Entscheidungsdatum
28.10.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W177 2155599-1/23E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH – Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom XXXX , Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.07.2021, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 03.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen der am 04.10.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, er stamme Kabul, wo er auch geboren worden sei. Er habe eine neunjährige Schulbildung erhalten, jedoch keine Berufsausbildung und zuletzt als Security gearbeitet. Er gehöre der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an und sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Muttersprache sei Dari. Seine Eltern, seine beiden Brüder und seine drei Schwestern würden in Kabul leben, wo er sich vor seiner Ausreise ebenfalls aufgehalten habe. In Österreich und der EU habe er keine Verwandten. Er habe Afghanistan schlepperunterstützt via Dubai und Moskau per Flugzeug verlassen. Von Moskau aus sei er auf den Landweg über ihn unbekannte Länder nach Österreich gelangt. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er sei Heimatland verlassen habe, weil ihn die Taliban wegen seiner Beschäftigung als Security bedroht hätten. Er habe als Leibwächter gearbeitet und die Taliban hätten von ihm gewollt, dass die zu schützende Person töte. Er habe sich geweigert und danach Todesdrohungen gegen seine Person und seine Familie erhalten. Aus diesem Grund habe er Afghanistan verlassen. Im Falle seiner Rückkehr sei sein Leben in Gefahr. Eine Verfolgung seitens der Regierung verneinte er.
3. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 20.07.2016 gab der BF nach eingehender Belehrung an, dass es jetzt 26 Jahre alt sei. Er legte eine Tazkira und afghanische Dokumente über seinen Staatsdienst sowie eine Teilnahmebestätigung an einem Deutschkurs vor. Seinen Ausweis über den Staatsdienst habe er nicht im Original, weil diesen sein Vater nach seiner Ausreise zurückgegeben habe.
Er sei ledig und afghanischer Staatsangehöriger. Er sei tadschikischer Volksgruppenzugehörigkeit und Moslem, sunnitischer Glaubensrichtung. Seine Eltern, zwei Schwestern und zwei Brüder würden noch in Kabul leben. Eine Schwester sei in Indien, weil sie ein Stipendium erhalten habe. Er habe zuletzt Kontakt mit seiner Mutter gehabt. In Österreich habe er keine Verwandte. In Österreich lebe er von der Grundversorgung. Er sei unbescholten, besuche einen Deutschkurs und treffe sich mit Freunden. Er besuche keine Schule und sei kein Mitglied in einem Verein. In Afghanistan habe er neun Jahre die Schule besucht und in den letzten zehn Jahren vor seiner Ausreise als Verkäufer und im Staatsdienst gearbeitet. Als Wachmann im Staatsdienst habe er zwei Jahre vor seiner Ausreise zu arbeiten begonnen. Anfangs sei er eingeschult worden. Er führte an, dass er auch bewaffnet gewesen sei und seine Waffe die Kalaschnikow 1000 gewesen wäre. Er sei für die Bewachung eines namentlich genannten und hohen Mitgliedes der Regierung zuständig gewesen. Er sei von zirka 100 Personen bewacht worden, wobei er auch seine eigenen Leibwächter gehabt hätte. In seiner Abteilung wären drei Personen gewesen. Seine Abteilung habe im Schichtdienst gearbeitet. Innerhalb der Abteilung sei im Dienst immer nach vier Stunden gewechselt worden. Er habe Regierungsleute und Parlamentarier bewacht. Es habe eine Liste gegeben, wo, wann und wer bewacht werden hätte sollen. Er selbst sei in seinem Heimatland jedoch nicht politisch aktiv oder Mitglied einer politischen Partei gewesen. Er habe auch keine Probleme mit staatlichen Behörden gehabt.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass unbekannte Gruppen gewollt hätten, dass er Geld bekomme, wenn er eine Autobombe im Auto von XXXX platziere. Er habe die Anrufer bei diesem Gespräch geschimpft und sei nicht auf dieses Angebot eingegangen. Danach sei er auf einer Hochzeit gewesen und gegen 23 Uhr hinausgegangen, wo er von drei vermummten Personen in ein Auto gezogen worden sei. Ihm sei eine geladene Waffe auf die Stirn gehalten worden und man habe ihm gesagt, dass es seine letzte Chance sei. Er werde demnächst einen Anruf erhalten und solle danach nach Pakistan gehen. Dies habe er danach seinem Vater erzählt, der danach seine Ausreise organisiert hätte.
