berufsausbildung erhalten und zuletzt als Hilfsarbeiter und Schneider gearbeitet. Er gehöre der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an und sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Muttersprache sei Dari/Farsi. Sein Bruder und seine Schwester würden in seinem Heimatdorf leben, wo er sich vor seiner Ausreise ebenfalls aufgehalten habe. Er sei zusammen mit seinem Onkel, dessen Mutter und deren drei Kinder nach Österreich gereist. In Schweden habe er einen Onkel. Er habe Afghanistan bereits vor einem Jahr verlassen und sich danach im Iran aufgehalten, ehe er vor etwa 20 Tagen über die Türkei und Griechenland kommend nach Österreich gereist sei.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass in seiner Heimatregion Krieg herrsche und die Schulen geschlossen wären. Seitdem das ausländische Militär abgezogen sei, hätte sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert. Die Lage der Schiiten habe sich verschärft und es wären schon einige Personen getötet worden. Er selbst habe Angst. Im Falle seiner Rückkehr befürchte er den Tod. Es würde keine Sicherheit geben und seine Heimatregion sei umkämpft.
3. Auf die seitens Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 08.05.2017 ergangenen Aufforderung zur Urkundenvorlage, legte der BF am 06.06.2017 ein Konvolut an integrationsbegründen sowie fremdsprachigen Urkunden vor.
4. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 07.09.2017 gab der BF an, dass es ihm gut gehe und er gesund sei. Er meinte auch, dass er nicht nur ein Jahr, sondern ein Jahr und fünf Monte im Iran gewesen sei. Ebenso legte er Konvolut an integrationsbegründenden Urkunden vor.
Er sei afghanischer Staatsangehöriger, Moslem schiitischer Glaubensrichtung und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er stamme Provinz Ghazni, Distrikt XXXX , Dorf XXXX , wo er sich auch bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan aufgehalten habe. Sein Vater sei vor vier Jahren verstorben. Er habe Probleme mit den Taliban gehabt, weil diese immer wieder Geld verlangt hätten. Eines Tages habe man ihn tot auf dem Feld gefunden. Ob die Taliban für dessen Tod verantwortlich wären, wisse der BF nicht. Seine Mutter sei danach an einer Krankheit verstorben. Der BF sei ledig und habe keine Kinder. Ein Bruder sei ebenfalls in Europa, jedoch habe der BF keinen Kontakt zu ihm. Seine verheiratete Schwester würde noch in Afghanistan leben. Er sei drei Jahre in eine Schule gegangen und habe danach auch zwei Jahre eine Koranschule besucht. Er habe Berufserfahrung als Landwirt und als Schneider. In seinem Heimatland würden noch ein Onkel und eine Tante leben. Ein weiterer Onkel sei im Iran aufhältig. Eine Tante, ein Schwager, zwei Neffen und zwei Nichten würden in Österreich aufhältig sein. Ein Cousin lebe seit zehn Jahren in Schweden. Mit diesem habe er, so wie mit seiner Schwester und Tante in Afghanistan regelmäßigen Kontakt. In Österreich habe er ausschließlich andere Afghanen kennengelernt. Hier lebe er von der Grundversorgung.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass seine Heimatregion zur Hälfte aus Hazara und zur Hälfte aus Paschtunen bestehen würde. Seit 2013 sei die Sicherheitslage schlechter geworden. Die Taliban hätten zahlreiche Checkpoints errichtet und wäre dort gegen Hazara vorgegangen. Er selbst sei selbst einmal in solch einen Vorfall verwickelt gewesen, als er mit seiner Mutter unterwegs gewesen sei. Damals wären in einem Auto drei Männer und vier Frauen gesessen, wobei die Taliban die Männer geschlagen hätten und verschleppen hätten wollen. Die Taliban hätten erst nach dem Flehen der Frauen von ihrem Vorhaben Abstand genommen. Ein weiteres Mal sei er mit seinem Chef auf dem Motorrad mitgefahren und in eine Talibankontrolle gekommen. Da sein Chef nicht anhalten habe wollen und er das Licht ausgeschalten habe, wäre ihnen nachgeschossen worden. Die Checkpoints wären ausschließlich errichtet worden, um Hazara schnappen zu können. Er habe selbst drei tote Männer aufgefunden, die Hazara gewesen wären. Es sei auch sein Nachbar verschleppt und getötet worden. Es hätten kriegsähnliche Zustande geherrscht und die Taliban hätten Hazara immer wieder entführt. Wenn diese kein Lösegeld bezahlt hätten, wären sie getötet worden. Sein Vater sei auch getötet worden und habe Würgemale am Hals gehabt. Die Sicherheitslage habe sich dermaßen verschlechtert, dass viele Personen aus seinem Heimatdorf geflüchtet wären. Es hätten auch andere Terrororganisationen wie ISIS oder Daesh dort operiert. Er selbst sei dann in den Iran gegangen, wo er ein Jahr und fünf Monate gelebt habe. Dort habe er aber keine Rechte gehabt, sodass er mit seinem Onkel nach Europa weitergezogen sei. Weitere Angaben könne er nicht machen. Die Probleme wären allesamt entstanden, weil die Regierung dort keine Gesetze durchsetzen könne und Chaos vorherrschen würde.
