TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/28 W177 2155710-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.10.2021
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Entscheidungsdatum

28.10.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W177 2155710-1/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Maga Nadja LORENZ, Burggasse 116/15-19, 1070 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Burgenland, vom XXXX , Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.07.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 06.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am 07.09.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, er stamme aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX , in der Provinz Parwan. Er habe acht Jahre lang Schulunterricht zu Hause erhalten und zuletzt in der familieneigenen Landwirtschaft gearbeitet. Er gehöre der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an und sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Muttersprache sei Dari. Seine Eltern, vier Brüder und zwei Schwestern würden in Afghanistan leben. Der BF habe sich bis zu seiner Ausreise in seinem Heimatdorf aufgehalten. In Österreich habe er eine Tante. Er habe Afghanistan vor zwei Monaten verlassen, wobei sein Onkel den Entschluss hierzu gefasst hätte. Er sei über Iran und über ihm sonst unbekannte Länder kommend nach Österreich gereist.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er vor zwei Jahren von unbekannten Männern entführt und zusammengeschlagen worden sei. Er sei gegen Zahlung von Lösegeld freigekommen. Die Taliban hätten dann zuletzt von seinem Vater verlangt, dass sich der BF und sein Bruder den Taliban anschließen hätten sollen. Sein Vater habe sich geweigert und sei zu einem Angriff gekommen. Seither wisse er nichts mehr über den Verbleib seiner Familie. Er sei zuerst nach Ghazni geflohen. Dort sei die Sicherheitslage dort auch schlecht gewesen, sodass sein Onkel ihn fortgeschickt und die Familie des BF nach Kabul gebracht hätte. Im Falle seiner Rückkehr befürchte er, getötet zu werden.

3. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 09.03.2017 gab der BF an, dass es ihm gut gehe und er – abgesehen von einer Tablette täglich – gesund sei. Er lebte auch ein Konvolut an integrationsbegründenden Unterlagen vor. Er habe acht Jahre lang Schulunterricht zu Hause erhalten und zuletzt in der familieneigenen Landwirtschaft gearbeitet. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, gehöre der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an und sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Muttersprache sei Dari. Er meinte auch, dass er bislang die Wahrheit gesagt hätte und sein Heimatland von seinem Heimatdorf aus verlassen habe. Er stamme aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX , in der Provinz Parwan, wo er mit seinen Eltern und seinen Geschwistern zusammengelebt habe. Mittlerweile würden sein Mutter und seine Geschwister in Kabul leben. Sein Vater und sein ältester Bruder wären in Pakistan. Er wisse nur, dass er bei seiner Flucht durch den Iran gereist sei. In Afghanistan habe er weder strafrechtliche Delikte begangen noch habe er mit terroristischen Gruppierungen Kontakt gehabt oder mit diesen kooperiert.

In Österreich habe er eine Tante, mit dieser habe er allerdings keinen tiefergehenden Kontakt. Hier gehe er in eine Schule und habe österreichische Freunde. Er sei aber kein Mitglied in einem Verein. Er sei hier auch nicht vorbestraft.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass eines Tages vier Taliban gekommen wären und von seinem Vater verlangt hätten, dass der BF und dessen Bruder in den Krieg ziehen müssten. Die Taliban wären am ein weiteres Mal gekommen und hätten am nächsten Tag Geld zahlen wollen, jedoch habe sein Vater abgelehnt und es sei zu einem Angriff gekommen. Sein Onkel habe ihn dann mit seinem Bruder zusammen, in die Provinz Ghazni gebracht, den BF jedoch bald weitergeschickt. Der BF sei zwei Jahre davor von Unbekannten entführt und zusammengeschlagen worden. Er sei damals wieder freigekommen, nachdem sei Vater Lösegeld bezahlt hätte. Er wisse, dass er damals zwölf Jahre alt gewesen sei. Er sei in einem Minibus, in dem acht Fahrgäste gewesen wären, gewesen und zusammen mit einem anderen Jungen entführt worden. Seine Entführer wären Paschtunen gewesen. Die Entführung habe fünf Tage gedauert, wobei er nicht wisse, weswegen er entführt worden sei. Es sei Lösegeld gezahlt worden. Die Entführer hätten sich nur nach seinem Vater erkundigt und sich nach seiner Freilassung nicht mehr gemeldet. Er sei danach 15 Tage zu Hause gewesen und erst danach zu einem Arzt gegangen, weil die Verletzungen nicht besser geworden wären. Er sei dann operiert wurden. Sein Vater sei damals nicht zur Polizei gegangen.