Woher sie seine Nummer gehabt hätten, wisse er nicht. Über das Telefonat, das sich eine Woche vor dem eben geschilderten Übergriff zugetragen habe, wisse er auch nichts Genaueres. Er habe danach seine SIM-Karte weggeschmissen. Auf Nachfrage, den Übergriff detailliert zu schildern, führte der BF aus, dass er zuvor einen Faustschlag verpasst bekomme habe und die Person auf dem Vordersitz die Waffe durchgezogen habe. Dieser habe einen paschtunischen Akzent gehabt. Er habe Angst gehabt und in dieser Situation zugestimmt, dass er den Anschlag durchführen werde.
Danach sei er aus dem Auto geschmissen worden und mit einem Taxi nach Hause gefahren. Etwa zehn Tage später sei er dann in ein Flugzeug gestiegen und habe Afghanistan verlassen. Auf der Hochzeit wären etwa 1000 Menschen gewesen. Bei diesem Übergriff wären drei Autos gekommen. Die Marke des Fahrzeuges, in das er gezerrt worden wäre, könne er nicht nennen, weil dunkel gewesen sei. Es aber sei aber schwarz und gepanzert gewesen. Die Bedroher hätten ihre Gesichter verhüllt gehabt. Einer von ihnen hätte eine Glatze gehabt.
Insgesamt wären 60 bis 70 Personen von seiner Präsidialabteilung getötet worden. An einen anderen Ort Afghanistans hätte er nicht gehen können, weil es nicht eine kleine Gruppe von Mafiosi gewesen wäre, die ihn terrorisiert hätte. Auch wenn er nicht wisse, wer diese Personen gewesen wären, müssten diese schon alleine wegen der Autos sehr einflussreich sein. Im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan würden sie sofort die Tat an ihm verüben.
Danach wurde dem BF mitgeteilt, dass sein Vorbringen als nicht glaubhaft gemacht erachtet werde und auch keine Anhaltspunkte für die Gewährung von subsidiärem Schutz oder der Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung gegeben wären.
4. Bei einer weiteren Einvernahme vor dem BFA am 03.02.2017 gab der BF an, dass er gesund und unvertreten sei. Er sei in Kontakt mit seiner Familie. Es habe sich nichts verändert, jedoch sei die Familie innerhalb Kabuls wegen der hohen Miete umgezogen und die Sicherheitslage sei schlechter geworden. Er betreibe in Österreich viel Sport und lerne Deutsch. Seine bisherigen Angaben zu seinen Fluchtgründen würden der Wahrheit entsprechen. Diese müsse er nicht mehr ergänzen. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan drohe ihm Gefahr von einem von Pakistan aus operierenden Netzwerk. Seitens staatlicher Behörden gehe keine Gefahr für den BF aus.