Er gehe davon aus, dass die Taliban seinen Vater umgebracht hätten, zumal er keine anderen Feinde gehabt hätte und diese von ihm eine Woche zuvor eine religiöse Steuer hätten eintreiben wollen. In den Iran sei er gegangen, weil dort sein Onkel sei, er in Sicherheit leben könne und es auch ein Ort sei, an dem Farsi gesprochen werde. Auch wenn er in seiner Heimatprovinz Verwandte gehabt hätte, sei die Sicherheitslage dort schlecht gewesen. Die dort lebenden Männer wären allesamt in den Iran gezogen. Innerhalb Afghanistan hätte er ich nicht niederlassen können, weil überall gegen Hazara vorgegangen werde. Er könne ein auf Farsi selbstgeschriebenes Blatt vorlegen, auf dem er Anschläge der Taliban notiert hätte.
Auch wenn viele Flüchtlinge nach Deutschland hätten gehen wollen, sei Österreich sein Zielland gewesen. Die Kosten für die Schleppung habe er durch die Ersparnisse seiner Arbeitstätigkeit im Iran bewerkstelligen können.
Bei der Anhaltung durch die Taliban hätte seine Mutter geschrien und gefleht, dass dem BF nicht angetan werden solle. Der BF sei mit dem Rückenteil eines Maschinengewehrs geschlagen worden. Da es sich um Großteils ältere Frauen gehandelt habe, hätten die Taliban die Gruppe verschont.
Aufgrund dieser Vorfälle sei der BF in seinem Heimatland wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit bzw. seiner Religion konkret verfolgt. Er sei aber weder vorbestraft noch politisch aktiv noch Mitglied einer politischen Partei oder politischen Gruppierung. Er habe auch an keinen Demonstrationen teilgenommen und habe seitens der staatlichen Behörden oder der Regierung nichts zu befürchten. Er könne aber nicht nach Afghanistan zurückkehren, weil dort Hazara nicht in Sicherheit leben könnten.
Warum er zu den mit der Ladung mitgeschockten Länderfeststellungen keine Stellungnahme abgegeben habe, begründete der BF dahingehend, dass er niemanden gefunden hätte, der ihm diese übersetzen hätte können.
5. Mit Bescheid vom XXXX wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde festgehalten, dass sich der BF einerseits auf eine Verfolgung in seinem Heimatland durch die Taliban aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit berufen habe andererseits habe er den Iran aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage und des unsicheren Aufenthaltsstatus verlassen. Die Vorfälle einer Verfolgung durch die Taliban wären unglaubwürdig gewesen. Der erste Vorfall sei nicht plausibel gewesen, zumal die Taliban von einer Entführung nicht ablassen würden, wenn alle Frauen darum bitten würden, andererseits die Taliban diese Frauen heimgebringen hätten wollen, wofür sie allerdings einen Gefangenen freilassen hätten müssen. Der zweite Vorfall, wo der BF einer Kontrolle entkommen wäre, weil der Fahrer eines Motorrades das Licht abgedreht hätte, sei an sich unplausibel geschildert worden, jedoch würden die Schilderungen viel mehr auf eine Polizeikontrolle (Taschenlampe, Schüsse) zutreffen als auf einen Checkpoint der Taliban, zumal die Taliban selbst oft auf Motorrädern unterwegs wären. Gegen diese Art der Verfolgung wäre dem BF in jedem Fall eine innerstaatliche Fluchtalternative nach Kabul oder Bamyan zur Verfügung gestanden. Die Fluchtgründe aus dem Iran wären zwar glaubhaft, aber nicht asylrelevant, weil sich diese nicht auf den Herkunftsstaat beziehen würden.