Die Taliban wären einmal am Abend und dann wieder am nächsten Tag gekommen. Als es beim zweiten Mal einen Streit gegeben habe, sei er mit seinem Bruder zu seinem Onkel geflohen, der sie dann zu einem seiner Freunde in die Provinz Ghazni gebracht hätte. Dort sei die Sicherheitslage aufgrund der Taliban ebenfalls schlecht gewesen. Ob andere Dorfjungen auch zwangsrekrutiert hätten werden sollen, wisse er nicht. Sein Mutter und seine Geschwister wären in Kabul. Sein ältester Bruder und sein Vater wären wegen der schlechten Sicherheitslage nach Pakistan weitergezogen. Er selbst hätte Afghanistan deswegen alleine ebenfalls verlassen. Kabul sei auch nicht sicher und in sein Heimatdorf könne er wegen der Entführung und der versuchten Zwangsrekrutierung auch nicht mehr.

Danach wurden dem BF Länderfeststellungen zu Afghanistan ausgehändigt und ihm eine Frist zur Stellungnahme von drei Wochen eingeräumt.

4. Mit Schreiben vom 29.03.2017 gab die Rechtsvertretung des BF eine Stellungnahme zu aktuellen Situation in Afghanistan ab. Das Vorbringen des BF würde sich mit den Länderfeststellungen decken, zumal in diesen von Entführungen und Tötungen gegenüber Hazara berichtet werde. Ebenfalls sei die vom BF beschriebene Sicherheitslage mit der in den Länderberichten in Einklang zu bringen. Im Falle seiner Rückkehr drohe dem BF aber nicht nur aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit eine asylrechtlich relevante Verfolgung, sondern sei er auch aufgrund seiner Eigenschaft als Rückkehrer und seiner Minderjährigkeit einer asylrechtlich relevanten Gefährdung ausgesetzt, zumal der Staat gegen diese Gefährdungspunkte (Zwangsrekrutierung durch die Taliban und Minderjährige, die kein soziales Netz vorfinden würden) nicht ausreichend schutzfähig und schutzwillig sei. Aufgrund Sicherheitslage stünde dem BF keine Rückkehr in das afghanische Staatsgebiet offen, zumal auch die Sicherheitslage in den Großstädten nicht stabil sei. Dies müsse die Gewährung von subsidiären Schutz nach sich ziehen. Des Weiteren wurde angeführt, dass der BF keine Familienzusammenführung anstrebe und er ein namentlich genanntes Medikament aufgrund neurologischer Beschwerde und als Antidepressivum einnehme.

5. Mit Bescheid vom XXXX wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde festgehalten, dass die zwei Jahre vor seiner Ausreise stattgefunden Entführung keine Asylrelevanz habe. Diese stehe in keinem zeitlichen Konnex zu seiner Ausreise und es sei überhaupt zweifelhaft, ob dieser Vorfall stattgefunden habe, zumal der BF kein Detailwissen zur Lösegeldsumme und den Grund der Entführung gehabt habe. Auffallend sei noch gewesen, dass sich die Entführer danach nie wieder gemeldet hätten. Ebenso sei es nicht glaubhaft gewesen, dass der BF mehr als zwei Wochen zuwarten würde, um sich nach seiner Freilassung in ärztliche Behandlung zu begeben. Gegen die vom BF vorgebrachte Zwangsrekrutierung würde jedenfalls mit Kabul eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehen, zumal die Stadt nicht im Machtbereich der Taliban sei. Ebenso habe der BF hierbei Angaben getätigt, die nicht für eine Glaubwürdigkeit sprechen würden, zumal der BF nicht gewusst hätte, welche Summe Geld dem Vater seitens der Taliban geboten worden sei und er in der Erstbefragung angegeben habe, dass er keinen Kontakt zu seinem Vater habe, er jedoch in der Einvernahme gewusst habe, dass dieser in Pakistan sei. Daher müsse davon ausgegangen werden, dass die Fluchtgeschichte ein gedankliches Konstrukt sei. Bezüglich der Stellungnahme müsse festgehalten werden, dass keine asylrechtlich relevante Gruppenverfolgung gegenüber den Hazara in Afghanistan vorliege und der BF in Kabul im Falle einer Rückkehr sehr wohl auf ein soziales Netzwerk zurückgreifen könne.

