TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/2 W222 2151488-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.11.2021
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Entscheidungsdatum

02.11.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W222 2151488-1/12E


IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Obregon als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX auch XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein ZEIGE, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.03.2017, Zl. 1061357402 - 150366253, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.06.2021 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerden gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 01.11.2022 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 12.04.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Zu seinem Antrag wurde der Beschwerdeführer am 13.05.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und gab an, am XXXX in der Provinz XXXX , in Afghanistan geboren worden zu sein. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und sei sunnitischer Moslem. Er habe die Grundschule besucht und sei als Sanitäter tätig gewesen. In Afghanistan habe er in der Provinz XXXX gewohnt. Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, als Sanitäter gearbeitet zu haben. Die Bevölkerung habe aus nicht gebildeten Menschen, welche mit den Taliban zusammengearbeitet hätten, bestanden. Sie hätten den Beschwerdeführer verdächtigt, ein Spion zu sein, und hätten ihn als Geisel genommen. Sie hätten sein Handy beschlagnahmt, hätten die Nummer des Vaters des Beschwerdeführers gesucht, diesen angerufen und von ihm Geld oder Waffen gefordert, widrigenfalls sie den Beschwerdeführer töten würden. Da die Familie des Beschwerdeführers kein Geld gehabt habe, hätten sie den Beschwerdeführer nach zwei Tagen Folter freigelassen. Danach sei der Beschwerdeführer von diesen Taliban oft belästigt und bedroht worden. Ihm seien Nachrichten über seinen Vater geschickt worden, sie hätten wieder Waffen oder Geld gefordert und gedroht, den Beschwerdeführer wieder zu foltern. Der Beschwerdeführer habe mit seiner Familie gesprochen und sie hätten beschlossen, dass der Beschwerdeführer deshalb Afghanistan verlassen würde und nach Österreich zu fahren.

Da das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am vom Beschwerdeführer angegebenen Alter Zweifel hegte, gab das BFA eine Volljährigkeitsbeurteilung in Auftrag. Ein solches Gutachten wurde mit Schreiben vom 19.06.2015 erstattet. Dieses kommt zu dem Ergebnis, dass das „fiktive“ Geburtsdatum XXXX lautet.

Am 14.09.2016 wurde der Beschwerdeführer vor dem BFA niederschriftlich einvernommen… Dabei ergab sich folgendes (bereinigt von grammatikalischen und orthographischen Unzulänglichkeiten):

„F: Die anwesende Dolmetscherin ist (vom Einvernahmeleiter) als Dolmetscherin für die Sprache Dari bestellt und beeidet worden. Sind Sie dieser Sprache mächtig und damit einverstanden in dieser Sprache einvernommen zu werden?

A: Ja.

F: Haben Sie gegen eine der anwesenden Personen aufgrund einer möglichen Befangenheit oder aus sonstigen Gründen irgendwelche Einwände?

A: Nein.

[…]

F: Ich werde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich im Fall von Verständigungsschwierigkeiten jederzeit rückfragen kann. Fühlen Sie sich heute psychisch und physisch in der Lage, Angaben zu Ihrem Asylverfahren zu machen?

A: Ja, es geht mir gut.

F: Haben Sie im Verfahren bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht?

A: Ja.

F: Haben Sie heute weitere Beweismittel vorzulegen?

A: Ich lege heute meine Taskira vor, nachgefragt habe ich sie von meinen Verwandten per Post erhalten, vor ca. drei oder vier Monaten. Ich lege in Kopie auch ein Diplom vor, und einen Schulausweis vor; ich bin zwölf Jahre in die Schule gegangen. Das Original befindet sich zuhause in Afghanistan. In Kopie auch eine Bestätigung vor, die wäre dafür, dass ich an der Uni studieren hätte dürfen. Mein Vater war Arzt und ich habe ihm ein bisschen geholfen. Weiters lege ich einen Ausweis dafür vor; ein Dienstausweis; ich habe im XXXX gearbeitet, XXXX . Weiters lege ich eine Deutschkursbestätigung vor.