5. Mit Bescheid vom XXXX wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde festgehalten, dass das Vorbringen des BF in keiner Weise glaubwürdig gewesen sei. Der BF konnte nur oberflächliche Angaben zu seinem Werdegang machen, wobei er nicht einmal angeben habe können, wann er die Schule abgeschlossen habe. Auch zu seiner Beschäftigung beim Staatsdienst habe der BF nur oberflächliche Angaben über seine Ausbildung, seine Dienststellen und seine Tätigkeit an sich gemacht. Ebenso habe er keine näheren Angaben zu seiner Dienstwaffe machen können und seine Beschreibung über den hochrangigen Politiker, den er zu bewachen gehabt hätte, sei völlig vage und oberflächlich gewesen. Der BF sei auch näheren Ausführungen zu den Personen, die er zu bewachen gehabt hätte oder seinen Kollegen schuldig geblieben, sodass er den Eindruck vermittelt habe, dass er nicht über mehr Wissen verfüge, als ein afghanischer Durchschnittsbürger. Auch aufgrund seiner oftmals ausweichenden Antworten sei das Vorbringen in keiner Weise glaubhaft gewesen. Auf den vorgelegten Fotos würde es so wirken, als würde der BF posieren, was den Rückschluss nach sich ziehe, dass diese Momente etwas Besonderes für den BF gewesen wären. Abgesehen davon habe sich der BF auch dahingehend widersprochen, in der er in der Erstbefragung ausgeführt habe, dass er von den Taliban bedroht werde, er dann jedoch angab, dass er von einer mafiösen Gruppierung bedroht werde. Über dieser Gruppierung habe der BF auch keinerlei konkrete Angaben machen können. Auch habe er keine näheren Angaben zu den bedrohenden Personen noch über die erhaltenen Telefonanrufe machen können. Der fluchtauslösende Vorfall bei einer Hochzeit sei ebenfalls nur skizzenhaft dargestellt worden, wobei es auch unlogisch sei, dass die drei Autos gerade vorfahren haben können, wie er die Hochzeit verlassen habe, obgleich es einerseits dunkel gewesen sei andererseits sich dort 1000 Leute aufgehalten hätten. Dass sich der BF danach noch zehn Tage bei seinen Eltern aufgehalten und sich nicht versteckt habe, sei ebenfalls nicht der Lebenserfahrung entsprechend, wenn der BF tatsächlich diesen Bedrohungen ausgesetzt gewesen sei. Es sei offensichtlich, dass der BF in Ruhe Ausreisevorbereitungen vorgenommen habe. Ebenso sei es ein Indiz der Unglaubwürdigkeit seines Vorbringens, dass der BF sich bei Telefonaten mit seinen Angehörigen nur nach deren Befinden erkunde, jedoch sich nicht über die behauptete Bedrohungssituation mit ihnen unterhalte. Aus diesen Gründen seien sowohl die Tätigkeit als Leibwächter für prominente Regierungsmitglieder als auch das Fluchtvorbringen zur Gänze unglaubwürdig.
Eine Gefahrenlage im Sinne der Art.2 und 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Eine Rückkehr in seine Heimatprovinz sei ebenfalls möglich sei, zumal der BF bei einer Rückkehr in Stadt Kabul über familiäre Anknüpfungspunkte verfüge. Ebenso sei der BF gesund, und arbeitsfähig und verfüge über eine profunde Schulbildung und jahrelange Berufserfahrung. Ebenfalls könnten ihn seine Verwandten finanziell und mit Wohnraum unterstützen. Unabhängig davon könnte der BF auch alleine aufgrund der Rückkehrhilfe im Falle seiner Rückkehr wieder Fuß in der afghanischen Gesellschaft fassen. Betreffend die Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.
6. Mit Verfahrensanordnung vom 19.04.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom XXXX ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.
7. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 27.04.2017 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung in vollem Umfang erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass die Behörde in ihrem Bescheid die Verfahrensvorschriften verletzt habe, weil sie ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren durchgeführt und mangelhafte Länderberichte einbezogen hätte. So habe die belangte Behörde ihre abweisende Entscheidung lediglich auf vage und oberflächliche Angaben und unzureichende und veraltete Länderberichte gestützt. Dem Vorbringen des BF sei zu entnehmen gewesen, dass er unter die Risikoprofile der Personen, die mit der Regierung zusammengearbeitet hätten und zu den Personen, die aus Sicht der regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen islamische Werte verstoßen hätten. Ebenso habe sich die Sicherheitslage in Afghanistan zuletzt drastisch verschlechtert, wobei beim BF noch zusätzlich der Vulnerabilitätspunkt der Rückkehrer nach Afghanistan zutreffen würden, zumal sich deren Situation in den letzten Jahren aufgrund mangelnder Aufnahmekapazitäten verschlechtert hätte.