Eine Gefahrenlage im Sinne der Art.2 und 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Auch wenn eine Rückkehr in seine als volatil eingestufte Heimatprovinz nicht möglich sei, sei dem BF eine Rückkehr in Stadt Kabul zumutbar. Diese innerstaatliche Fluchtalternativen stünde ihm zur Verfügung, zumal er arbeitsfähig und arbeitswillig sei, er über Berufserfahrung und familiäre Anknüpfungspunkte verfüge. Ebenfalls könnten er auf Rückkehrhilfe zurückgreifen. Betreffend die Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.

6. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom XXXX ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

7. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 28.04.2017 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Verfahrens erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass die Behörde die Ermittlungspflicht verletzt und sie mangelhafte Länderfeststellungen getroffen habe.

Einerseits wären mangelhafte Feststellungen getroffen worden, weil dem Vorbringen den BF zu entnehmen gewesen sei, dass dem BF schon alleine aufgrund seiner Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit einer asylrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt sei. Andererseits wären die in den Bescheid eingeflossenen Länderfeststellungen mangelhaft gewesen, weil der BF in eine volatile Provinz zurückkehren müsste und er keine familiären Anknüpfungspunkte mehr dort hätte. Ebenso sei der afghanische Staat nicht in der Lage, dass er die Rechte der Kinder nachhaltig wahren könnte. Außerdem sei die Sicherheitslage sowohl in der Heimatprovinz des BF, als auch in Kabul sehr instabil. Da die afghanischen Behörden auch nicht ausreichend schutzfähig wären, stünde dem BF auch keine innerstaatliche Fluchtalternative im Falle seiner Rückkehr zur Verfügung.

Die Beweiswürdigung des bekämpften Bescheides sei ebenfalls mangelhaft gewesen, zumal die undetaillierten Angaben des BF dahingehend begründbar gewesen wäre, dass man dem BF die Lösegeldforderung kindgerecht verständlich erzählt habe und das Warten bis zum Aufsuchen eines Arztes dahingehend begründbar gewesen sei, dass die Familie gedacht habe, dass sich der Arm des BF auch so erholen werde. Mittlerweile könne der BF auch nicht mehr nach Afghanistan zurück, weil er sich westlich orientiert sei. Im Übrigen habe der BF keine Unterlagen von seinem Krankenhausaufenthalt mitnehmen können, weil er überhastet geflohen sei. Die divergierenden Angaben über den Aufenthalt seines Vaters wären auch begründbar, weil der BF zum Zeitpunkt der Erstbefragung noch kein Wissen über den Aufenthaltsort seines Vaters gehabt hätte.

Daher wäre im Vorbringen des BF eine erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund gegeben gewesen, zumal der BF aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und der Zugehörigkeit zur religiösen Minderheit der Schiiten in Afghanistan einer asylrechtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sei. Diese Anknüpfungspunkte würden durch seine Eigenschaft als Rückkehrer aus dem Westen ebenfalls noch verstärkt werden. Des Weiteren sei der BF auch einer Verfolgung durch die Taliban wegen einer unterstellten politischen Gesinnung ausgesetzt. Gegen die Weigerung des BF, nicht am Heiligen Krieg teilnehmen zu wollen, wären die staatlichen Behörden nicht ausreichend schutzfähig.

Ebenfalls habe sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert, sodass dem BF eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar sei. Daher hätte die belangte Behörde dem BF zumindest den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen. Der BF habe sich in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes gut integriert und stellte keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dar, weshalb die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklärt hätte werden müssen. Es wurde auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

8. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 03.05.2017 vom BFA vorgelegt. Es wurde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verzichtet und beantragt, das BVwG möge diese als unbegründet abweisen. Es wurde auch noch eine Stellungnahme dahingehend abgegeben, dass in der Beschwerde das Vorbringen dahingehend gesteigert worden sei, dass die Verwandten des BF diesen in Kabul nicht aufnehmen könnten. Damit werde offensichtlich nur bezweckt, dass mit unwahren Angaben ein Aufenthaltsstatus erzwungen werde. Im Falle einer Rückkehr hätte der BF jedenfalls die Möglichkeit Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

9. In den Jahren 2017 und 2018 erfolgten Urkundenvorlagen über die gesetzliche Vertretung des BF sowie die Vorlage von Schulzeugnissen. Die am 18.10.2018 ergangene Benachrichtigung von einer Anzeige des BF wegen des Verdachts der Vergewaltigung gem. § 201 StGB führte weder zu einer Anklageerhebung noch zu einer strafrechtlichen Verurteilung.