F: Was haben Sie dort gearbeitet?

A: Ich habe Imfpungen gegeben.

F: Haben Sie dafür eine Ausbildung gemacht?

A: Ich habe direkt in dem Krankenhaus einen Kurs besucht. Das waren zwei Wochen und dann hatte ich mehrere Weiterbildungen, wir haben aber fast alles in der Praxis gelernt.

F: Ihr Vater war dort ausgebildeter Arzt?

A: Ja, mein Vater ist auch der Direktor für die Abteilung der Krankenschwestern im Krankenhaus.

F: Übt Ihr Vater diese Tätigkeit immer noch aus?

A: Ich weiß es nicht, vor sechs oder sieben Monaten hatte ich versucht, meine Familie zu erreichen. Ich hatte niemanden erreicht aber einen Nachbarn, über Facebook; aber auch das funktioniert nun nicht mehr; er berichtete, mein Vater wäre nach Indien gegangen. Ich weiß aber nicht ob er noch dort ist. Ich weiß nicht, ob mein Vater meine Mutter mitgenommen hat. Ich denke, wenn er wirklich nach Indien gegangen ist, hätte er meine Mutter und meine Geschwister mitgenommen.

F: Haben Sie eine Idee warum ausgerechnet Indien?

A: Mein Vater musste weg, sie haben nach mir gefragt.

Die Frage wird wiederholt:

A: Ich weiß es nicht ich habe keine Ahnung.

F: Wo haben Sie im Herkunftsland gelebt? Bitte geben Sie die Adresse so genau wie möglich an:

A: XXXX ; ich habe mit meinen Eltern und Geschwistern dort gelebt. Meine Schwester XXXX ist 7 Jahre alt, mein Bruder XXXX ist 12. Vater: XXXX , Mutter: XXXX . Damals bei der Erstbefragung habe ich falsch gesagt, weil auf der Geburtsurkunde steht XXXX aber wir haben sie XXXX genannt.

F: Sie haben die Wohnadresse alleine verlassen und Ihre Eltern sind vorerst zurückgeblieben?

A: Ich habe sie alleine verlassen aber wie es mit meinen Eltern weiterging weiß ich nicht.

F: Wer hat Ihnen die heute vorgelegten Unterlagen geschickt? Sie sagten, Sie hätten sie von Verwandten erhalten?

A: Von meinem Cousin mütterlicherseits geschickt bekommen.

F: Wie kam der Cousin zu diesen Unterlagen?

A: Mein Vater hatte sie ihm gegeben, sie waren bei ihm.

F: Wann war Ihr letzter Kontakt zu Ihren Eltern?

A: Der letzte Kontakt war ungefähr vor sechs oder sieben Monaten. Jetzt habe ich kein Facebook mehr daher kann ich keinen Kontakt aufnehmen.

F: Wo waren Ihre Eltern damals aufhältig?

A: Vor sechs oder sieben Monaten hatte ich diese Informationen von meiner Familie. Ich habe auch damals nur mit meinem Cousin gesprochen.

F: Haben Sie noch Angehörige in Afghanistan, auch entfernte Verwandte?

A: Ich habe nur meinen Onkel mütterlicherseits in Afghanistan. Sie haben viel zu tun und sind mit sich selber beschäftigt. Der Onkel ist auch in XXXX , in der gleichen Ortschaft.

F: Welcher Volksgruppe gehören Sie an?

A: Ich glaube ich gehöre zur Volksgruppe der Tadschiken aus.

F: Haben Sie Afghanistan direkt von Ihrem Wohnsitz aus verlassen?

A: Ja.

F: Wann haben Sie Afghanistan verlassen?

A: Ich war von Afghanistan weg ein Jahr auf der Flucht.