Die belangte Behörde habe auch eine mangelhafte Beweiswürdigung getätigt, zumal der BF sein Vorbringen konsistent und nachvollziehbar geschildert habe. Die belangte Behörde habe sich ihrerseits nur auf Mutmaßungen gestützt, die nicht geeignet gewesen wären, dem BF die asylrechtliche Relevanz seines Vorbringens abzusprechen. Auch sei es in Afghanistan üblich, dass man für eine mafiöse Gruppierung den Begriff Taliban verwenden würde. Ebenfalls habe sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert, sodass dem BF eine Rückkehr nach Kabul, nicht zumutbar sei. Daher hätte die belangte Behörde dem BF zumindest den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen. Der BF habe sich in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes gut integriert und stellte keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dar, weshalb die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklärt hätte werden müssen. Es wurde auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
8. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 02.05.2017 vom BFA vorgelegt. Es wurde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verzichtet und beantragt, das BVwG möge diese als unbegründet abweisen.
9. Mit Schreiben vom 28.08.2019 wurde dem BF mit Bescheid des AMS eine Beschäftigungsbewilligung als Erntehelfer für die Zeit vom 01.09.2019 bis zum 12.10.2019 erteilt. Mit Schreiben vom 06.08.2020 legte der BF ein Bestätigungsschreiben die Lohnzettel über diese Tätigkeit vor.
10. Mit Schreiben vom 09.12.2020 erging seitens des BF eine Urkundenvorlage. Neben Bildern, die die Leiche des Onkels des BF zeigen sollen, der bei einem Anschlag als Fahrer für ein Regierungsmitglied, für das der BF ebenfalls gearbeitet hätte, getötet worden sei. Dem BF gehe es psychisch zusehends schlechter, sodass er für Jänner 2021 die Zusage für eine Psychotherapie erhalten habe.
11. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.02.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache vom bisher zuständigen Gerichtsabteilung (W253) abgenommen und der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.
12. Mit Schreiben vom 24.06.2021 wurde ein Empfehlungsschreiben vorgelegt.
13. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 01.07.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF, und eine Vertrauensperson persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete, wie bereits in der Beschwerdevorlage angekündigt, auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung. Aufgrund einer Vollmachtsauflösung vom 29.06.2021 nahm die bisherige bevollmächtige Vertretung, die BBU GmbH, ebenfalls nicht an der mündlichen Verhandlung teil.
Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Nachdem die Parteien auf das Verlesen der Aktenteile verzichteten, erklärte der erkennende Richter diese Aktenteile zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der hier zu Grunde liegenden Niederschrift. Danach erfolgte die vorläufige Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in seinem Herkunftsstaat, auch unter der Berücksichtigung von COVID-19.
Der BF führte aus, dass er im bisherigen Verfahren immer die Wahrheit gesagt habe. Er habe aber vergessen zu sagen, dass er nach diesem Vorfall im Spital gewesen sei, weil man ihm mehrmals ins Gesicht geschlagen habe und dies nicht im Protokoll stehen würde. Das beziehe sich auf den Vorfall bei der Hochzeit, wobei er es vergessen habe zu sagen, dass er sich danach ins Spital begeben habe. Aus Afghanistan gäbe es dahingehend Neuigkeiten, dass zweimal Leute gekommen wären und bei seinem Bruder nach dem BF gefragt hätten. Dies wisse er seit etwa einem Jahr. Warum er dies nicht gleich dem Gericht oder seinem Rechtsvertreter mitgeteilt habe, beantwortete er dahingehend, dass er bereits die Wahrheit gesagt habe und man ihm nicht geglaubt habe und er keinen Grund gesehen habe, dies mitzuteilen. Nachgefragt, warum er aber im Dezember 2020 Bilder mit seinem Onkel vorgelegt habe, meinte der BF, dass er beim Rechtsberater gewesen sei und dieser nachgefragt hätte, ob er Unterlagen dabeihätte. So habe er die Fotos weitergegeben. Aufmerksam gemacht, dass er eine Mitwirkungspflicht habe, vermeinte der BF, dass er gedacht hätte, dass es in Europa Gesetze geben würde. Man habe ihm nicht geglaubt, aber ohne Probleme hätte er sein Heimatland nicht verlassen.