10. Mit Schreiben vom 15.12.2020 erging die Vollmachtsbekanntgabe, dass der BF nun in gegenständlichem Verfahren von RA Maga. Nadja LORENZ rechtsfreundlich vertreten werde.

11. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.02.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache vom bisher zuständigen Gerichtsabteilung (W258) abgenommen und der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.

12. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 06.07.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ebenso wie seine bevollmächtige Vertretung und ein Vertreter der belangten Behörde persönlich teilnahmen.

Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Nachdem die Parteien auf das Verlesen der Aktenteile verzichteten, erklärte der erkennende Richter diese Aktenteile zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der hier zu Grunde liegenden Niederschrift. Danach erfolgte die vorläufige Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in seinem Herkunftsstaat, auch unter der Berücksichtigung von COVID-19. Diese bestritt der BF. Danach legte er ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor und gab an das Sprachzertifikat B1 zu haben. Sein Vater sei mittlerweile wieder bei der Familie in Kabul zu Hause, sein Bruder lebe derzeit in der Türkei. Danach vermeinte die Rechtsvertretung, dass beim BF auch seine westliche Orientierung bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen sei.

Der BF führte aus, dass er im bisherigen Verfahren immer die Wahrheit gesagt habe. Er habe sonst keine Neuigkeiten aus seinem Heimatland, jedoch habe er nun wieder ein gutes Verhältnis zu seiner Tante.

Die Länderfeststellungen wurden auch in Bezug auf eine mögliche Rückkehr des BF nach Afghanistan bestritten.

Bezugnehmend auf die Integration des BF wurde seitens der Rechtsvertretung festgehalten, dass diese außergewöhnlich sei, denn er sei als 15-jähriger gekommen und spreche sehr gut Deutsch. Er habe auch schon zahlreiche ehrenamtliche Tätigkeiten übernommen und habe ein Familienleben zu seiner leiblichen Tante und deren Familie. Er sei auch Unterstützer eines Basketballvereins.

Der BF gab an, dass er seine Tante ein- bis zweimal pro Monat sehe und sie von seinem Onkel geschieden sei. Festgehalten wurde ebenfalls, dass der BF ausgezeichnet Deutsch spreche. Er habe seinen Tagesablauf in eigenen Worten ausführlich auf Deutsch geschildert. Er vermeinte, dass er eine Lehre als Elektriker oder Installateur machen wolle und er bereits ein Angebot habe. Er wolle auch den Führerschein machen und eine Familie gründen. Angesprochen auf den Vorfall mit einem Mädchen aus dem Jahr 2018 vermeinte der BF, dass er nicht gewusst hätte, dass dieses Probleme gehabt habe. Sie hätten sich einige Zeit geschrieben und dann wie ausgemacht getroffen. Sie hätten dann in einem Wald den Geschlechtsverkehr vollzogen, weil sie zwei Stunden alleine gewesen wären. Er habe das Mädchen, wie von der Mutter gewollt, rechtzeitig wieder zum Bahnhof gebracht. Kurz Zeit später sei er vom Vater des Mädchens angerufen worden. Er habe ihm mit einer Anzeige gedroht. Der BF sei dann von der Polizei kontaktiert worden. Dies habe ihn befragt und sein Handy einen Monat einbehalten. Das Verfahren sei am 29.10.2018 seitens der Staatsanwaltschaft eingestellt worden. Das Mädchen habe ihm geschrieben, dass sie Sex wolle und er habe nicht gewusst, dass sie geistig beeinträchtigt gewesen sei. Er habe danach noch eine Freundin gehabt, aber er mache gerne Sport und gehe gerne arbeiten. Die meisten Mädchen würden aber lieber Alkohol trinken und rauchen und dies wolle er nicht. Nach der Absolvierung des Pflichtschulabschlusses habe er unter Woche täglich als Freiwilliger in einem SOS Kinderdorf gearbeitet. Derzeit bereite er sich auf die Sprachprüfung B2 vor. Mit seiner Familie habe er mehrmals im Monat Kontakt.