F: Warum haben Sie Ihr Alter bei der Erstbefragung so deutlich jünger angegeben?

A: Ich weiß nur, dass ich in Afghanistan vorerst 17 war und ich wusste nicht, dass es so wichtig ist.

F: Wie war die wirtschaftliche Lage Ihrer Familie in Afghanistan?

A: Die war okay. Wir hatten ein Haus, das meine Mutter geerbt hatte.

F: Wurden Sie in Afghanistan jemals persönlich angehalten, festgehalten oder unmittelbar bedroht?

A: Sie haben mich zwei Tage als Geisel genommen.

F: Wen meinen Sie mit ‚die‘?

A: Es waren zwei oder drei Leute; sie hatten mich gefangen genommen. Sie haben auch Geld verlangt. Mein Vater hatte kein Geld gehabt und sie haben mich mit dem Messer verletzt. Ich kam dann zurück zu meiner Familie.

F: Wissen Sie wer diese Leute waren?

A: Das weiß ich nicht genau.

F: Sie gaben an, sich auf Ihrer Flucht ca, 6 Monate in Istanbul aufgehalten zu haben. Wie und wovon haben Sie dort gelebt?

A: Ich war in Istanbul, XXXX .

F: Welchen Status hatten Sie? Waren Sie als Flüchtling registriert?

A: Ich war illegal in Istanbul; ich habe dort zwei Monate als Schneider gearbeitet. Ich habe in einem Zimmer mit XXXX gewohnt. Ich habe nur mit ihm zusammengewohnt.

F: Wer ist das?

A: Ich weiß nicht wer er ist.

F: Sie haben ein halbes Jahr mit ihm gewohnt und wissen nichts über ihn?

A: Nein. Ich weiß nur, dass er ein Afghane ist. Er hat mir essen gebracht.

F: Was haben Sie sonst noch gemacht in Istanbul, Sie waren ja sechs Monate dort.

A: Ich war zuhause und bin spazieren gegangen.

F: Geld hatten Sie von zuhause noch?

A: Ich hatte selber auch Geld. Auch XXXX hatte mir geholfen.

F: Warum sind Sie nicht in der Türkei geblieben?

A: Mein Vater hatte das mit dem Schlepper so ausgemacht. Mein Vater hatte gemeint ich müsste weiter nach Westeuropa.

F: Gab es zu dem Zeitpunkt noch Kontakt zu Ihrem Vater?

A: Nein, ich hatte kein Telefon.

Bitte ergänzen Sie nun mit Ihren eigenen Worten Ihre persönlichen Fluchtgründe, die zum Verlassen des Herkunftslandes geführt haben:

A: Mein Vater hat öfters mit mir gesprochen. Er sagte, du bist mein ältester Sohn; die Leute haben Neid, weil du mit mir im Krankenhaus arbeitest. Er sagte, ich muss weg, er hätte Angst um mein Leben. Sie könnten mich umbringen.

F: Ist ‚die Leute‘ allgemein gemeint?

A: In XXXX sind die meisten Leute ungebildet und naiv. Sie hatten mich zwei Tage mitgenommen und dann hat er gemeint ich solle besser weggehen.

F: Hat man zuvor auch schon Neid erkennen können?

A: In dieser XXXX sind die Menschen so, die nehmen die anderen so wie mich als Geisel. Sie sind neidisch und ungut.

Bitte erzählen Sie genauer was passiert ist:

A: Direkt in XXXX ist es okay. Aber in den Ortschaften machen sie den Menschen, die ruhiger leben können Probleme. Deswegen hatte mein Vater Angst.

F: Also haben die meisten dort wirtschaftliche Probleme?

A: Ja.

Der Antragsteller wird aufgefordert, mehr und detaillierter zu erzählen.

A: Mein Vater meinte, das wären sicher Leute aus einer Ortschaft dort mitgenommen. Ich weiß nicht wer es war, ich weiß auch nicht, warum ich festgehalten wurde.