Eine Gefahrenlage im Sinne der Art.2 und 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Auch wenn eine Rückkehr in seine als volatil eingestufte Heimatprovinz nicht möglich sei, sei dem BF eine Rückkehr in Stadt Kabul oder die Provinz Bamyan zumutbar. Diese innerstaatlichen Fluchtalternativen stünden ihm zur Verfügung, zumal er arbeitsfähig und arbeitswillig sei, er über Berufserfahrung und familiäre Anknüpfungspunkte verfüge. Ebenfalls könnten ihn seine Verwandten, sowohl von seiner Heimatprovinz als auch vom Ausland aus, finanziell unterstützen. Betreffend die Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.
6. Mit Verfahrensanordnung vom 12.09.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 12.09.2017 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.
7. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 28.09.2017 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung in vollem Umfang erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass die Behörde die Ermittlungspflicht verletzt und sie mangelhafte Länderfeststellungen getroffen habe.
Einerseits sei den in den Bescheid eingeflossenen Länderfeststellungen zu entnehmen gewesen, dass die Lage in Afghanistan volatil sei und gegen Hazara gezielt vorgegangen werde, andererseits würden aktuelle Länderberichte dies auch durch kürzlich begangenen Angriffe auf schiitische Moscheen bestätigen. Ebenso wären die Feststellungen zur innerstaatlichen Fluchtalternative mangelhaft gewesen, zumal sowohl in der Stadt Kabul als auch in der Provinz Bamyan ein Gefährdungsrisiko für den BF bestehen würde, zumal dieser als Rückkehrer aus Europa ein weiteres Vulnerabilitätsmerkmal bei einer Neuansiedlung aufweisen würde.
Die belangte Behörde habe sich in der Beweiswürdigung auch nicht richtig mit dem Vorbringen des BF auseinandergesetzt, obgleich sich die geschilderten Vorfälle in mit den Gegebenheiten in Afghanistan decken würden, was auch allen Länderberichten entnommen werden könne. Die Begründungspflicht sei seitens der belangten Behörde auch dahingehend verletzt worden, dass die Behörde ihrerseits nur Mutmaßungen anstelle, dass sich die vom BF vorgebrachten nicht zugetragen hätten. Das Vorbringen des BF würde jedenfalls den Gegebenheiten Afghanistans entsprechen, denn weibliche Personen bedürfen dort einer männlichen Begleitung und auch habe der BF nachvollziehbar geschildert, dass die Talibankämpfer vermummt gewesen wäre, wodurch es sich wohl nicht um eine Polizeikontrolle gehandelt hätte. Daher wäre eine erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund gegeben gewesen, zumal der BF aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und der Zugehörigkeit zur religiösen Minderheit der Schiiten in Afghanistan einer asylrechtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sei. Diese Anknüpfungspunkte würden durch seine Eigenschaft als Rückkehrer aus dem Westen ebenfalls noch verstärkt werden.
Ebenfalls habe sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert, sodass dem BF eine innerstaatliche Fluchtalternative, auch nach Kabul oder die Provinz Bamyan, nicht zumutbar sei. Daher hätte die belangte Behörde dem BF zumindest den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen. Der BF habe sich in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes gut integriert und stellte keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dar, weshalb die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklärt hätte werden müssen. Es wurde auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
8. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 29.09.2017 vom BFA vorgelegt. Es wurde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verzichtet und beantragt, das BVwG möge diese als unbegründet abweisen.
9. Mit Schreiben vom 30.08.2018 erging die Vollmachtsbekanntgabe, dass der BF nun in gegenständlichem Verfahren von RA Mag. Robert BITSCHE rechtsfreundlich vertreten werde.
10. Mit Schreiben vom 12.02.2019 wurde eine Bestätigung für die Durchführung von freiwilliger sozialer Arbeit im Rahmen eines sozialen Projektes vorgelegt.
11. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.02.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache vom bisher zuständigen Gerichtsabteilung (W258) abgenommen und der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.