Zu seinem Werdegang befragt, führte der BF aus, dass er neun Jahre in die Schule gegangen sei und er danach in diversen Unternehmen seiner Angehörigen mitgeholfen habe. Im Jahr 2013 sei er dann in den Staatsdienst eingetreten und habe für die Regierung gearbeitet. In den zwei Jahren im Staatsdienst sei er anfangs eingeschult worden, wie die Bewachung der Regierungsmitglieder zu erfolgen habe. Als Waffe habe er eine Kalaschnikow 1000 gehabt. Seine Aufgabe sei es gewesen hochrangige Politiker, insbesondere XXXX , und deren Gäste zu bewachen. Er sei für die Bewachung der Personen in einem bestimmten Gebäudekomplex eingeteilt gewesen.
Die Hochzeit habe nichts mit seiner Arbeit zu tun gehabt. Bei dieser hätten weitschichtige Verwandte geheiratet. Es sei eine Hochzeit mit etwa 1000 Personen gewesen. Er sei von gepanzerten Fahrzeugen mit einer großen Antenne entführt worden.
Es stimme auch, dass von seiner Abteilung etwa 70 Personen getötet worden wären. Dies erfolgte bei einem Anschlag, der sich nach seiner Ausreise aus Afghanistan ereignet hätte. Danach führte der BF aus, dass er nichts mehr ergänzend anzugeben habe und legte ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor.
Nach der Evaluierung seiner Situation im Falle der Rückkehr erfolgte der Schluss der mündlichen Verhandlung. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.
14. Mit Schreiben vom 08.07.2021 gab die Rechtsvertretung des BF, die BBU GmbH, unter Vorlage einer erneuten Vertretungsvollmacht, eine Stellungnahme ab. In dieser führte sie einen Verfahrensfehler an, weil der BF in der mündlichen Verhandlung unvertreten gewesen sei. Neben der Vorlage von integrationsbegründenden Urkunden wurde noch eine Stellungnahme zur aktuellen Situation in Afghanistan abgegeben. Aufgrund der Entwicklungen wäre dem BF derzeit keine innerstaatliche Fluchtalternative in eine afghanische Großstadt zumutbar. Alleine die gegenwärtige allgemeine Lage stünde einer Rückkehr in das afghanische Staatsgebiet entgegen, zumal der BF als Rückkehrer ein weiteres Vulnerabilitätsmerkmal aufweise. Ebenfalls wurde die erneute Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
15. Mit Schreiben vom 30.08.2021 gab die Rechtsvertretung des BF in einem ergänzenden Vorbringen bekannt, dass sich aufgrund des Abzuges der internationalen Truppen und der einhergehenden Machtergreifung der Taliban, die derzeitige Sicherheitslage eine Rückführung des BF unzumutbar erscheinen lassen. Ebenso habe der BF erfahren, dass sein Bruder im Juli 2021 von den Taliban ermordet worden sei.
16. Der BF legte im Laufe des Verfahrens folgende Dokumente vor:
? Afghanische Tazkira
? Zahlreiche Urkunden über den afghanischen Staatsdienst
? Bilder, die den BF bei seiner beruflichen Tätigkeit in Afghanistan zeigen
? Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen
? AMS-Bescheid über den Erhalt einer Beschäftigungbewilligung als Erntehelfer
? Bestätigung und Lohnzettel über die Tätigkeit als Erntehelfer
? Bilder aus Afghanistan, die einen Anschlag zeigen
? Zahlreiche Stellungnahmen sowie Empfehlungs- und Unterstützungsschreiben
? Einstellungszusage
? Berichte über die afghanische Präsidentschaftswahl 2014 und XXXX
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.