F: Das ist noch immer sehr oberflächlich. Bitte schildern Sie genau wann und wo Sie mitgenommen wurden, wo Sie festgehalten wurden, was genau passiert ist.

A: Es war eines Tages gegen neun Uhr. Ich musste die Kinder zu einem Platz zusammen nehmen wegen einer Impfung. Jemand sagte mir ich solle mitkommen. Ich kam zu einem Auto, da war eine Person drinnen. Sie haben mich mitgenommen, das war ein Zimmer mit einem ganz kleinen Fenster. Sie sagten, mein Vater würde nicht auf sie hören. Ich sagte, sie sollten meinen Vater bitte in Ruhe lassen. Ich war zwei Tage in einem kleinen dunklen Zimmer. Am Abend haben sie mich wieder zurück nach Hause gebracht. Einer sagte, sie könnten mich nicht einfach so zurückbringen, meine Familie hätte Geld. Der andere hat dann ein Messer genommen und mich am linken Arm verletzt. Die Narben habe ich immer noch. Nachgefragt ist das im Auto passiert. Einer war nervös und unruhig, er wollte mir was antun. Der andere wollte das nicht. Danach haben sie die Tür aufgemacht und mich aus dem Auto geworfen.

F: Wo war das?

A: Sechs oder sieben Häuser von unserem Haus entfernt.

F: Was ist dann weiter passiert?

A: Das war spät am Abend; ich glaube sie haben alle geschlafen. Ich bin zum Nachbarn. Der ist dann aufgewacht. Er ist mit mir zu meinem Vater, der hat mich dann ins Krankenhaus gebracht und behandelt.

F: Warum haben Sie beim Nachbarn und nicht gleich bei den Eltern geklopft?

A: Ich war zu schwach, hatte viel Blut verloren.

F: Waren Sie länger im Krankenhaus?

A: Ich war sieben Tage im Krankenhaus in XXXX , mein Vater hat mich dann zuhause auch noch gepflegt.

F: Als Sie mitgenommen wurden, waren das nur Männer?

A: Ja.

F: Konnten Sie irgendetwas erkennen?

A: Sie hatten einen Bart. Ich kann nicht so viel sagen.

F: Welches Auto war das?

A: Ein Corolla.

F: Wenn das um 09.00 Uhr in der Früh war, haben Sie sich nicht gewehrt?

A: Es hat niemand mitbekommen; sie haben mich ins Auto gebracht und sofort die Türe zugesperrt und mich mitgenommen.

F: Haben Sie nicht versucht, sich zu wehren?

A: Sie hatten sofort meine Hände zusammengebunden. Ich konnte nichts tun.

F: Haben Sie nicht geschrien?

A: Nein, zuerst nicht, im Auto, aber sie sind schnell losgefahren.

F: Können Sie mir über die Männer noch irgendetwas erzählen?

A: Ich kann mich nicht mehr erinnern. Die haben mit einem Tuch Mund und Nase versteckt.

F: Sie sagten zuvor ‚eines Tages‘. In welchem Zeitraum bis zur Flucht kann ich das verstehen?

A: Mein Vater sagte mir, wenn mein Arm besser wäre, nicht mehr eitrig wäre, solle ich Afghanistan verlassen. Er meinte, diesmal hätten sie mich so behandelt, das nächste Mal würden sie mich umbringen.

F: Wissen Sie ob diese Leute direkt mit Ihrem Vater Kontakt aufgenommen hatten?

A: Sie hatten ein Mal Kontakt mit meinem Vater. Sie meinten, sie sollten Geld geben oder…wir haben gezeigt was wir machen…das nächste Mal bringen wir ihn um.

F: Sind Sie ausgereist als die Wunden einigermaßen verheilt waren?