12. Mit Schreiben vom 26.07.2021 wurde im Zuge einer schriftlichen Stellungnahme ein Konvolut an Integrationsunterlagen vorgelegt und hierzu festgehalten, dass sicher der BF nachhaltig in Österreich integriert habe.
13. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 29.07.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ebenso wie seine bevollmächtige Vertretung, persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete, mit Schreiben vom 09.07.2021 entschuldigt, auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.
Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Nachdem die Parteien auf das Verlesen der Aktenteile verzichteten, erklärte der erkennende Richter diese Aktenteile zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der hier zu Grunde liegenden Niederschrift. Danach erfolgte die vorläufige Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in seinem Herkunftsstaat, auch unter der Berücksichtigung von COVID-19. Diese bestritt der BF. Danach legte er ein Konvolut an Integrationsunterlagen sowie medizinische Unterlagen vor. Diesen sei zu entnehmen, dass der BF in medikamentöser Behandlung aufgrund einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome sei.
Der BF führte aus, dass er im bisherigen Verfahren immer die Wahrheit gesagt habe. Seine Eltern wären verstorben, sein Bruder lebe in der Türkei und seine Schwester im Iran. In seiner Heimat hätte er niemanden mehr. Dort könnte er auch nicht von seinen im Ausland lebenden Angehörigen unterstützt werden.
Die Länderfeststellungen wurden auch in Bezug auf eine mögliche Rückkehr des BF nach Afghanistan bestritten, zumal sich die Situation in Afghanistan derzeit rasant ändere und sich die Sicherheitslage sohin verschlechtere. Der Rechtsvertretung des BF wurde eine Frist von vier Wochen zu Einbringung eines ergänzenden Schriftsatzes gegeben.
Festgehalten wurde ebenfalls, dass der BF ausgezeichnet Deutsch spreche und er sich im Zuge seines Aufenthaltes im Bundesgebiet außergewöhnlich integriert hätte.
Danach folgte der Schluss der mündlichen Verhandlung. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.
14. Mit Schreiben vom 08.09.2021 gab die Rechtsvertretung des BF eine Stellungnahme zu aktuellen Situation in Afghanistan ab. Aufgrund der Entwicklungen von August 2021 wäre dem BF derzeit keine innerstaatliche Fluchtalternative in eine afghanische Großstadt zumutbar. Alleine die gegenwärtige allgemeine Lage stünde einer Rückkehr in das afghanische Staatsgebiet entgegen. Dies müsse die Gewährung von subsidiären Schutz nach sich ziehen. Des Weiteren wurde noch einmal auf die sehr guten Integrationsschritte des BF verwiesen, der alle Voraussetzungen zur Erlangung der Selbsterhaltungsfähigkeit erfülle.
15. Der BF legte im Laufe des Verfahrens folgende Dokumente vor:
? Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen (A1, A2) und freiwilligen Sprachtrainings
? Sprachzertifikate ÖSD A1 und ÖSD A2
? Zeugnisse über die Integrationsprüfung (Niveau A2 und B1)
? Kursbesuchsbestätigung des Brückenkurs Pflichtschulabschluss
? Kursbesuchsbestätigung des Nachmittagskurs Pflichtschulabschluss
? Zahlreiche Bestätigungen über die Durchführung diverser gemeinnütziger Tätigkeiten
? Zeugnis über den Pflichtschulabschluss samt Semesterzeugnisse (Winter 2019/20, Sommer 2020 und Winter 2020/21)
? Zahlreiche Referenz- und Unterstützungsschreiben
? Einstellungszusage und arbeitsrechtlicher Vorvertrag
? Kursbesuchsbestätigung über den Besuch von Lehrgängen am BFI und WIFI
? Teilnahmebestätigungen an einem Integrationskurs
? Arztbrief aus dem Jahr 2019
? Medikamentenverordnung vom 27.07.2021
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.
1.1. Zum sozialen Hintergrund des BF:
Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und gehört der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und ist, abgesehen von einer medikamentös behandelbaren psychischen Störung, gesund.