1.1. Zum sozialen Hintergrund des BF:
Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und ist gesund.
Der BF wurde nach seinen Angaben in Kabul geboren, wo er bis zu seiner erstmaligen Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2015 lebte. In seinem Heimatland hat der BF insgesamt neun Jahre die Schule besucht und Berufserfahrung als Teppichknüpfer und Verkäufer gesammelt. Er hat regelmäßigen Kontakt zu seinen noch in Kabul aufhältigen Verwandten. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.
Der BF ist in Österreich bislang strafrechtlich unbescholten. Der BF war in seinem Heimatland nicht inhaftiert, hatte in seinem Herkunftsstaat keine Probleme mit Behörden und war dort politisch nicht aktiv.
Der BF hat Afghanistan nach seiner Ausreise im Jahr 2015 per Flugzeug über Dubai und Moskau verlassen, ehe er auf dem Landweg auf das Gebiet der EU einreiste. Am 03.10.2015 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF stellte am 03.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er sei Heimatland verlassen habe, weil ihn die Taliban wegen seiner Beschäftigung als Security bedroht hätten. Er habe als Leibwächter gearbeitet und die Taliban hätten von ihm gewollt, dass die schützende Person töte. Er habe sich geweigert und danach Todesdrohungen gegen seine Person und seine Familie erhalten. Aus diesem Grund habe er Afghanistan verlassen. Im Falle seiner Rückkehr sei sein Leben in Gefahr. Eine Verfolgung seitens der Regierung verneinte er.
Es wird festgestellt, dass der BF weder seitens einer Privatperson noch von einer regierungsfeindlichen Gruppierung bedroht bzw. gesucht wird. Ebenso wird der BF nicht von der Regierung oder den Taliban oder einer Privatperson gesucht bzw. bedroht.
Der BF wurde weder von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung noch von sonstigen Privatpersonen entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht. Der BF wurde seitens der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen, die ihn suchen würden.
Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung durch eine Privatperson bzw. einer regierungsfeindlichen Gruppierung oder durch die Regierung oder durch die Taliban ausgesetzt ist.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch andere Personen oder die Regierung.
Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Tadschiken oder einer sonstigen sozialen Gruppe konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.
Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:
Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.
Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.
Dem BF ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.
Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat würde diesem daher auch ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), drohen.
1.4. Zum Leben in Österreich:
Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 03.10.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 03.10.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der BF hat keine weiteren Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich keine besonderen Merkmale zur einer Abhängigkeit zu anderen im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigten Personen.
Der BF pflegte in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Afghanen. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Der BF hat zahlreiche soziale Kontakte in seinem Privatbereich geknüpft. Das soziale Verhalten des BF in der Gesellschaft wird durch eine Vielzahl Referenzschreiben belegt, wo der BF als hilfsbereit, freundlich und fleißig wahrgenommen wird.
Der BF besuchte zahlreiche Deutschkurse und konnte dies auch durch Teilnahmebestätigungen bestätigen. Er konnte keine Prüfungszertifikate vorlegen, sodass er bestenfalls in der Lage ist, auf elementarer Ebene in einfachen, routinemäßigen Situationen des Alltags- und Berufslebens auf Deutsch zu kommunizieren.
Der BF kann sowohl einen AMS-Bescheid für eine Beschäftigungsbewilligung als Erntehelfer und die Bestätigungen für die Durchführung dieser Tätigkeiten als auch eine Einstellungszusage vorlegen, sodass dem BF auch attestiert werde kann, dass er arbeitswillig ist. Jedoch ist beim BF noch nicht von einer dauerhaften Selbsterhaltungsfähigkeit auszugehen. Eine wirtschaftliche Integration ist dem BF noch nicht gelungen.
Im Strafregister der Republik Österreich scheint keine strafrechtliche Verurteilung des BF auf. Er ist unbescholten.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 16.09.2021:
COVID-19
Letzte Änderung: 16.09.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban
Letzte Änderung: 16.09.2021
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).
Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).
Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).
Abzug der Internationalen Truppen
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).
US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8