A: Ich bin noch ein bisschen dortgeblieben. Sie hatten noch einmal gesagt, er hätte gesehen, was passiert. Mein Vater hat einen guten Schlepper gesucht, inzwischen bin ich noch in Afghanistan geblieben.

F: Wie lange kann man sich unter einem bisschen vorstellen?

A: Ich war noch zwei Monate ca. dort, danach war ich in Kabul. Dann hatte mein Vater diesen Schlepper gefunden. Ich war auch zwei bis drei Monate bei diesem Schlepper, er hat nicht gesagt wo und in welchem Land wir waren.

F: Als Sie sich noch zuhause aufgehalten hatten, gab es da noch weitere Vorfälle?

A: Ich habe nichts mitbekommen. Aber mein Vater sagte, sie hätten noch einmal mit dem Vater gesprochen, er hätte gesehen, dass sie mich umbringen würden.

F: Wie oft haben diese Leute mit Ihrem Vater gesprochen?

A: Ich weiß nur von einem Mal. Nochmals nachgefragt war ich ca. ein bis zwei Monate noch zuhause. Dann ist es besser geworden. Nachgefragt war ich immer zuhause.

F: Da diese Leute wussten, wo Sie wohnen – sie hätten Sie ja nur ein paar Häuser von Zuhause aus dem Auto gelassen – hatten Sie da nicht Angst gefunden zu werden?

A: Das ist nicht so groß, die hatten alle gewusst wo wir wohnen.

F: Wie groß ist das, wie kann man sich das vorstellen?

A: Es ist wirklich klein, so ähnlich XXXX .

F: Sie gaben zuvor an, Afghanistan direkt von der Wohnadresse verlassen zu haben. Nun sagen Sie Sie wären in Kabul zwei Monate aufhältig gewesen. Wo waren Sie da?

A: Bezirk XXXX Familie. Das war ein Freund meines Vaters. Nachgefragt habe ich diesen Freund nicht gekannt.

F: Haben Sie sich immer in dieser Wohnung aufgehalten?

A: Mein Vater hat mir gesagt, du musst von hier weg. Bis du in einem sicheren Ort bist darfst du mit niemand reden. Erst wenn ich in einem sicheren Land ankomme.

F: Sie haben sich also immer in der Wohnung dort aufgehalten?

A: Ja, ich bin nur zum Rauchen hinausgegangen. Sonst war ich immer drinnen, auch nicht spazieren.

F: Haben Sie mit Ihrem Vater einmal über diese Leute gesprochen, ob er diese Leute gekannt hatte?

A: Mein Vater hat mit mir nicht so viel über diese Leute gesprochen. Er sagte nur, es sei etwas Schlimmes passiert und er hätte Angst um mein Leben.

F: Haben Sie nicht hinterfragt?

A: Nein.

F: Haben Sie mit Ihrer Mutter über das alles gesprochen?

A: Nein. Meine Mutter war sehr traurig wegen mir.

AW weint und macht eine kurze Pause.

F: Gab es noch weitere Fluchtgründe, wollen Sie etwas ergänzen?

A: Nein.

F: Wollen Sie noch irgendwelche Details angeben, die Ihnen wichtig erscheinen?

A: Für mich ist es nur wichtig, dass ich in Sicherheit bin. Ich möchte hier nur lernen, ein normales Leben anfangen und auch meiner Familie helfen.

F: Wie meinen Sie ‚meiner Familie helfen‘?

A: Die sollen glücklich sein, weil die machen sich sicher große Sorgen über mich.

F: Besuchen Sie einen Deutschkurs? Was machen Sie sonst noch?

A: Ein iranisches Mädchen hat mit uns gelernt. Sie kommt inzwischen nicht. Wir kochen auch zusammen in der XXXX .

F: Leben Sie mit jemandem in einer Lebensgemeinschaft oder haben Sie jemanden, der Sie unterstützt?

A: Ich lebe mit Freunden zusammen, ich bin auch von meiner Vertrauensperson betreut und eine weitere Dame.