Der BF wurde nach seinen Angaben im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Ghazni, geboren, wo er bis zu seiner erstmaligen Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2014 lebte. In seinem Heimatland hat der BF insgesamt fünf Jahre die Schule besucht und Berufserfahrung in der Landwirtschaft und als Schneider gesammelt. Er hat Kontakt zu seinen in der Türkei und im Iran lebenden Geschwister. In seinem Heimatland sind keine Verwandten mehr aufhältig. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.
Der BF ist in Österreich bislang strafrechtlich unbescholten. Der BF war in seinem Heimatland nicht inhaftiert, hatte in seinem Herkunftsstaat keine Probleme mit Behörden und war dort politisch nicht aktiv.
Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2014 über Iran, wo er sich ein Jahr und fünf Monate aufgehalten hat, und die Türkei in Griechenland auf das Gebiet der EU eingereist. Am 19.10.2015 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF stellte am 19.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil in seiner Heimatregion Krieg herrsche und die Schulen geschlossen wären. Seitdem das ausländische Militär abgezogen sei, hätte sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert. Die Lage der Schiiten habe sich verschärft und es wären schon einige Personen getötet worden. Er selbst habe Angst. Im Falle seiner Rückkehr befürchte er den Tod. Es würde keine Sicherheit geben und seine Heimatregion sei umkämpft.
Es wird festgestellt, dass der BF weder seitens einer Privatperson noch von einer regierungsfeindlichen Gruppierung bedroht bzw. gesucht wird. Ebenso wird der BF nicht von der Regierung oder den Taliban oder einer Privatperson gesucht bzw. bedroht.
Der BF wurde weder von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung noch von sonstigen Privatpersonen entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht. Der BF wurde seitens der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen, die ihn suchen würden.
Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung durch eine Privatperson bzw. einer regierungsfeindlichen Gruppierung oder durch die Regierung oder durch die Taliban ausgesetzt ist.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch andere Personen oder die Regierung.
Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara oder einer sonstigen sozialen Gruppe konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.
Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:
Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.
Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.
Dem BF ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.
Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat würde diesem daher auch ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), drohen.
1.4. Zum Leben in Österreich:
Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 19.10.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 19.10.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der BF hat keine weiteren Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich keine besonderen Merkmale zur einer Abhängigkeit zu anderen im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigten Personen.
Der BF pflegte in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Afghanen. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Er hat aber soziale Bindungen geknüpft und das soziale Verhalten des BF in der Gesellschaft wird durch eine Vielzahl Referenzschreiben belegt, wo der BF als hilfsbereit, freundlich und fleißig wahrgenommen wird.
Der BF besuchte zahlreiche Deutschkurse und konnte dies auch durch Teilnahmebestätigungen und Zertifikate bestätigen. Er ist daher in der Lage, bei klarer Standardsprache über vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. auf Deutsch zu reden. Darüber hinaus kann er über Erfahrungen und Ereignisse berichten, Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben und zu Plänen und Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen geben.
Der BF kann sowohl zahlreiche Bestätigungen für die Durchführung gemeinnütziger Tätigkeiten als auch eine Einstellungszusage vorlegen, sodass dem BF auch attestiert werde kann, dass er sehr arbeitswillig ist. Er hat sich sohin in sprachlicher, privater und beruflicher Hinsicht im Zuge seines sechsjährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet ausgezeichnet integriert. Auch wenn der BF noch nicht selbsterhaltungsfähig und er noch in keinem arbeitsrechtlichen Dienstverhältnis gestanden ist, hat er durch seine zahlreichen Kontakte auch gute Möglichkeiten, dass der er nach Beendigung des Asylverfahrens in einem arbeitsrechtlichen Dienstverhältnis beschäftigt wird bzw. er problemlos eine Arbeitsstelle finden wird. Eine positive Zukunftsprognose ist dem BF durch seine ausgezeichnete Vernetzung in der österreichischen Gesellschaft zu attestieren. Indem er sich jahrelang Kontakte aufgebaut hat und er sich in zahlreichen Bereichen sozial und ehrenamtlich engagiert ist, ist davon auszugehen, dass ihm nach der privaten Integration auch die wirtschaftliche Integration gelingen wird. Die lange Verfahrensdauer ist dem BF in keiner Weise anzulasten.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 16.09.2021:
COVID-19
Letzte Änderung: 16.09.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban
Letzte Änderung: 16.09.2021
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).
Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).
Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).
Abzug der Internationalen Truppen
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).
US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die T