Der BF bestätigte auf Frage des Behördenvertreters, dass die Angaben zu seiner Person richtig wären und die Rechtsvertretung habe um eine Gewährung einer Frist zur Abgabe einer ergänzenden schriftlichen Stellungnahme gebeten. Diese wurde mit zwei Wochen gewährt.

Danach folgte der Schluss der mündlichen Verhandlung. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.

13. Mit Schreiben vom 23.07.2021 wurde dem BVwG ein Strafantrag der Finanzpolizei vorgelegt. Es erging ein Strafausmaß von € 2.000,- für eine Beschäftigung des BF in der Zeit von 19.08.2020 bis zum 01.10.2020, für die es einer arbeitsrechtlichen Bewilligung nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz bedurft hätte.

14. Mit Schreiben vom 27.07.2021 gab die Rechtsvertretung des BF eine Stellungnahme ab und legte weitere Urkunden vor. In dieser wurde zuerst dargelegt, dass sich der BF im Zuge seines über fünfjährigen Aufenthaltes integriert habe und der Ausspruch einer Rückkehrentscheidung auch unzulässiger Weise in das Privatleben des BF eingreifen würde, weil der BF ein Familienleben mit seiner leiblichen Tante habe. Zwar habe dieser kein Abhängigkeitsverhältnis zu dieser, sodass von keinem Familienleben nach Art. 8 EMRK gesprochen werden könne, jedoch könne das Privatleben zu seiner Tante, die als Asylberechtigte über ein dauerhaftes Niederlassungsrecht verfügen würde, und deren Kinder, die bereits österreichische Staatsbürger wären, in Falle seiner Rückkehr nicht aufrechterhalten werden.

Zur aktuellen Situation in Afghanistan sei erwähnt, dass sich die Sicherheitslage verschlechtere, zumal die Taliban nach dem Abzug der US-Truppen auf dem Vormarsch wären und bereits zahlreiche Gebiete erobert hätten. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen müsse dies die Gewährung von subsidiären Schutz nach sich ziehen. Des Weiteren wurde noch einmal auf die sehr guten Integrationsschritte und die privaten Bindungen des BF im Bundesgebiet sowie die überdurchschnittlich lange Verfahrensdauer hingewiesen, sodass der BF alle Voraussetzungen zur Erlangung der „Aufenthaltsberechtigung plus“ erfülle.

15. Auf Anfrage der Rechtsvertretung vom 30.09.2021, ob diese aufgrund der drastischen Verschlechterung der Versorgungs- und Sicherheitslage in Afghanistan noch die Möglichkeit zur Abgabe einer ergänzenden Stellungnahme erhalte, wurde dieser – unter dem Hinweis der Bearbeitung dieser Rechtssache – eine zweiwöchige Frist zu Abgabe eingeräumt.

16.Der BF legte im Laufe des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Schulbesuchsbestätigungen

?        Bestätigungen über die Vorbereitung zum Pflichtschulabschlusslehrgang

?        Betreuungsbericht der gesetzlichen Vertretung

?        Obsorgebeschluss eines Bezirksgerichts und Vertretungsvollmacht

?        Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung

?        Zahlreiche Bestätigungen über die Durchführung diverser gemeinnütziger Tätigkeiten

?        Zahlreiche Referenz- und Empfehlungsschreiben

?        Zwei Einstellungszusagen

?        Parteiengehör beim AMS

?        Medizinische Unterlage (stationäre Aufenthalt nach Abszessbildung)

?        Zeugnis über die Integrationsprüfung (Niveau B1)

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und gehört der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und gesund.

Der BF wurde nach seinen Angaben im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , in der Provinz Parwan, wo er bis zu seiner erstmaligen Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2015 lebte. In seinem Heimatland hat der BF insgesamt eine achtjährige Schulbildung durch Heimunterricht erhalten und Berufserfahrung in der familieneigenen Landwirtschaft gesammelt. Er hat Kontakt zu seiner in Kabul lebenden Familie. In der Türkei lebt ein Bruder des BF. In Österreich ist seine aufenthaltsberechtigte Tante und deren Familie aufhältig. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF ist in Österreich bislang strafrechtlich unbescholten. Der BF war in seinem Heimatland nicht inhaftiert, hatte in seinem Herkunftsstaat keine Probleme mit Behörden und war dort politisch nicht aktiv.

Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2015 über Iran und auf dem Landweg auf das Gebiet der EU eingereist. Am 06.09.2015 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF stellte am 06.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er vor zwei Jahren von unbekannten Männern entführt und zusammengeschlagen worden sei. Er sei gegen Zahlung von Lösegeld freigekommen. Die Taliban hätten dann zuletzt von seinem Vater verlangt, dass sich der BF und sein Bruder den Taliban anschließen hätten sollen. Sein Vater habe sich geweigert und sei zu einem Angriff gekommen. Seither wisse er nichts mehr über den Verbleib seiner Familie. Er sei zuerst nach Ghazni geflohen. Dort sei die Sicherheitslage dort auch schlecht gewesen, sodass sein Onkel ihn fortgeschickt und die Familie des BF nach Kabul gebracht hätte. Im Falle seiner Rückkehr befürchte er, getötet zu werden.

Es wird festgestellt, dass der BF weder seitens einer Privatperson noch von einer regierungsfeindlichen Gruppierung bedroht bzw. gesucht wird. Ebenso wird der BF nicht von der Regierung oder den Taliban oder einer Privatperson gesucht bzw. bedroht.

Der BF wurde weder von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung noch von sonstigen Privatpersonen entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht. Der BF wurde seitens der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen, die ihn suchen würden.

Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung durch eine Privatperson bzw. einer regierungsfeindlichen Gruppierung oder durch die Regierung oder durch die Taliban ausgesetzt ist.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch andere Personen oder die Regierung.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara oder einer sonstigen sozialen Gruppe konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.

1.3.    Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dem BF ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.

Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat würde diesem daher auch ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), drohen.

1.4.    Zum Leben in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 06.09.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 06.09.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF hat mit seiner aufenthaltsberechtigten Tante und deren Familie weitere Familienangehörige in Österreich. Beim BF finden sich jedoch keine besonderen Merkmale zur einer Abhängigkeit zu diesen oder anderen im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigten Personen.

Der BF pflegte in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Afghanen. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Er hat aber soziale Bindungen geknüpft und das soziale Verhalten des BF in der Gesellschaft wird durch eine Vielzahl Referenzschreiben belegt, wo der BF als hilfsbereit, freundlich und fleißig wahrgenommen wird. Aus dem regelmäßigen Kontakt zur Familie seiner Tante ist kein schwerwiegender Eingriff in das Privatleben des BF zu sehen, dass alleine deswegen die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklärt werden müsse, weil der BF dieses Familienleben im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland nicht mehr fortsetzen könnte.

Der BF besuchte zahlreiche Deutschkurse und konnte dies auch durch Teilnahmebestätigungen und Zertifikate bestätigen sowie seine Sprachkenntnisse in der mündlichen Verhandlung unter Beweis stellen. Er ist daher in der Lage, bei klarer Standardsprache über vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. auf Deutsch zu reden. Darüber hinaus kann er über Erfahrungen und Ereignisse berichten, Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben und zu Plänen und Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen geben.

Der BF kann sowohl zahlreiche Bestätigungen für die Durchführung gemeinnütziger Tätigkeiten als auch eine Einstellungszusage vorlegen, sodass dem BF auch attestiert werde kann, dass er sehr arbeitswillig ist. Er hat sich sohin in sprachlicher, privater und beruflicher Hinsicht im Zuge seines sechsjährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet gut integriert. Der BF ist allerdings weder selbsterhaltungsfähig noch in einem arbeitsrechtlichen Dienstverhältnis gestanden. Eine wirtschaftliche Integration ist dem BF noch nicht gelungen.

Im Strafregister der Republik Österreich scheint keine strafrechtliche Verurteilung des BF auf. Er ist unbescholten. Die lange Verfahrensdauer ist dem BF in keiner Weise anzulasten.

1.5.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 16.09.2021:

COVID-19

Letzte Änderung: 16.09.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Politische Lage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

Letzte Änderung: 16.09.2021

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).

Abzug der Internationalen Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afg

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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