F: Noch einmal zu Ihrer Anhaltung befragt: Sie sagten in der Erstbefragung, die Taliban hätten Ihnen dann mehrmals Nachrichten geschickt. Wie meinten Sie das? Davon haben Sie heute nichts erzählt?

A: In XXXX sind viele Talibangruppen aktiv. Deshalb habe ich gesagt, die Taliban. Ich weiß es aber nicht genau. Ich hatte, als ich bereits auf der Flucht war, von Freunden diese Informationen erhalten.

F: Haben Sie mit diesen Freunden jetzt Kontakt?

A: Nein. Auch mit niemand anderem in Afghanistan.

F: Warum funktioniert Facebook nicht?

A: Erst seit acht oder zehn Tagen funktioniert das nicht mehr.

Die Vertrauensperson gibt an, dass sie versuchen werden, wieder ein Facebookaccount herzustellen damit er wieder Kontakt hat.

F: Sie gaben damals an: ‚Sie forderten wieder Waffen oder Geld‘, davon sagten Sie heute nichts:

A: Sie forderten damals Geld und als mein Vater fragte, was sie damit machen wollten sagten sie, dass sie Waffen kaufen möchten.

F: Sie persönlich wurden aber nie angesprochen?

A: Nein.

F: Haben diese Männer mit Ihnen während Ihrer Festnahme auch nicht gesprochen?

A: Nur dieser Junge, der immer nervös war, hat mir Essen gebracht. Er hat nur die Tür aufgemacht und ist wieder weggegangen, richtig gesprochen hat er nicht mit mir.

F: Haben diese Männer neben ihnen gesprochen?

A: Nein, die waren draußen.

F: Haben Sie im Auto etwas mitbekommen?

A: Im Auto waren sie mit mir beschäftigt.

F: Können Sie angeben, welche Sprache sie gesprochen haben?

A: Manchmal haben sie Pashtu gesprochen, manche Farsi und Dari.

F: Sie hatten im Krankenhaus nur eine niedrige Tätigkeit ausgeführt. Ihr Vater eine sehr hohe Position, eine leitende. Wie erklären Sie sich, dass er bis dahin nicht bedroht wurde, sondern Sie mitgenommen wurden? Von Ihrem Vater hatten Sie keine vorherigen Probleme erzählt.

A: Ich weiß nur, dass mein Vater und ein Gynäkologe ein Mal mitgenommen wurden. Mein Vater wurde aber wieder freigelassen. Sie wissen aber, dass die Eltern immer besorgt sind um die Kinder, deshalb glaube ich dass sie mich mitgenommen haben. Mehr weiß ich aber nicht. Meinen Vater hat einen dieser Gruppe erkannt, deswegen wurde er freigelassen. Mein Vater dachte, es wären Taliban gewesen.

F: Wann war das?

A: Das weiß ich nicht.

F: Wissen Sie irgend etwas über die Taliban in Ihrer Region?

A: Ich weiß nichts darüber. Ich kenne nur einen namentlich, XXXX . Ich persönlich kenne ihn nicht.

F: Sie sprachen auch in der Erstbefragung davon, dass diese ungebildeten Leute meinen könnten Sie seien ein Spion. Wie meinen Sie das? Sie hatten ja nur diverse Hilfstätigkeiten im Krankenhaus durchgeführt?

A: Ich weiß es nicht, warum sie auf so eine Idee kommen könnten.

Der Antragsteller wird auf die Möglichkeit der Erläuterung der Länderfeststellungen hingewiesen aber verzichtet darauf.

F: Was hätten Sie bei einer theoretischen Rückkehr nach Afghanistan seitens der Regierung zu befürchten?

A: Seitens der Regierung habe ich nichts zu befürchten.

F: Können Sie Gründe vorbringen, die gegen eine Ausweisung aus Österreich sprechen?

A: Ich möchte hier ruhig und sicher leben, deshalb bin ich hierhergekommen. Dort war mein Leben in Gefahr, ich fühle mich hier wohl und möchte hierbleiben. Ich möchte auch arbeiten und eine Ausbildung machen.

F: Ich beende hiermit die Befragung. Haben Sie noch etwas zu ergänzen oder fragen?

A: Nein, ich möchte nur hierbleiben.

F: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?

A: Ich habe alles gut verstanden.

F: Wurde alles richtig protokolliert?

A: Ja.“

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 09.03.2017 zur Zahl 1061357402-150366253 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg. cit. ab (Spruchpunkt II.). Gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.), und gemäß § 55 Abs. 1?3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Beweiswürdigend wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Angaben des Beschwerdeführers im Hinblick auf die angebliche Bedrohung/Verfolgung seien sehr vage und keinesfalls nachvollziehbar. Nach mehrmaligen Nachfragen habe der Beschwerdeführer sogar angegeben, nicht persönlich bedroht oder verfolgt worden zu sein. Die Angaben des Beschwerdeführers seien insgesamt nicht glaubhaft gewesen, weshalb eine individuelle, konkret gegen den Beschwerdeführer gerichtete Gefahr einer Verfolgung in Afghanistan nicht abgeleitet werden könne. Es gebe auch weiters keine Hinweise dafür, dass der Beschwerdeführer bei der Rückkehr nach Afghanistan in eine existenzbedrohende Notlage geraten könnte. In seiner Heimatgemeinde seien Angehörige aufhältig. Darüber hinaus könne sich der Beschwerdeführer in Mazar-e Sharif, Herat oder Kabul niederlassen. Eine Rückkehrentscheidung sei zudem gerechtfertigt, zumal der Beschwerdeführer keine schützenswerten privaten oder sozialen Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet habe, eine Integrationsverfestigung in Österreich nicht festgestellt werden habe können, der Beschwerdeführer kein regelmäßiges Einkommen besitze und auf Unterstützung angewiesen sei, er zwar einen Deutschkurs besucht habe, aber die deutsche Sprache nicht beherrsche, er fast sein gesamtes Leben in Afghanistan verbracht habe, die Einreise ins Bundesgebiet unrechtmäßig erfolgt sei und der Aufenthalt ausschließlich aufgrund des laufenden Asylverfahrens legalisiert worden sei. Infolgedessen wurde eine Abschiebung nach Afghanistan als zulässig bewertet.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 18.03.2017 fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang.

Am 16.06.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist sunnitischer Moslem. Er ist ledig sowie kinderlos und seine Muttersprache ist Dari. Der Beschwerdeführer wurde spätestens XXXX in der Provinz XXXX geboren und hat zwölf Jahre eine Schule besucht. Der Beschwerdeführer hat mit seiner Familie, bestehend aus seinen Eltern, einer Schwester und einem Bruder, in der Provinz XXXX gelebt, wo der Beschwerdeführer als Sanitäter gearbeitet hat. Der Vater des Beschwerdeführers ist Arzt.

Der Beschwerdeführer hat Kontakt zu seinen Familienangehörigen in Afghanistan. Der Beschwerdeführer ist in einer afghanischen Familie in der XXXX aufgewachsen und sozialisiert worden und ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Vor seiner illegalen Einreise nach Europa hat der Beschwerdeführer sechs Monate in Istanbul gelebt, wo er zwei Monate als Schneider gearbeitet hat.

Der Beschwerdeführer ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellte am 12.04.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Er leidet an keiner schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheit und ist arbeitsfähig.

Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer aus den von ihm genannten Grund Afghanistan verlassen hat.

Dem Beschwerdeführer droht wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Tadschiken keine Verfolgung in Afghanistan.

Gründe, die eine Verfolgung oder sonstige Gefährdung des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, wurden vom Beschwerdeführer nicht glaubhaft gemacht.

Der Beschwerdeführer ist von den allgemeinen Sicherheitsmängeln in Afghanistan individuell nicht in höherem Maße betroffen, als andere dort aufhältige Personen. Afghanistan ist jedoch von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel auch die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Aktuell kontrollieren die Taliban das gesamte Land und es kommt zu schwerwiegenden Übergriffen von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen sowie Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen und grobe Menschenrechtsverletzungen umfassen.

Der Beschwerdeführer hätte im Fall einer Rückkehr in die Provinz XXXX aufgrund der dort auftretenden Sicherheitsprobleme mit einer ernstzunehmenden Gefahr für Leib und Leben zu rechnen, zumal die Erreichbarkeit der Provinz (etwa von Kabul aus) auf sicherem Weg nicht gewährleistet werden kann.

Der Beschwerdeführer ist Gesund und gehören mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Durch die COVID-19-Situation hat sich die wirtschaftliche Lage in Afghanistan angespannt, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen und besonders Familien sowie Gelegenheitsarbeiter sind von den wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Situation betroffen. Es sind auch die Preise für Lebensmittel erheblich gestiegen.

Der volljährige Beschwerdeführer ist in Afghanistan aufgewachsen und hat dort tragfähige und familiäre und außerfamiliäre Netzwerke, sowie Kontakt zu seiner Familie. Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig. Auch wenn der Beschwerdeführer aufgrund seiner Arbeitsfähigkeit, seiner Sprachkenntnisse, der in Österreich erlangten Fähigkeiten, seinem sozialen Netzwerk sowie der Unterstützung seiner Eltern durchaus Chancen hätte, sich am Arbeitsmarkt in den afghanischen Großstädten zu integrieren und dort eine Unterkunft zu finden, steht die derzeitige prekäre Sicherheitslage und Wirtschaftslage einer Rückkehr des Beschwerdeführers im Weg.

Im Falle einer Niederlassung des Beschwerdeführers in den Städte Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif oder sonst irgendwo in Afghanistan droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden. Es kann nicht mit der notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan landesweit dem realen Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist.

Die Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Der Beschwerdeführer ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und hält sich zumindest seit 12.04.2015 durchgehend in Österreich auf.

Im Bundesgebiet verfügt der Beschwerdeführer über keinerlei Familienangehörige, er ist ledig und hat keine Kinder oder Verwandte oder sonstige Personen, zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis besteht, er hat sich jedoch einen Bekanntenkreis aufgebaut

Der Beschwerdeführer hat an verschiedenen Deutschkursen teilgenommen, ein Deutschzertifikat hat er nicht vorgelegt. Der Beschwerdeführer ist 2017 in Österreich in eine Schule gegangen. Er hat in Österreich noch nicht gearbeitet und sich nicht sozial betätigt. Er geht ins Fitnessstudio. Er würde gerne arbeiten, hat aber vom der Caritas und vom AMS die Auskunft erhalten, dass er das mit der „Weißen Karte“ nicht darf. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Derzeit herrscht weltweit die als COVID-19 bezeichnete Pandemie. COVID-19 wird durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursacht. Im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers wurden bisher 155.287 Fälle von mit diesem Coronavirus infizierten Personen nachgewiesen, wobei bisher 7.212 diesbezügliche Todesfälle bestätigt (https://coronavirus.jhu.edu/region/afghanistan, abgerufen am 05.10.2021).

COVID-19

Letzte Änderung: 16.09.2021

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Frauen und Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden (IOM 18.3.2021). Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt (UNOCHA 3.6.2021; vgl. AnA 29.4.2021). Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (UNOCHA 3.6.2021).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021). Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (IOM AUT 25.5.2021).

(Quelle: LIB Version 4, 11.06.2021, Kapitel 3: COVID-19, letzte Änderung 10.06.2021)

Politische Lage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

Letzte Änderung: 16.09.2021

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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